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Ausgabe:

1958 Nr. 4

Spalte:

274-279

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Tüchle, Hermann

Titel/Untertitel:

Kirchengeschichte Schwabens 1958

Rezensent:

Hermelink, Heinrich

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Theologische Literaturzeitung 1958 Nr. 4

274

Darstellung der Epoche vor der bisher größten Strukturveränderung
in der Geschichte des Baltenlandes und seiner Kirchen.

Bedeutsam ist der Versuch von H. Girgensohn (10—16),
der einleitend die besondere Struktur des Landes, als der Voraussetzung
seiner Kirchengeschichte, in theologischer Schau aufzeigt
. Von Anfang an die kirchliche und politische Geschichte
Livlands bestimmend, ist die Frage nach den Motiven der
Schwertmission als Problem wichtig. Sie wird von H. D ö r r i e s
(17—25) gestellt, kann aber bei den spärlichen Quellen, die methodisch
-kritisch ausführlicher zu behandeln gewesen wären,
und auch durch einen nicht sehr einleuchtenden Vergleich mit
den um 4 Jahrhunderte zurückliegenden Sachsenkriegen nicht befriedigend
gelöst werden. Hier bleibt eine Forschungsaufgabe
bestehen. Näher kommt der Lösung dieser Frage A. Bauer
(26—34) mit der Untersuchung über den Livland-Kreuzzug.
Mission — nicht stets als Gewalt, sondern zugleich auch, um zu
überzeugen — und Kreuzzug (wobei der Defensivcharakter betont
wird) sind hierfür charakteristisch, doch wird das schonungslose
Vorgehen nicht verschwiegen. Der wohl kenntnisreichste,
in der Erfassung des Themas und der Darstellungsart gelungenste
Beitrag dieses Werkes ist die feinsinnige Studie von R. Witt-
ram (3 5—56) über die Reformation in Livland. Bemerkenswert
erscheint u. a., daß die Franziskanerpredigt in lettischer Sprache
schon vor der Reformation eingesetzt habe (45). Riga hat die
evangelische Lehre früher als andere deutsche Ostseestädte aufgenommen
, jedoch sind weder Zunftaufstände noch Bauernunruhen
damit verknüpft gewesen. „Es hat in Livland in der Reformationszeit
kein Martyrium gegeben ... Kennzeichnend war
jahrzehntelang ein Nebeneinander beider Bekenntnisse, bis das
Evangelische sich ganz durchgesetzt hatte" (55). Als größte Aufgabe
dieser Epoche sieht W. die Verkündigung des Evangeliums
an die Letten und Esten in der seitdem mehrsprachigen Landeskirche
. R. Ruhtenberg (56—76) ergänzt den vorangegangenen
Beitrag durch Zusammenstellung der Beziehungen Luthers
und der anderen Reformatoren zu Livland, und E. T r e u 1 i e b
(76—86) gibt einen knappen Abriß der Reformationsgeschichte im
Herzogtum Kurland. Von nachhaltiger Bedeutung ist die Schwedenzeit
in den baltischen Landen, über die A. Westren-
Doll (87—109) handelt, besonders auf dem Gebiet des Schriftwesens
geworden. Einen sehr wichtigen Beitrag zur Verfassungsund
Sozialgeschichte der baltischen lutherischen Kirche während
der russischen Zeit 1710-1914 gibt W. Lenz (110—129). Über
dieses Thema würde man gern mehr erfahren. I. Neander
(130—149) zeigt auf, wie stark die Aufklärung die Ostseeprovinzen
mit dem gesamten deutschen und europäischen Geistesleben
verbunden hat. Pietismus und Herrnhuter in Livland werden mit
erstaunlich reichen Einzelangaben von O. Webermann (149
bis 166) und M. Nerling (166-177) behandelt. Das Verhältnis
der lutherischen Landeskirche zur russischen Staatskirche im
19. Jahrhundert untersucht recht ausführlich G. Kroeger
(177-206). Der Bericht von H. Seesemann (206—219) über
die theologische Fakultät der Universität Dorpat 1802—1918
wird nach ihrer inneren Problematik vertieft durch H. Witt-
ram (220—243), der Theologie und Kirche in den Ostseeprovinzen
in der Auseinandersetzung mit der kritischen Theologie
und den modernen Strömungen Deutschlands sieht. Ein besonderes
Interesse kann der Beitrag des früheren estnischen Propstes
von Ost-Harrien, Jakob Aunver (243—266) beanspruchen,
der die Rechtsordnung der estnischen Volkskirdie und die theologische
Fakultät in Dorpat 1917—1944 schildert. Die Hineinnahme
dieses Beitrages zeugt von dem gelungenen Bemühen um
eine allseitige und unvoreingenommene Klärung der gemeinsam
erlebten Kirchengeschichte. Die entsprechenden Verhältnisse in
Livland beschreibt H. Wenschkewitz (266—298): die
christlichen Kirchen in Lettland zwischen den beiden Weltkriegen
, während der abschließende Beitrag von W. Neander
(298—304) über die Geschichte der baltischen Kirche auch heute
noch erschüttern kann. 33 Seiten wissenschaftlicher Apparat und
ein Personenregister dienen der Nachprüfbarkeit und der weiteren
Forschung. Gerade diese anzuregen, ist gewiß ein Hauptanliegen
des vorliegenden Sammelbandes gewesen, der neben
manchem Fragmentarischen viele gültige Aussagen bringt und
in seiner Art als ein erster bedeutungsvoller Versuch eines kirchengeschichtlichen
Abrisses für diesen engumgrenzten, regionalen
Bereich zu werten ist. Als solcher wird dieses Werk, das von
dem ernsten Bemühen des Herausgebers und der Mitarbeiter
überall Kunde gibt, nicht nur in Deutschland, sondern auch in
den skandinavischen Ländern und nicht zuletzt in der UdSSR auf
Interesse stoßen.

Bonn W. Hubatsch

Tüchle, Hermann: Kirchengeschichte Schwabens. Die Kirche Gottes
im Lebensraum des schwäbisch-alamannischen Stammes. 2 Bde.
Stuttgart: Schwabenvcrlag 1950/54. 415 S., 12 Taf. u. 504 S. 8° =
Peter u. Paul Bücherei. Hlw. DM 8.50 u. 11.50.

Hermann T ü c h 1 e, seit 1952 Kirchenhistoriker an der
katholisch-theologischen Fakultät der Universität München, ein
aus Eßlingen am Neckar (1905) gebürtiger Schwabe, veröffentlichte
eine bis jetzt in zwei Bänden vorliegende „Kirchengeschichte
Schwabens" (I, 1950; II, 1954 erschienen). Ergab ihr
den Untertitel „Die Kirche Christi im Lebensraum des schwäbisch-
alamannischen Stammes". Inwieweit und in welchem Sinne diese
Namensgebung für die geschichtliche Darstellung der Reformation
, Orthodoxie, Pietismus usw. in „Württemberg", welche in
den folgenden Bänden zu erwarten ist, angewandt werden kann,
wird sich später zu erweisen haben. Hier dient jedenfalls der
umfassendere Titel zur Unterscheidung gegenüber einer rein
».Württembergischen Kirchengeschichte", wie sie für den ersten
von den Römern bis zu den Staufern gehenden Band in erster
Auflage 1893 von G. Bossert, in zweiter Bearbeitung 1936 von
R- Weller herausgebracht worden ist. Es besteht kein Zweifel
und ist sowohl von katholischer wie auch von evangelischer
Seite allgemein anerkannt, daß beide Werke, sowohl das von
Bossert, wie das von Weller ganz hervorragende Leistungen
waren. Gleiches muß nun aber auch von der Darstellung Tüchles
gerühmt werden.

Der erste Band umfaßt bei Tüchle wie bei Weller den
kirchengeschichtlichen Stoff von der römischen Zeit (d. h. von
den Anfängen unserer Zeitrechnung) bis zum Ende der Staufer.

Weller gibt sehr viel Quellenstoff, z. T. in fremdsprachlichen Anmerkungen
. Er erzählt auch gerne und ausführlich die meist aus späterer
Zeit überlieferten Legenden und sucht deren geschichtlichen Kern
zu ermitteln. Tüchle hat in seiner Vorstellung die schwäbisch-alamannischen
Grenzen weiter gesteckt und berücksichtigt dementsprechend
ausführlicher so wichtige Stoffe wie die Geschichte der großen
Klöster, z. B. der Reichenau und die vorbildliche Entwicklung von
St. Gallen. Das erste große Kloster auf württembergischem Gebiet, das
von Weller ausführlich und liebevoll behandelt wird, ist Ellwangen,
das lange nach der Gallenzclle und der Augia dives begründet wurde.

Recht anschaulich wird von Tüchle die mit der Zeit enger werdende
Verbindung der Alamannen mit dem Christentum (unter fränkischem
Druck!) zur Darstellung gebracht. In drei Stufen geht sie vor sich: die
ersten Berührungen stehen im Zusammenhang mit der Landnahme
»von oben her" über die hochadeligen Führer der Hundertschaften.
Zeugnis davon geben namentlich die archäologischen Funde
aus den alamanniechen Gräberfeldern; das sind die kultisch gedeuteten
•-Totenlöffel", ferner die zahlreichen „Goldblattkreuze", bis zur
Prunkspange aus dem Alamannenfriedhof von Wittislingen bei Dillingen
an der Donau, deren Herkunft aus der Familie der Grafen von Dillingen
(aus welcher der heilige Ulrich von Augsburg stammte) vermutet wird.
Auch bei den Frauenleichen in Derendingen, deren Antlitz mit einem
Schleier bedeckt war, in den das Kreuz als Heilszeichen eingenäht
wurde, kann dreist geschlossen werden: „Die Derendinger waren also
Christen" (S. 43). Die von Tüchle hier zusammengestellten und christlich
gedeuteten Gräberfunde sind inzwischen weiter bearbeitet und ergänzt
worden, zuletzt in dem Aufsatz von Peter Paulsen über „Die
Anfänge des Christentums bei den Alamannen" (Zeitschrift für württembergische
Landcsgesdiichte 15, 1956, S. 1—24).

Auf zweiter Stufe wird dann der eigentliche Übertritt wenigstens
der adeligen Führer des Stammes besprochen, mit dem der auf Ende des
sechsten Jahrhunderts anzusetzende Pactus Alamannorum in Verbindung
steht. Als germanisches Element bei der Christianisierung des
alamannischen Stammes entwickelte sich das Eigenkirchen-
Wesen als die primär reditlidie Form der kirchlichen Organisation,
die (von Tüchle an verschiedenen Stellen ausführlich behandelt) sich
einschmiegt in die altkirchlich überlieferte Episkopalverfassung. Mit
ihren mannigfachen Abwandlungen erhält sie sich durch das ganze
Mittelalter hindurch und gestaltet nicht nur den Investiturstreit, sondern
bis zu einem gewissen Grade auch die säkularen Erscheinungen der
nicht mönchischen Formen der Frömmigkeit.