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Ausgabe:

1958

Spalte:

272

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Tolédano, André D.

Titel/Untertitel:

Histoire de l'Angleterre chrétienne 1958

Rezensent:

Delius, Walter

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Seite 1

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271

Theologische Literatuirzeitung 1958 Nr. 4

272

„Einheit in christlicher Bruderschaft" wird, soweit ich sehen
kann, alles erfaßt, was man als ökumenisch im heutigen, freilich
verengten Sinne zu verstehen sich angewöhnt hat (vgl. auch
S. 735—740 des englischen Textes). Alle Kirchen und alle freien
Vereinigungen wie auch die Jüngeren Kirchen („Genau genommen
sind in den Ländern junger Kirchen mehr separatistische
Bewegungen entstanden als in denen der alten Kirchen", S. 48 5,
im engl. Text S. 354) sind ins Blickfeld gezogen. So ist das Buch
zu einem Arsenal von Beispielen und Vorschlägen für vertikale
und horizontale Einigungen bzw. Wiedervereinigungen geworden
. Schon darum kann an diesem theologiegeschichtlichen Querschnitt
keiner vorbeikommen, auch der Bedenkliche und der
Gegner nicht. Die Mitarbeiter haben als Freunde und Förderer
der ökum. Bewegung geschrieben. Das hat sie aber nicht einseitig
oder gar blind gemacht für bedenkliche Begleiterscheinungen und
offene Fragen. Erfreulicherweise wird mehrfach und deutlich die
Annahme als ein Mißverständnis der Tatsachen bezeichnet, als
ob es zu Spaltungen erst seit der Reformation gekommen sei und
als habe die Kirche die Jahrhunderte vorher „in seliger Einheit"
zugebracht (S. 13, 32 u. a. St.).

Die Verfasser wissen auch, daß „theologische Debatten nur
6elten das Beste in der menschlichen Natur zum Vorschein bringen
" (St. Neill) und daß es, um einen Ausdruck von Flacius
aufzunehmen, auch an Angriffen mit der Einigkeit nicht gefehlt
hat. Wie in unserer Zeit, so kam es auch früher als Begleiterscheinung
von Einigungsgesprächen bei beteiligten Kirchen zu einem
neuen Bewußtwerden ihrer konfessionellen Eigenart oder zu
einem Durchsetzenwollen der eigenen denominationellen Linie
und zu einem Aufsaugen der anderen Art. In der Laiensprache
„eines humorvollen Yankee" hieß das vor etwa 100 Jahren:
„Die Presbyterianer molken kongregationalistische Kühe einzig,
um presbyterianische Butter und Käse zu machen" (S. 320). Was
nicht-theologische Faktoren sind und wieweit sie sich auszuwirken
vermögen, wird oft aufgewiesen. Auch die „kirchliche Diplomatie
" bleibt nicht ungesichtet und nicht unerwähnt.

Fraglos ist vieles zu kurz behandelt worden. Man möchte
manches auch gesagt haben oder ausführlicher und deutlicher
herausgehoben sehen. So werden die zwei Seiten (393—395)
kaum ausreichen, um der unter und von Friedrich Wilhelm III.
in Preußen eingeführten Union gerecht zu werden und um weniger
Eingeweihten zu einer verständnisvollen Einsicht in dieses
ungemein wichtige und folgenreiche Phänomen zu vermitteln —
die Mechelner Gespräche dagegen finden eine etwas längere Darstellung
(S. 409—412)1 Es wird abzuwarten sein, wie Vertreter
dieser Union auf folgende Sätze reagieren werden:

„Die Union konnte überhaupt nur fortbestehen, weil der Druck
von Seiten des Staates sie für mehr als ein Jahrhundert am Leben erhielt
und weil es eine starke Mittelpartei gab, die ehrlich an die Union
glaubte und der Meinung war, man könnte sie auch ohne solche Kompromisse
, die Untreue gegenüber der Wahrheit bedeutet hätten, festhalten
. Aber ,die Preußische Union, die ohne eine allgemeine Ordnung,
ohne gemeinsamen Gottesdienst oder Bekenntnis und ohne ein ausreichendes
Bewußtsein, religiös einig zu sein, eine Kirche schuf, kann
man offensichtlich nur mit Vorbehalt als Union bezeichnen' (J. T. Mc-
Neill, Unitive Protestantism, S. 306). Schleiermacher hatte recht: die
Union wurde nur so weit wirksam, als sie aus der Frömmigkeit der
Gemeinden erwuchs und von ihr gestützt wurde" (S. 395. cf. auch
S. 447, Z. 4).

In diesem Zusammenhange sei zu S. 394 auf zwei Kleinigkeiten
hingewiesen: Der Übersetzung „Einige Altlutheraner"
steht auf S. 287 des engl. Originaltextes „ ... other Old Luthe-
rans" gegenüber, und diese Bezeichnung ist in eine Zeit vorausgenommen
, in der sie noch nicht in Gebrauch gekommen war.

Ein Index und die ausführliche Bibliographie sind erst im
2. Band zu erwarten.

Dieses Werk wird für viele Jahre das Standard- und Nachschlagewerk
bleiben. Denn es dürfte kaum anzunehmen sein, daß
eine so große und viele Kräfte in Anspruch nehmende Arbeit
bald wieder geleistet werden kann. Um so wichtiger wird es sein,
daß die einzelnen Perioden in noch gründlicheren und quellenmäßig
noch besser belegten Einzeldarstellungen bearbeitet werden
, wie es etwa in der im Text m. W. nicht genannten Arbeit
Elerts über „Abendmahl und Kirchengemeinschaft in der alten

Kirche, hauptsächlich des Ostens" (Berlin 1954) vorbildlich geschehen
ist.

Halle/S. Arno Lehmann

Tolcdano, Andre D.: Histoire de I'Angleterre Chretienne. Paris:
Laffont [1955]. 335 S. 8°. ffr. 850.—.

Der Verfasser hat bisher zum Teil unter Pseudonym politische
Schriften veröffentlicht. Die Geschichte des englischen
Christentums hat er verfaßt aus Dankbarkeit gegenüber Joseph
Estlin Carpenter (1844—1927), Professor für vergleichende Religionswissenschaft
am unitarischen Manchester College in
Oxford, weil dieser, wie es Toledano in der Widmung bekennt,
ihn zum Christen gemacht hat. In seinem Buch stellt er die Entwicklung
des Christentums in England vom 2. Jahrhundert bis
zum Jahre 1950 dar. Auch Schottland und Irland sind in der
Darstellung berücksichtigt. Er sieht die anglikanische Kirche
und die verschiedenen englischen Freikirchen, welche sich aus
der katholischen Kirche heraus entwickelt haben, im Geist
„brüderlichen Verstehens wie in der Liebe der Una Sancta".
In diesem Sinn wünscht er auch, daß der Leser sein Buch versteht
. Dieser Hinweis ist wichtig zum Verständnis des Buches,
das damit eine bestimmte Tendenz aufweist. Es ist aber keinesfalls
antikatholisch zu werten, im Gegenteil sieht der Verfasser
die geschichtliche und ökumenische Verbundenheit zwischen
anglikanischer und katholischer Kirche.

Das Buch hat 7 Teile, welche wieder in einzelne Kapitel unterteilt
sind: 1, Die Eroberung durch das Kreuz (2 —9. Jhdt.), 2. Die triumphierende
Kirche (11—15. Jhdt.). 3. Das Schisma (16. Jhdt.), 4. Die
Religionskriege zwischen den Protestanten (17. Jhdt.), 5. Der langsame
Aufstieg zur religiösen Freiheit (1689—1829), 6. Die religiöse Freiheit
für die Katholiken und die Nonkonformisten. Die christliche und die
katholische Wiedergeburt (1800—1900), 7. Fünfzig Jahre Geschichte
(1900—19 50), Anhang: Verschiedenes Material über die Lage der katholischen
Kirche in England und Schottland. Ein Register und die Angaben
über die vom Verfasser benutzte Literatur fehlen.

Das Buch ist keine Darstellung eines Wissenschaftlers, sondern
die eines christlichen Journalisten. Die geschichtlichen Tatsachen
wählt er zum Teil gemäß der Tendenz seines Buches aus,
wobei der historische Tatbestand hier und da zu kurz kommt.
Wichtig für den Verfasser ist, daß die Ehescheidung Heinrichs
VIII. keinen vollständigen Bruch mit der römisch-katholischen
Kirche herbeigeführt hat, sondern die anglikanische
Kirche eine anglo-katholische Kirche ohne den Papst ist. Die
Fülle der Namen und Einzelheiten machen die Lektüre für den
nicht historisch Gebildeten schwierig. Weniger wäre mehr gewesen
und hätte die Darstellung gestrafft.

Berlin Walter Dellus

Wittram, Reinhard: Baltische Kirchengeschichte. Beiträge zur Geschichte
der Missionierung und der Reformation, der evangelisch-
lutherischen Landeskirchen und des Volkskirchentums in den baltischen
Landen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1956. 348 S.
gr. 8°. Lw. DM 19.80.

Auf Reinhard Wittrams Baltische Geschichte (1954) folgt
2 Jahre später eine entsprechende Kirchengeschichte, ein weit
schwierigeres Unternehmen, da wichtige Quellen und die direkten
persönlichen Beziehungen zum Lande fehlen. Der Gegenstand
verdiente eine mehrbändige, gelehrte Geschichte der Kirchen in
Livland; eine solche jedoch ist gänzlich von den Quellen abhängig
, die ganz ungleichmäßig überliefert sind. Die daraus folgende
Erkenntnis ist, daß Einzelstudien und Abhandlungen eine solche
Monographie ersetzen müssen. Dafür sind Themen und Bearbeiter
freilich sorgfältig gewählt. Die Darstellungsschwierigkeiten
sind auch jetzt noch nicht zu verkennen: Es gibt kaum Vorarbeiten
, erst recht nicht für die Neuzeit, und vor allem mangelt es
an kenntnisreichen Bearbeitern, von denen die fehlenden Einzelstudien
in absehbarer Zeit erwartet werden könnten. So sind
ungleiche Beiträge zusammengebracht, noch erschwert durch die
selbstgestellte Vorbedingung, die Arbeit „aus allen in den baltischen
Ländern beheimateten Nationen" tragen zu lassen. Das
6ind höchste Forderungen in schwierigster Lage. Aber es besteht
bei dieser Materie keine Aussicht auf Besserung, im Gegenteil:
Es ist hohe Zeit geworden zu einem letzten Versuch der Selbst-