Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1958 Nr. 3

Spalte:

217-219

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Zander, Lev A.

Titel/Untertitel:

Vom Geheimnis des Guten 1958

Rezensent:

Lilienfeld, Fairy

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

217

Theologische Literaturzeitung 1958 Nr. 3

218

LITERATURGESCHICHTE

Zander, L. A.: Vom Geheimnis des Guten. Eine Dostojewskij-Inter-
pretation. Aus dem Russischen übersetzt von Roman Rößler. Stuttgart
: Vorwerk [1956]. 172 S. 8°. Lw. DM 9.80.

L. A. Zander, Professor für Philosophie und Kenntnis der
nicht-orthodoxen Konfessionen am Orthodoxen Theologischen
Institut in Paris, aus der ökumenischen Arbeit durch seine
,,theologische Dolmetschertätigkeit" in Vorträgen und Schriften1
seit langem bestens bekannt als ein unermüdlicher Werber für
das Verständnis der Eigenart orthodoxen Christentums bei nicht-
orthodoxen Christen, legt hier seine neue umfassende Dosto-
jewskij-Interpretation vor, nachdem er schon früher einzelne
Züge bei Dostojewski) philosophisch interpretiert hatte".

Vor uns liegt also das Buch eines Philosophen, der aus der
Schule der russischen Religionsphilosophie stammt. Seine Methode
kennzeichnet Verf. in einer Anmerkung (S. 15):

„Vielfache Überprüfungen der Texte haben uns ... zu der Überzeugung
geführt, daß nur eine detaillierte Untersuchung des Textes uns
die tiefe Bedeutung und den philosophischen Gehalt der Werke Dosto-
jewskijs erschließt. Verfahren wir auf andere Weise, so werden wir auf
allgemeine Thesen verwiesen, die an sich richtig sein mögen, aber nicht
an den Wesenskern seines philosophischen Gedankens rühren. Die vorliegende
Untersuchung stellt den Versuch der Analyse einiger Themen
und Textstellen dar, die von der philosophischen Kritik kaum bemerkt
wurden, obwohl sie für die Weltanschauung Dostojewskijs von grundlegender
Bedeutung sind."

Mit dieser Methode stellt sich Verf. in bewußten Gegensatz
zu den bekannten unzähligen Versuchen, die philosophische
Weltanschauung Dostojewskijs durch Summierung und mechanisches
Gegeneinander-Ausspielen aller in D.s Werk geäußerten
Allgemeinansichten zu erheben. Er versucht hingegen durch die
eingehende Textanalyse einiger wichtiger Kernstellen aus D »
Romanen zu D.s Grundansichten von Gott, der Welt und dem
Menschen vorzustoßen, die dort zwar nicht immer direkt ausgesprochen
, aber um so eindringlicher in das Gesamtgefüge des
Werks verwebt sind. Dabei stellt Zander — wie schon der Titel
des Buches anzeigt'1 — die Frage nach der Ethik D.s.

Wie bestimmt und begründet dieser das Gute und somit
das ethische Handeln? Im ersten Kapitel „Das Gute — Geschenk
Gottes" erhebt Verf. zwar aus der allgemeinen Problematik des
..Raskolnikow" und der „Brüder Karamasow" den Syllogismus:
„Wenn Gott nicht existiert, ist alles erlaubt; aber alles ist nicht
erlaubt; infolgedessen existiert Gott" (vgl. S. 29 f.). In einer
eingehenden Analyse vor allem der beiden unter so verschiedenartigen
Umständen erfolgenden und doch dasselbe aussagenden
„Bekehrungen" Raskolnikows* und Aljoscha Karamasows'' zeigt
er dann aber, daß trotz aller äußeren Ähnlichkeit mit dem Kantischen
Postulat der Existenz Gottes auf Grund des Moralgesetzes
bei Dostojewskij etwas völlig Entgegengesetztes vorliegt. Bei
ihm ist Gott nicht aus der Ethik eines autonomen Sittengesetzes
logisch zu begründen, der Schritt von der erfahrenen Existenz
des Moralgesetzes als Norm meines Handelns zum Glauben an
die Existenz des personalen Gottes ist nicht auf Grund rationaler
Einsicht zu vollziehen, sondern umgekehrt: Gott offenbart
sich als existent aus der Transzendenz heraus, jenseits aller Bedingungen
der Psychologie oder des rein diskursiven Denkens,
und erweist deshalb auch das Gute als Seiendes, auf das sich das
Handeln richtet. Dostojewskij erscheint also als Gegner einer
formalen Ethik und als Vertreter einer materialen Wertethik.

Doch will Verf. D.s Ethik nicht subjektiv oder objektiv idealistisch
mißverstanden wissen. Im Laufe der Interpretation in den

') Vgl. sein ökumenisches Hauptwerk: Vision and Action, London
1952.

:) L. A. Zander, Schwermütiges Paradies. Die Idee des irdischen
Paradieses im Werk von Dostojewskij (russ.). In „Put'", H. 14, Paris
1928. Drs., La psychologie mystique dans l'oeuvre de Dostoievsky. In:
L'Age Nouveau, Paris, Märzheft 1952.

3) Der Titel der frz. Ausgabe desselben Werkes zeigt noch deutlicher
den philosophischen Charakter desselben: Dostoievsky. Le Probleme
du Bien, Paris 1946, Correa.

*) Rodion Raskolnikoff, dtsch. Ausg. des Piper Verlages München,
o. I. S. 769.

5) Die Brüder Karamasoff, Piper Ausgabe, wieder erschienen 1949.

beiden folgenden Kapiteln: „Die ,gute Erde'" (S. 115 ff.) und
„Die .Unauffälligen' " (S. 78 ff.) geht der Verf. der Seins- und
Erscheinungsweise des Guten im Kosmos und im Menschen bei
D. nach und findet im Dichter einen Zeugen der Lehre von der
„Sophia" Gottes im Sinne S. Bulgakows6. Im Lichte der „So-
phiologie" wird die gesamte Schöpfung durchscheinend für die
„Weisheit" Gottes, die gleichzeitig die Wahrheit, das Gute und
das vollendet Schöne beinhaltet. D.s scheinbarer Pantheismus7
wird von daher als P a n e n t h e i s m u s, ja — da die Schöpfung
seit dem Fall des Menschen der Erlösung bedarf und nach
ihr seufzt (Rom. 8, 22) — als Panenchristismus gedeutet
(S. 75; S. 137ff.). Daß die Sophia als „feuchte Mutter Erde",
als „Mütterchen Rußland", aber auch als Prinzip des Ewig-Weiblichen
, Bräutlichen und Mütterlichen, als Weltseele und als
Grund der menschlichen Seele und — in hypostatischer Form —
in der Mutter Gottes erfahrbar wird, ohne mit all diesen Erscheinungsformen
identisch zu sein, daß sie weiter die eben aufgezählten
Größen untereinander in Zusammenhang bringt, wird
der Leser, der die Sophialehre S. Bugakows nicht kennt, nur begreifen
, wenn er sich vorhält, daß hier die platonisch-neuplatonische
Idee des Guten dahinter steht, die nie gestaltloses Ab-
straktum, Prinzip, Gesetz ist, sondern als eldög immer auch
Gestalt ist. Ihre biblische Begründung hat die Sophia bei Bulga-
kow-Zander in Gottes Gut-befinden der Schöpfung nach Gen. 1.
Durch dieses „Siehe, es war sehr gut!" ist die Sophia dem Kosmos
und dem Menschen eingeprägt (S. 5 5). Im Lichte dieser
sophianischen Interpretation will der Verf. — gegen Guardini8,
den er im übrigen für einen sehr kompetenten und wichtigen
Dostojewskij-Interpreten hält — z. B. die „Hinkende" in den
„Dämonen" als eminent christliche Gestalt erweisen.

Doch die Sophia Gottes ist in der Schöpfung nicht immer
sichtbar. Hat der Fall sie auch nicht in ihrem Wesen stören
können, so ist sie doch in ihrer Funktion zutiefst gestört.
Sie ist die Braut, die der Erlösung durch den Bräutigam — Christus
— harrt. Dem Bräutigam-Braut-Mythos bei Dostojewskij
geht der Verf. im vierten und letzten Kapitel seines Buches nach
(..Der Bräutigam", S. 120 ff.). Mit Guardini sieht Verf. im Fürsten
Myschkin im „Idioten" D.s Versuch, ein Christus-Symbol
zu geben, aber gegen Guardini weist er das Scheitern dieses Unterfangens
nach. Die in Myschkin versuchte „Ethik des verwirklichten
Bildes" (S. 156, im Sinne einer psychologischen Abbildung
des Urbildes — das „Ideal der schönen Seele") erweist sich
als ungenügend. In Aljolscha Karamasow, der nächsten Christus-
haltigen Gestalt Dostojewskijs, die nicht „Bild", sondern „Idee"
ist (S. 160), wird sie darum durch eine „Ethik der Tat" ersetzt.
Damit diese aber keine autonome Ethik der verwirklichten
Norm, sondern eine auf das ontisch vorhandene Gute gerichtete
Ethik sei, muß sie zu einer „Ethik der Heiligkeit" werden, in der
die Tat zur „geistlichen Überwindertat" wird". Dostojewskij hat
nur bis an diese Ethik herangeführt, er hat sie angedeutet, aber
nicht explizit entworfen. Hier muß nach Verf.'s Meinung über
ihn hinaus gegangen werden.

Rez. kann vorliegendes Buch nur dringend zur Lektüre empfehlen
. Einmal ist es wirklich eine Interpretation Dostojewskijs,
die Wesentliches und Neues gibt. Verf. leistet hier einen wichtigen
Beitrag zu dem sich allmählich formierenden neuen Dosto-
jewskij-Bild „ohne Illusionen"10. Natürlich bleibt die Frage, ob
Dostojewskij mit den Augen seiner großen religionsphilosophischen
Schüler gesehen, vollständig richtig interpretiert wird, d. h.

') L. A. Zander, Die Weisheit Gottes im russischen Glauben und
Denken. In: Kerygma und Dogma, 2. Jg. 1956. S. 29—56.

7) Vgl. dazu die bekannten Stellen „Brüder Karamasoff", Piper
Ausg., S. 188 f. „Die Dämonen", Piper 1947, S. 189 f.

8) Romano Guardini, Religiöse Gestalten in Dostojewskijs Werk,
Hegner-Bücherei bei Josef Kösel in München 1947; früher erschienen
und bei Zander zitiert unter dem Titel: Der Mensch und der Glaube,
Versuche über die religiöse Existenz in Dostojewskijs großen Romanen,
Leipzig 1932.

8) So geben wir das russ. Wort „podvig" wieder; vgl. unten den
letzten Absatz dieser Besprechung.

10) „Dostojewskij — ohne Illusionen" nannte sich ein Vortrag von
K. Onasch auf der Theologischen Woche 1956 zu Halle. Dieser Vortrag
erscheint demnächst in stark erweiterter und überarbeiteter Form
im Druck.