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Ausgabe:

1958

Spalte:

186-187

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Deissler, Alfons

Titel/Untertitel:

Psalm 119 (118) und seine Theologie 1958

Rezensent:

Koch, Klaus

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Theologische LiteratuTzeitung 1958 Nr. 3

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Der Hauptteil der Untersuchung (S. 36 ff.) beschäftigt sich
sodann mit dem HL. Zwei Thesen stehen vorauf: a) nicht Volkslieder
, sondern Kunstlieder liegen vor; b) die Lieder sind nicht
lose aneinandergefügt, sondern stellen eine „Einheit" mit einem
ursprünglich zweckentsprechenden Aufbau dar. Dieser Aufbau
sei bei der späteren Übernahme in den atl. Kanon (erst dann?.')
gründlich in Stücke geschlagen worden. Schm. sieht es als möglich
und geboten an, diese Stücke neu zusammenzusetzen, und
zwar so, daß das HL als Textbuch für die Feier der heiligen Hochzeit
gelten kann. Drei Szenen werden zusammengestellt: I.: 8,13;
6,10.5a; 1,5 f.; 6,1; 6,2; 6, 11 f.; 3,1—2.4 und dazwischen

5, 7; 5, 2 — 6. 8 und dazwischen 3, 3; 5, 9; 5, 10—16; 1, 7; 1, 8;
8, 1 f.; IL: 4,8; 8,5a; 8, 5b—7; 7,7-10; 2, 10b-14; 2,17;
4,9—11; 2,16; 6,4. 5b—9; 6,3; 4,1 — 5,7 (eine belassene längere
Gruppe); 7,11; HL: 3,6-11; 7,1-6; 1,9-14; 2,1-3;
4, 12-5, 1; 2, 8 f.; 7, 12-14; 2, 6f.; 1, 2-4; 3, 5; 2, 4f.; 8, 3 f.;
1,16 f. Diese Texte werden in Regieanweisung auf Männerchöre
, Frauenchöre und Soli von Priester und Priesterin aufgeteilt
. Nicht verwendbar bleiben, weil profaner Herkunft, 2,15
und 8,8—10. 11—12. Diese Rekonstruktion sei „der einzige
Weg zum Verständnis des rätselreichen Büchleins" (S. 47). Eine
Einzelauslegung sucht das ausgeführter darzutun. Man kann vermerken
, daß die Methode der Rekonstruktion in ähnlicher Weise
bei Schm. für die Ordnung israelitischer Rechtssätze begegnete
(Z. Sav.-Stiftg. f. Rechtsgesch. 1950, 365 ff.). Den Beschluß bildet
abgesehen von einem Abschnitt „Zur Frage des Metrums im
HL" (S. 116-118), den ich nach ThR 1953, 97 ff. gewiß nicht als
sachgerecht anerkennen kann, ein solcher über „Das HL als
Passarolle" (S. 120—122) und einer über „Ort und Zeit der Entstehung
" (S. 123—125): irgendwo an einem der palästinischen
Heiligtümer, irgendwann dem Urtyp nach in vorisraelitischer
Zeit, aber dann in altisraelitischer Zeit redigiert und assimiliert
und schließlich „kurz vor der Kanonisierung" tiefgehend umgestaltet
.

Was ist hierzu zu sagen? Voran nach wie vor das, was wiederholt
der kultmythologischen These vorgehalten worden ist:
daß es schwer vorstellbar ist, es sei in nachdeuteronomischer, ja
nachesranischer Zeit liturgisches Gut aus einem vom Jahwismus
geflissentlich abgelehnten Kult übernommen, unkenntlich gemacht
und konserviert worden. Gewiß, die vom „Beschreibungslied
" ausgehende und auf seine Rolle bei syrischen Bauernhochzeiten
verweisende These vom HL als Hochzeitsdichtung muß als
abgetan gelten, wie es denn auch nicht schwer ist, dieser These
ihre Ungereimtheiten nachzurufen (S. 49, 52 u. ö.). Aber müssen
es denn immer gleich die Pauschalthesen sein (Drama, Mimos,
Liturgie u. dg].)? Schm. gewinnt seine Liturgiethese durch ein
Auseinandernehmen und andersartiges Zusammensetzen des bestehenden
Textgefüges. Dabei bleiben bisweilen Stücke vereint,
deren gattungsmäßige Zusammengehörigkeit fraglich erscheinen
kann, und andere, die formal eine Einheit bilden, werden aus
szenarischen Gründen zerlegt. Das erste betrifft 1, 9—14 oder die
Zugehörigkeit von 2, 14 zu 2, 10—13 sowie die von 6, 8 f. zu

6, 4—7, das andere etwa 1, 7 und 1,8 u. ä. Aber beim neuen Zusammensetzen
bleiben auch unverwertbare Stücke übrig, und
wenn man kritischer zusehen würde, könnten es derer weit mehr
sein, als Schm. selbst anzunehmen sich gezwungen sieht. Es wollen
auch, wie mir scheint, durchaus nicht alle Stücke sich so miteinander
verzahnen, wie es behauptet wird. Ist, um ein Beispiel
zu bringen, 1, 5 f. wirklich das rechte Antwortstück nach 6, 10.
5a und 6, 1 die passende Folge zu 1, 5 f.? Nur die verwegene
und unberechtigte Konjektur in 1,6 mag das eventuell erträglich
machen, aber eigentlich nicht 6ie einmal. Von den lediglich
a"f die Kultthese hin vorgenommenen Konjekturen könnte man
noch einiges, was einem Bedenken macht, sagen. Etwa die Genus-
Änderung in 4, 8 oder den wechselseitigen Austausch von 3, 3
m't 5, 7, damit aus dem einen Stück ein „Gang in die Unterwelt
" und aus dem andern ein „Sehnsüchtiger Traum" wird. Aber
lassen wir das, was die Behandlung des Textes angeht.

Etwas Grundsätzliches, scheint mir, muß gesagt werden. Ist
nicht das, was Schm. unternommen hat, in gewissem Sinne eine
Frühgeburt? Was zuvor getan werden müßte, wäre eine gründliche
und umfassende Motiverklärung innerhalb der festgestellten
Gattungen. Sie findet sich in Schm.s Einzelerklärung auch,

und für manches, was er an Material bringt, wird man ihm gern
danken. Nur wird eben alles von vornherein durch die gefärbte
Kultbrille gesehen, und zufolge davon werden andere Farbtöne
gar nicht wahrgenommen (vgl. etwa was über die „Reue" der
Göttin zu 3, 1 ff. gesagt wird). Vielleicht hat A. Hermann in seinem
ungedruckten Manuskript, das er in seinem oben genannten
Aufsatz erwähnt, diese Motiverklärung weiter vorangetrieben
. Dann sollte die DMG auch dieses MS drucken. Und danach
sollten wir weiter sehen, und wahrscheinlich sehen die Dinge
dann doch ein klein wenig anders aus, als sie uns hier vorgetragen
worden sind.

Mainz F.Horst

D e i ß 1 e r, Alfons, Prof. Dr.theol.: Psalm 119 (118) und seine Theologie
. Ein Beitrag zur Erforschung der anthologischen Stilgattung im
Alten Testament. München: Zink 1955. XIX, 347 S. gr. 8° = Münchener
Theologische Studien, hrsg. v. F. X. Seppelt, I. Pascher,
K. Mörsdorf. I: Historische Abteilung. Bd. 11. Brosch. DM 25.—.

Ps. 119 wird in den Kommentaren meist nur obenhin behandelt
, seine scheinbar endlose Variation eines einzigen Grundthemas
kann das Interesse der Ausleger nicht wecken. Wie ergiebig
eine genauere Untersuchung aber sein kann, zeigt die Arbeit
D.s, die mit erschöpfender Ausführlichkeit Wortschatz,
sprachliche Wendungen und theologische Vorstellungen des
Psalms mit der übrigen alttestamcntlichen Literatur vergleicht.
Dadurch kommt es zu einer neuen übcrlieferungsgeschichtlichen
Bestimmung dieser Dichtung. Zwar ist ihre Beziehung zu den
Klageliedern des Einzelnen, zu den übrigen akrostichischen Psalmen
und der Weisheitsliteratur seit langem bekannt, neu aber
ist, daß D. eine verblüffende Nähe des Psalms zum Deuterono-
mium aufweisen kann. Das „Bewahren" und „Lernen" der Gebote
, die Wendung zu ihnen „von ganzem Herzen", die Koppelung
von Gottesfurcht und Gebotserfüllung, die Aussagen, daß
das Gesetz „weise" macht und daß es von Gott „geboten" ist.,
alles das ist die Sprache des Dtn.s. „Gott lieben und anhangen"
forderten die Deuteronomiker; Ps. 119 geht folgerichtig den
Weg zu Ende und spricht davon, daß die Weisungen Gottes zu
lieb en sind und ihnen anzuhangen ist. „Diese .. . Texte des Dtn.
waren für unseren Verfasser gleichsam seine heimatliche geistige
Luft. Er lebte in ihnen, ja sie lebten in ihm . .. Sein Psalm ist
eine Artikulation dieser seiner vom Dtn. ausgelösten religiösen
Erfahrung" (S. 271). Noch ein zweites von den Ergebnissen der
vergleichenden Untersuchung ist wichtig: zur Begrifflichkeit der
nachexilischen Dichtung außerhalb der Weisheit, zum Chronisten
wie zur Priesterschrift und den nachexilischen Profeten finden
sich kaum Beziehungen.

Leider zieht D. aus diesem Befund nicht die m. E. einzig
mögliche Folgerung, daß der Ps. nämlich den deuteronomistischen
Kreisen der Exilszeit entstammen wird. Allein in dieser Zeit läßt
sich der überragende Einfluß des Dtn.s erklären, das ständige
Kreisen um die „Willensoffenbarung" Jahwes und die enge Beziehung
zu Jer., aber auch die Reserve gegenüber dem Opfer
gerade bei starker Abhängigkeit von kultischen Formen1. Mit
einer gewissen Ängstlichkeit bleibt D. demgegenüber bei einer
herkömmlicheren Ansetzung; er leitet den Ps. von einem Kreis
von Weisheitslehrern her, der gedanklich und zeitlich dem Buch
Jesus Sirach nahestehe. Der starke deuteronomische Einfluß soll
dem Verfasser über Neh. — mit dem er sonst kaum Berührung
hat! — und über die Weisheit übermittelt worden sein (S. 289),
eine wenig überzeugende Annahme! Zu dieser zeitlichen (und
formgeschichtlichen) Ansetzung des Psalms bewegt ihn vor allem
die von ihm hier gefundene „Stilgattung" der Anthologie. An
der Anthologie hänpt D.s besonderes Interesse, und zwar so sehr,
daß man bisweilen den Eindruck hat, der Inhalt würde demgegenüber
zweitrangig. Er versteht darunter eine schriftstellerische
Arbeitsweise, die einen Bestand an heiligen Büchern voraussetzt
und diese nun auszieht, Einzelstellen somit aneinanderreiht, die
beim Leser jeweils die Erinnerung an den Gesamtzusammenhang
wecken. Was auf solche Weise entsteht, dient als „Meditationsvorlage
" (S. 288). Von der Annahme solcher Gattungen her
wurde D. zu seiner eindringenden Arbeit an Ps. 119 geführt.

') Vgl. dazu z.B. E. Jannsen, Juda in der Exilszeit (1956) S. 104.