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Ausgabe:

1958

Spalte:

439-440

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Misch, Georg

Titel/Untertitel:

Studien zur Geschichte der Autobiographie 1958

Rezensent:

Lehmann, Paul Louis

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439

Theologische Literatlirzeitung 1958 Nr. 6

440

KIRCHENGESCHICHTE: MITTELALTER

Misch, Georg: Studien zur Geschichte der Autobiographie. I: Othloh
von St. Emmeran. II. Die Meditationen Guigos von Chastel, Prior
der Grande Chartreuse. 88 S. DM8.—. III: Das Bild d. Erzbischofs
Adalbert in der hamburgischen Kirchengeschichte des Domscholasters
Adam von Bremen. 78 S. DM 7.50. IV: Die Darstellung der eigenen
Persönlichkeit in den Schriften des Abtes Suger von St. Denis. 68 S.
DM 6.50. Göttingen: Vandenhoedc & Ruprecht 1954/57. gr. 8°.
= Nachrichten d. Akademie d. Wiss. in Göttingen. I. Philolog.-Hist.
Kl. 1954, 5; 1956, 7; 1957, 4.

Biographien und Autobiographien üben eine besondere Anziehungskraft
aus, weil sie den einzelnen Menschen in seinem Wesen
, Werden und Wirken zu erfassen, in seine Zeit und Umgebung
hineinzustellen versuchen, gehören aber auch zu den schwersten
Aufgaben sowohl für den wissenschaftlichen Historiker wie
für den Schriftsteller und Künstler, der ein breiteres Publikum
zu fesseln versucht.

Für die Entwicklung der Autobiographie haben wir seit
längerem ein vorzügliches, mit dem Altertum beginnendes, aber
auch ins abendländische Mittelalter fortgesetztes Werk von
Georg Misch. Es ist sehr erfreulidi, daß der Verfasser seine grundlegenden
Bücher nun durch Untersuchungen erweitert und vertieft
, die dem Selbstbiographischen im Mittelalter gelten. Noch
eindringlicher und doch lockerer, für den Leser leichter geschrieben
, liefern die Studien außerordentlich wichtige Beiträge zum
Verständnis der mittelalterlichen Menschen, bei denen man immer
versucht ist, sie mit modernen Maßstäben zu messen, die
aber unserer Zeit, unseren Lebensverhältnissen in sehr vielem
fernstehen. Meisterhaft ist es, wie M. den Mönch Othloh von
St. Emmeram zu begreifen und begreiflich zu machen versteht.
Es ist das keine Kleinigkeit; denn es handelt sich nicht so sehr
darum, seinen auch von ihm geschilderten äußeren Lebenslauf
durch die verschiedenen süd- und mitteldeutschen Klöster zu verfolgen
, sondern seine religiöse Seelengeschichte wenigstens in
einigen wichtigen Zügen zu skizzieren. Die Wechselfälle, die Versuchungen
, die inneren Kämpfe sind es, die ihn immer wieder im
Wachen, in Träumen und Visionen beschäftigen, wobei er reizvoll
auf Jugenderlebnisse zurückgreift, den kindlich naiven
Gottesglauben den Anfechtungen gegenüberstellt, gleichwohl
seiner eigenen Tätigkeit, seiner Erfolge nicht ohne schriftstellerisches
Selbstbewußsein gedenkt, seine aus der Zeit verständliche
maßgebende Beteiligung an den Dionysiusfälschungen etwas
in den Hintergrund drängt.

Fraglich ist nur, ob man den Karthäuser G u i g o, den M.
folgen läßt, zu den Autobiographen rechnen kann. Seine Meditationen
haben gewiß autobiographische Züge, sie enthalten
Selbstanklagen und aus der christlichen Religionsübung und dem
Neuplatonismus gewonnene Erkenntnisse und Bekenntnisse,
Zeugnisse der Arbeit des Mönchs an sich selbst um die Verwirklichung
der Nachfolge Christi. M. ist sich des Unterschieds
von anderen Autobiographien durchaus bewußt. Drum nennt er
Guigos Tagebuch-Meditationen „biographisch nicht in dem
Sinne in ihrem zeitlichen Verlauf (wir hören von G. nichts dieser
Art, auch nichts über den Gang seiner Bekehrung), sondern
eher im antiken Sinn des Bios als der Art und Weise des Lebens,
in der sich der Charakter des Menschen offenbart, nur daß es
sich hier rein um die Lebensform des inneren Menschen handelt"
(S. 203).

Die 3. von Mischs Studien: „Das Bild des Erzbischofs
A d a 1 b e r t in der Hamburgischen Kirchengeschichte des Domscholasters
Adam von Bremen" überrascht insofern, als es um
eine Heterobiographie, nicht um eine Autobiographie handelt,
überrascht freilich auch in gutem Sinne, da sie trotz der feinfühligen
Beurteilung durch Albert Hauck, der ich gern gefolgt
bin, noch tiefer in die Probleme der mittelalterlichen Persönlichkeitsschilderung
einzudringen versteht. M. hat sich da eine
Abschweifung vom eigentlichen Thema erlaubt; denn die Darstellung
bei Adam kann in der Tat als Maßstab für die Würdigung
biographischer, nicht autobiographischer Produkte dieses
Zeitalters dienen. Ich erkenne den Wert der Behandlung, die M.

dem Werk des Scholasters hat zuteil werden lassen, voll an,
meine jedoch, daß man die Untersuchung der biographischen
Kunst des ungemein fesselnden Geschichtsschreibers in kürzerer
Form hätte bieten sollen. So wie es M. tut, entfernt er 6ich m.
E. zu sehr von dem im Titel festgelegten Thema der Autobiographie
. Auch ein anderer Weg wäre möglich gewesen: nämlich
der, den ganzen Studien ein Kapitel vorauszuschicken oder anzuschließen
, das die Unterschiede zwischen Biographie und
Autobiographie grundsätzlich und an Beispielen zu zeigen sich
bemühte. Dabei würde Adams Bild von Erzbischof Adalbert auch
zu seinem Recht gekommen sein, ebenso wie etwa die Vita Hen-
rici IV., die das Schicksal des Saliers aus seiner Jugend und seinem
Charakter erklärt und damit in Abstand steht von Einhards
Leben Karls des Großen, von Wipos Gesta Chuonradi u. a.. Wir
würden die Ausführlichkeit der eindrucksvollen und in manchem
neuen Erörterung über die Charakteristik de6 hamburgisch-
bremischen Erzbischofs unbeanstandet gelassen haben, wenn
Adams Werk auf Autobiographien des Mittelalters wesentlichen
Einfluß gehabt hätte, was nach meiner Erinnerung nicht der Fall
gewesen ist.

Der Göttinger Gelehrte geht dann zur Diskussion der Darstellung
der eigenen Persönlichkeit in den Schriften des Abtes
Suger von Saint-Denis über, ohne eine Verbindung mit dem
vorhergehenden Stück herzustellen, es sei denn durch den einleitenden
Satz „Eine bodenständige, nicht lediglich durch literarische
Tradition bestimmte Entwicklung der Autobiographie
ging während des Mittelalters in der kirchlichen Ortsgeschichte
vor sich". Auch bei Suger handelt es sich nicht um eine förmliche
Autobiographie, sondern um persönliche Berichte, Urkunden
, Rechenschaftsberichte mit Selbstzeugnissen eines Mannes
der Tat, der im politischen und kirchlichen Leben Frankreichs
weit über seine Abtei hinaus eine große Rolle spielte, mit Selbstzeugnissen
zuerst über 6eine Wahl zum Abt, über die feierliche
Einweihung der Abteikirche und 6eine Gesamtverwaltung im
Laufe von mehr als 20 Jahren, über eine Tätigkeit, die kunstgeschichtlich
sehr ertragreich gewesen ist und bei deren Betrachtung
er zwischen Eitelkeit und Demut, zwischen Selbstbewußtsein
und Einfügung in den Dienst für die Kirche schwankt.

Im einzelnen halte ich nicht alles für richtig. Z. B. ist es
durchaus nicht zu verwundern (zu S. 148, 149, 156), daß Suger
über Joh. Scotus und Dionysius Areop. Bescheid wußte. Gerade
seit dem Beginn des 12. Jahrhunderts hat man 6ich in Frankreich
viel mit den Werken beschäftigt, so daß Suger, auch ohne tieferes
Verständnis für den Neuplatonismus, relativ leicht Zugang
zu jenen Werken hatte. Der „ketzerische Geruch" der Areopagi-
tica etc. störte damals nur wenige.

Indessen möchte ich mich nicht in Einzelheiten verlieren,
vielmehr liegt es mir daran, die gelehrte Öffentlichkeit mit Nachdruck
auf die Untersuchungen Mischs hinzuweisen und die Hoffnung
auszusprechen, daß er 6eine Studien fortsetzen möge. Wenn
man zuweilen anderer Ansicht ist als er, gründliche Belehrung
und reiche Anregung gibt er jedenfalls.

München Paul Lehmann

Caspar, Erich: Das Papsttum unter fränkischer Herrschaft. Darmstadt
: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1956. 183 S. 8°. Lw.
DM 12.80.

Als Erich Caspar am 22. Januar 1935 mit 55 Jahren starb,
hatte er eret zwei Bände 6einer kritisch-gründlichen „Geschichte
des Papsttums" vollendet (erschienen 1930/33), die von den Anfängen
nicht, wie der Titel verhieß, „bis zur Höhe der Weltherrschaft
", sondern nur bis zur Mitte des 8. Jahrhunderts reichten.
Für den nächsten Band fanden sich Vorarbeiten in seinem Nachlaß
. Daraus hat sein letzter Assistent Ulrich Gmelin 1935 in der
Zeitschrift für Kirchengeschichte (Bd. 54, S. 132—264) „einige
Abschnitte vorgelegt, denen der Verfasser jedoch nicht mehr die
letzte Formung geben konnte". Gleichwohl haben sie die weitere
Forschung vielfach befruchtet und sind zweifellos noch immer
beachtenswert, wenn auch auf diesem Felde inzwischen sehr intensiv
weitergearbeitet wurde. Die neueste Auseinandersetzung
von Josef Deer (Die Vorrechte des Kaisers in Rom 772—800;
Schweizer Beiträge zur Allgem. Gesch. 15, 1957) mit Percy Ernst