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Ausgabe:

1958 Nr. 1

Spalte:

11-18

Autor/Hrsg.:

Heiler, Friedrich

Titel/Untertitel:

Der letzte Vorkämpfer des katholichen Modernismus 1958

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11 Theologische Literaturzeitung 1958 Nr. 1 12

scheidet, die auch verkündet haben, das Ende stehe unmittelbar
bevor. Aber solche elementaren Fragen werden oft völlig übersehen
. Das Neue an Jesu Naherwartung ist eben gerade dies,
daß sie auf dem Glauben daran beruht, daß in der Gegenwart
mit ihm (der Sünden vergibt!) das Reich angebrochen und deshalb
nahe gekommen ist.

Wenn Gr. S. 14, Anm. 5 meiner These, die neutestamentliche Naherwartung
sei dadurch hervorgerufen worden, daß man an die Erfüllung
in Jesus glaubte, die Frage entgegenhält: „wer oder was hat sie
(die Naherwartung) denn bei Johannes dem Täufer hervorgebracht?
Audi der Glaube an die Erfüllung in Jesus?", so kann ich darauf nur
antworten: das ist ja eben das Neue an der Naherwartung Jesu und
des Neuen Testaments, daß sie im Unterschied zu allen bisherigen Naherwartungen
— auch derjenigen Johannes des Täufers! — auf den Glauben
an den erfüllten Anbruch, also auf jene „Spannung" gegründet ist.

Wenn aber nicht die NaherwaTtung an sich das wichtige ist,
sondern ihre Begründung, dann kommt gerade den Logien
über das Wachen und das Nichtwissen der Stunde, die Gr. erst
der Gemeinde als Antwort auf die Parusieverzögerung zuschreibt
(als ob Jesus nicht selbst Kleinglauben und Ungeduld
habe bekämpfen müssen!), eine besondere Bedeutung im Munde
Jesu zu; dann zeigt es sich, daß der Zusammenhang mit dem
Glauben an den geschehenen Anbruch des Reiches viel wichtiger
ist, und daß deshalb das Nichteintreffen der Nähe keine so grundlegende
Krise hervorrufen konnte, daß die ganze Theologie der
Synoptiker und der Apostelgeschichte durch diese negative Tatsache
bestimmt wäre!

Das führt uns zu dem zweiten oben erwähnten Punkt. Gewiß
hat Jesus nur mit einer ganz kurzen Zwischenzeit des .Anbruchs
" gerechnet, auf die das Reich alsbald folgen würde. Immerhin
ist mit Kümmel, der hier durch Grässers Ausführungen keineswegs
widerlegt ist, doch anzunehmen, daß er eine Ausdehnung
dieser Zwischenzeit über seinen Tod hinaus erwartet hat. Gewiß
findet aber eine Entwicklung der Eschatologie nach Jesu Tod
statt, und Gr. wirft mir zu Unrecht vor, dies „zu wenig zu beachten
" (S. 15). Allerdings sehe ich aus allen angeführten Gründen
hier eine Entwicklung, die an jene heilsgeschichtlichen Ansätze
bei Je6us, vor allem an sein Selbstbewußtsein, anknüpft,
und nicht wie Gr. einen Bruch. Diese Entwicklung ist durch
zweierlei gekennzeichnet: einerseits tritt der Tod Jesu als
abgeschlossenes Ereignis an die Stelle, die im Denken
Jesu der Überzeugung zukommt, daß mit seiner Wirksamkeit
das Reich angebrochen ist. Das abgeschlossene irdische Werk
Jesu kann fester heilsgeschichtlich verankert werden als das noch
im Vollzug befindliche zu seinen Lebzeiten. Anderseits stellt man
jetzt fest, daß die Zwischenzeit länger dauert als vorgesehen
und durch das Wirken des heiligen Geistes und die Mission der
Kirche bestimmt ist, so daß sie stärker als bisher in den heilsgeschichtlichen
Aufriß eingebaut erscheint. Die Wertung der
ausgedehnten Zeit der Kirche ist aber, wenn wir die uns zur Verfügung
stehenden Quellen befragen und von jeder Konstruktion
absehen, ebenso wenig wie die Wertung des Todes Jesu und
die nachösterliche Entwicklung der Christologie Folge einer mit
der Parusieverzögerung zusammenhängenden Krise, sondern zunächst
einmal Folge bestimmter konkreter Ereignisse. Daß
die heilsgeschichtliche Sicht primär überhaupt nicht als „Lösung
eines Problems" entstanden ist, sondern auf Grund von Geschehnissen
, das wird in der heutigen Forschung nicht genügend
in Rechnung gestellt. Aus diesem Grunde muß dann die Heilsgeschichte
zur „Verlegenheitslösung" werden. Hinter der heilsgeschichtlichen
Einbeziehung der Gegenwart im Urchristentum

steht jedenfalls zunächst einmal nicht die große Enttäuschung,
sondern das Geschehen, welcher Art es auch sei, in dem die Ur-
gemeinde den Beweis der Auferstehung Jesu gesehen hat, d. h.
den Sieg über den Tod und damit die Einleitung des neuen Äons,
stehen ferner auch die Erfahrungen in der Gemeinde, die als
Wirkungen des heiligen Geistes angesehen wurden. So wie hinter
der Naherwartung Jesu nicht Schwärmerei, sondern der Jubel
steht: die Blinden 6ehen . . ., so hinter der heilsgeschichtlichen
Einbeziehung der Gegenwart nicht verkrampftes Suchen der
Gemeinde nach der Lösung eines „Problems", sondern die Oster-
freude: Christus ist auferstanden!

Wir sollten uns überhaupt in der Exegese Rechenschaft darüber
ablegen, was das für das ganze Denken der ersten Christen bedeutet,
wenn sie verkündeten: einer ist leiblich auferstanden, der Erstgeborene
von den Toten! Der Tod ist schon entmächtigt! Wie Grässer
S. 65 schreiben kann, es 6ei „gar nicht so sicher, daß die älteste Gemeinde
das klare Bewußtsein hatte, der neue Äon sei schon angebrochen
", ist schwer zu begreifen.

Auch der heilige Geist ist bei den ersten Christen nicht
nur Eschatologieersatz für die Theologen, sondern in ihm wird
die Endzeit tatsächlich erlebt. Hier erfüllten sich die 6 c h o n
im Judentum für die Endzeit erwarteten Manifestationen.
Die Einsicht, daß die Zwischenzeit vor dem Ende mehr als eine
„dunkle Pause" ist, und daß das Ende weiter auf sich warten
läßt, war nicht nur eine negative theoretische Feststellung, sondern
Erlebnis, und zwar nicht nur Erlebnis im Sinne einer Enttäuschung
, sondern der Freude. Gewiß zogen die ersten Christen
daraus progressiv die theologischen Konsequenzen, die neuere
Untersuchungen wie die Conzelmanns und wenigstens streckenweise
auch die Grässers herausarbeiten. Aber dieses theologische
Bemühen der ersten Christen, an dem doch wohl auch Paulus
teilhat, wird einseitig beurteilt, wenn es nur als Ausfluß einer
Krise gelten soll. Freilich ist es da und dort tatsächlich zur Krise
gekommen im Zusammenhang mit der Feststellung, daß das
Ende ausbleibt. Wir besitzen auch im Neuen Testament einen
wichtigen Text und sonstige Spuren, die es beweisen. Dies ist
aber gerade dann der Fall, wenn die Eschatologie Jesu in der
Weise mißverstanden wird, als sei in ihr die Naherwartung
nichts anderes als die der Juden. Nur dann kommt es dazu, daß
die Frage nach dem Termin wichtiger wird als die Freude darüber
, daß die Blinden sehen, daß Sünden vergeben werden, daß
in Jesu Tod und Auferstehung die Entscheidung schon gefallen
ist. Dann werden apokalyptische Zwischenstufen eingefügt, wie
Conzelmann und Grässer sie aufzeigen. Dies gibt es im Urchristentum
gewiß auch, aber es ist nicht der Schlüssel zum
Verständnis der Synoptiker und der Apostelgeschichte.

Wir verdanken Conzelmann wertvolle Erkenntnisse, und
Grässers Arbeit mag sie in einigen Punkten tatsächlich ergänzen
können. Aber sie würden an Bedeutung gewinnen, wenn sie von
jenen fragwürdigen Voraussetzungen über die Eschatologie Jesu
und auch des Paulus gelöst würden, und wenn anderseits das
Prinzip der „konsequenten Eschatologie" von Grund auf, und
nicht nur hinsichtlich einiger ihrer Hypothesen revidiert würde.

Auch über das Johannesevangelium, das ja nach der herrschenden
Auffassung eine Entmythologisierung des vermeintlichen Kerns der
Eschatologie in einem der Heilsgeschichte entgegengesetzten Sinne vorgenommen
habe, wäre vieles zu sagen. Vor allem müßte untersucht
werden, ob ihm wirklich jegliche heilsgeschichtliche Lösung so fern liegt,
wie man behauptet, wobei freilich die besondere johanneische Fragestellung
zu beachten wäre. Doch dies kann nicht im Rahmen dieses Aufsatzes
geschehen.

Der letzte Vorkämpfer des katholischen Modernismus

Von Friedrich Heiler, Marburg/Lahn
Zu Beginn dieses Jahrhunderts wurde die römische Kirche, niederzukämpfen und ihre Wortführer teils zur Unterwerfung,
vor allem in den romanischen Ländern, durch eine theologische teils zur Isolierung zu bringen. Der „Vater des katholischen Mo-
Erneuerungsbewegung in große Unruhe versetzt. Pius X. gab ihr dernismus", der Bibelkritiker Alfred Loisy, zog sich nach seiner
den Ketzernamen „Modernismus" und griff unter dem Einfluß Exkommunikation von der Bewegung zurück und widmete sich
6einer vatikanischen Ratgeber zu immer schrofferen Maßnahmen, als Professor am College de France ganz seiner religionswissen-
zuerst im Syllabus Lamentabili (1907), dann in der Enzyklika schaftlichen Forschung. Der zweite Herold dieser Bewegung, der
Pascendi (1907) und schließlich im Antimodernisteneid (1910). Exjesuit George Tyrrell, starb bereits 1910 als Exkommunizier-
Es gelang ihm und seinen Nachfolgern, diese Bewegung äußerlich ter in der Vereinsamung. Der Freund dieser beiden, der öster-