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Ausgabe:

1958

Spalte:

385-386

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hessen, Johannes

Titel/Untertitel:

Thomas von Aquin und wir 1958

Rezensent:

Pannenberg, Wolfhart

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385

Theologische Literatuirzeitung 1958 Nr. 5

386

deutschsprachigen Werken nicht erreicht wird. Der Sache entsprechend
konzentriert sich die Darstellung auf den Vorgang der
Überwindung und Erfüllung des vorsokratisch-sophistischen Denkens
durch Piaton und Aristoteles. Die erste, entscheidende Leistung
des griechischen Geistes wird in der Setzung einer Distanz
zwischen dem Denken und seinem Objekt gesehen, die eine theoretische
Feststellung allgemeiner Gesetzlichkeiten ermöglicht,
wobei aber die griechische Philosophie und Wissenschaft im
Grunde stets als ein Ausdenken eigentlich religiöser Urmotive
ins Weltliche zu verstehen ist. Bei der Beschreibung des hellenistischen
Denkens wird auf Entsprechungen und zugleich auf eine
Inkommensurabilität zwischen dem „von oben" kommenden
Christentum und den philosophisch-religiösen Anstrengungen
des Heidentums Wert gelegt. Mit Recht wird der überragende
Höhepunkt des antiken Denkens in der platonischen Philosophie
gesehen. Wenn es freilich heißt, Piaton weise schon über das
griechische Denken hinaus, so kann das nur in dem Sinn der absoluten
Erfüllung dessen, was im Griechentum angelegt war,
anerkannt werden. Mit Recht wird auch das ontologische Anliegen
Piatons als im Grunde theologisch gekennzeichnet. Bei der Überbewertung
der mythischen Aussagen Piatons macht sich jedoch
bemerkbar, daß der Verf. die jeweilige literarische Form des
Denkens (die bei Piaton überall religiös-dichterisch und zugleich
überall exoterisch-vorläufig ist) nicht genügend berücksichtigt.
Die letztliche Unzulänglichkeit des antiken Philosophierens sollen
die immer wieder zwischendurch gegebenen Hinweise auf das
Neue des christlichen Denkens erweisen: Die Griechen wußten
noch nichts von der Erschaffung der Welt aus dem Nichts, von
der Personalität Gottes, von der Individualität und Willensfreiheit
des Menschen. In ethischer Hinsicht sieht der Verf. im Ideal
des griechischen Weisen letztlich eine Überheblichkeit des Menschen
, wenn auch etwa die docta ignorantia des Sokrates oder
das gehorsam leidende Vertrauen des Stoikers auf die göttliche
Weltordnung an der Schwelle zu dem Vertrauen des Christen
auf die Gnade Gottes stehen. Besonders wichtig ist das (vom
Verf. hauptsächlich im Zusammenhang mit den Aporien Zenons
und der Potenzlehre des Aristoteles behandelte) Umdenken des
griechischen Unendlichkeitsbegriffs durch das christliche Denken:
Die Griechen fassen das Unendliche quantitativ und verbinden
damit die Vorstellung des Unvollkommenen, Unerkennbaren,
Nichtseienden; das Christentum faßt es qualitativ als Inbegriff
des vollkommenen, allmächtigen Seins.

Tübingen Konrad Gaiser

Hessen, Johannes, Prof. DDr.: Thomas von Aquin und wir. München
: Reinhardt 1955. 145 S. 8°. Kart. DM 5.50; Lw. DM 7.50.

Das vorliegende Buch des bekannten Kölner Philosophen
ist eine erweiterte und überarbeitete Neuausgabe seiner im
Jahre 1926 erschienenen Schrift „Die Weltanschauung des Thomas
von Aquin", die damals als Kampfansage an den Thomismus
wirkte. Kritische Auseinandersetzung, in der sich Hessen
gegen namhafte Thomisten wie Ehrle und Manser mit einer
Reihe unabhängiger Forscher wie A. Ehrhardt, C. Baeumker,
A. Mitterer, J. Santeler, M. Wittmann verbunden weiß, bildet
den Hauptzweck auch der Neufassung der Schrift.

Dem kritischen Hauptteil ist eine knappe historische Orientierung
über Leben und Werk des Thomas, sowie ein Überblick
über sein System vorangestellt. Dabei bemüht sich Hessen weniger
darum, den Leser zum Verständnis der verborgenen Intentionen
im Denken des Aquinaten zu führen; er läßt nicht, wie
es etwa E. Gilson 60 einzigartig versteht, den erregenden Atem
geschichtlichen Lebens in den abstrakten Formeln spürbar werden
, sondern er hält sich an den systematischen Zusammenhang
der Formeln selbst, in denen das Denken des ,doctor communis'
seine endgültige Gestalt gefunden und durch die es auf die Jahrhunderte
gewirkt hat. Diese Darstellung aber zeichnet sich durch
überlegene Stoffbeherrschung, sowie durch eine meisterhafte
Rationalität und Schlichtheit der Darbietung aus, dazu durch
einen auf so engem Raum erstaunlichen Inhaltsreichtum. Es gibt
Wenige Arbeiten über Thomas, die sich in dieser Hinsicht mit
Hessens Buch vergleichen lassen. Ausgehend von den erkenntnistheoretischen
und ontologischen Grundlagen zeichnet Hessen

mit wenigen, kräftigen Strichen den „Aufbau der Weltanschauung
" des Thomas nach, sein Gottesbild, seine Gedanken über
Entstehung und Struktur der Welt, seine Anthropologie, Ethik
und Gesellschaftslehre, endlich die „theologische Krönung" des
Systems in den Ausführungen über Trinität, Gnade, Christus
und Kirche.

Die kritische Auseinandersetzung erfolgt ganz vom Boden
neuzeitlicher, insbesondere durch Kant bestimmter Anschauungen
. Hessen sieht die scholastische Philosophie im allgemeinen
durch eine gegen das Wesen der Philosophie verstoßende Abhängigkeit
von der Theologie, durch einen bloß rezeptiven,
autoritätsgebundenen und schulmäßigen Geist bestimmt (82 ff.)
und erneuert damit ein lange verbreitetes, aber in dieser Form
doch wohl einseitiges Bild der Scholastik. Das neuzeitliche Denken
wird demgegenüber mit heute überraschender Selbstverständlichkeit
als eindeutige „Überwindung" des „starren Gehäuses
' der Scholastik durch die „Selbstbejahung des menschlichen
Geistes" herausgestellt. Letztere empfängt ihre Rechtfertigung
m H.s Augen offenbar von daher, daß die Geschichte „ihrem
innersten Kern nach Geschichte des menschlichen Geistes" ist
(87). In der Frage nach der Stellung des Thomas innerhalb der
Scholastik übernimmt H. ohne weiteres die thomistische Auffassung
, bei Thomas sei die „vollkommenste Ausprägung" der
scholastischen Philosophie erreicht (92). Ist das wirklich so
selbstverständlich angesichts der geschichtlichen Vielfalt und
inneren Fülle außerthomistischen Denkens, der gerade die moderne
Scholastikforschung ihre besondere Aufmerksamkeit gewidmet
hat?

Die Einwände H.s gegen Grundzüge des thomistischen Systems
selbst sind weithin scharf und durchschlagend. In seiner
Argumentation läßt H. häufig andere, besonders gegen den Tho-
mismus kritisch eingestellte katholische Autoren zu Wort kommen
, entsprechend der in erster Linie einer innerkatholischen
Auseinandersetzung dienenden Aufgabe des Buches. Die Kritik
setzt bei der Transzendentalienlehre des Thomas ein. Die Verquickung
von Denken und Sein, sowie die von Sein und Wert
werden als Ausdruck einer noch verhältnismäßig undifferenzierten
Stufe menschlichen Denkens beurteilt (93 ff.). Die Behauptung
, das Axiom „omne ens est verum" besagt, daß „das Seiende
wesensnotwendig für den menschlichen Verstand durchsichtig
" i6t (94 f.), bedarf allerdings der Näherbestimmung, daß der
Verstand von sich aus gleichwohl zur Erkenntnis ohnmächtig
sein kann; und dem Axiom „omne ens est unum" wird man
nach der Untersuchung von L. Oeing-Hanhoff (vgl. ThLZ 1954,
505 f.) kaum mehr nachsagen dürfen, es besitze „infolge seines
formalen Charakters geringere Bedeutung" (94). Auch daß dem
Thomas „die Wahrheit niemals zum Problem geworden" ist (92),
erscheint angesichts der ausführlichen Quaestionen De veritate
als hart. Doch sonst wird man H.s Kritik der thomistischen
Transzendentalienlehre als gewichtig ansehen müssen. Das Wesen
der Religion sieht H. bei Thomas intellektualistisch verkannt
. Die thomistische Synthese zwischen Christentum und
Aristotelismus wird, besonders im Blick auf den naturalistischen
Grundzug des aristotelischen Denkens (115 ff.), als unhaltbar
dargetan. Aber die Fundamentalbegriffe der aristotelisch - thomistischen
Metaphysik, besonders die Lehre von Stoff und Form,
sind auch für 6ich mit unlösbaren Schwierigkeiten belastet. Das
kommt für H. besonders am Individuationsproblem zum Ausdruck
(123 f.). Dieser Thomaskritik folgt eine entsprechende
Kritik der Positionendes Neuthomismus (132 ff.). Die Philosophie
schlechthin kann da6 System des Thomas für H. nicht sein.
Von der geistigen Haltung des Thomas aber, seiner universalen
Weite, der Klarheit und Gegenwartsnähe seines Denkens und
von seinem Systemwillen bleibt immer zu lernen.

Die Kritik, die H. am Thomismus übt, will nicht nur neue
Gesichtspunkte geben, sondern nimmt die Hauptargumente, die
gegen diese Philosophie sonst erhoben werden, in eigener Sicht
auf. So ist ein kritisches Gesamtbild entstanden, an dem keine
Auseinandersetzung mit den Grundlagen des Thomismus vorbeigehen
kann.

Heidelberg W. Pannenberg