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Ausgabe:

1957

Spalte:

143

Kategorie:

Psychologie, Religionspsychologie

Autor/Hrsg.:

Scholl, Robert

Titel/Untertitel:

Das Gewissen des Kindes 1957

Rezensent:

Holtz, Gottfried

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Seite 1

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Scholl, Robert, Dr.: Das Gewissen des Kindes. Seine Entwicklung
und Formung in normalen und in unvollständigen Familien. Stuttgart
: Hippokrates-Verlag [1956]. 159 S. 8°. Kart. DM 8.20; Lw.
DM 10.80.

Wir lernen das Buch eines sehr erfahrenen Psychologen und
Sozialpädagogen kennen, der früher mit Untersuchungen zu psychologischen
Spezialfragen und zur Erziehungsfürsorge hervorgetreten
ist. Seit langen Jahren leitet er das Jugendamt der Stadt
Stuttgart. Die hier zu besprechende Schrift enthält mehr, als der
Titel erwarten läßt. An Hand von Beobachtungen bei den eigenen
und bei fremden Kindern werden erste Gewissensregungen vorgeführt
und aus dem beginnenden Bewußtwerden von Konfliktsituationen
erklärt, die in erster Linie das Verhältnis von Mutter
und Kind berühren. Man folgt hier wie im weiteren Verlauf den
lebensvollen Ausführungen mit starker Spannung. Das Kapitel
über Anlage und Umweltfaktoren bei der Entfaltung des Gewissens
läßt den Verfasser in vollem Kontakt mit der modernen
Psychologie und Charakterologie erscheinen. Sein tiefstes Anliegen
aber ist sozialethischer und sozialpädagogischer Natur. Unter
wachsender Steigerung unserer Anteilnahme sagt er uns aus
seiner reichen Erfahrung, wie hemmend und schädigend auf die
Gewissensbildung die Verkümmerung des Familienlebens und der
mütterlichen Fähigkeiten wirkt. Wir kennen aus neuerer Zeit
keine Warnung vor der die gesunden Maße überwuchernden
Heimerziehung wie vor der Idealisierung der unehelichen Mutterschaft
, die es an Verantwortungsiernst wie an Erfahrungsreichtum
mit unserer Schrift aufnehmen könnte. „Ich habe unter der großen
Zahl von Unehelichen . . . noch niemanden gefunden, der sich
darüber gefreut hätte, daß er unehelich geboren war. Die wenigen
Frauen, die in Verfolgung von Ideologien auf diesem Gebiet
bewußt zur Tat übergegangen sind,. . . würden in den Fällen, die
ich kenne, dies ein zweitesmal bestimmt nicht wieder tun" (132).
Was über die Bedeutung der Sonntagsfeier für die gesunde Entfaltung
der Kindesseele gesagt wird, ist prächtig. Auch die realistischen
Ausführungen zum Problem der Stiefeltern wie der
Ehescheidung lassen wünschen, das äußerlich so anspruchslose
Buch aus einem dem Theologen meist unbekannten Verlag möchte
keinem Erzieher und Seelsorger fehlen, eben weil Bücher dieser
Art selten sind, aber einem großen Bedürfnis entgegenkommen.

Rostock °- Holtz

Bohne, Gerhard, Prof. Dr.: Grundlagen der Erziehung. Die Pädagogik
in der Verantwortung vor Gott. 2. Halbbd.: Aufgabe und Weg
der Erziehung. Hamburg: Furche-Verlag [1953]. 296 S. 3°. Lw.
DM 12.80.

Im Jahre 1929 ließ Bohne im gleichen Verlage sein Buch:
„Das Wort Gottes und der Unterricht" erscheinen, das von mir in
der Deutschen Literaturzeitung Jhrg. 1930 Heft 5 kritisch besprochen
wurde. Wenn der gleiche Verfasser jetzt, 27 Jahre später,
ein neues zweibändiges Werk über die Erziehung vorlegt, so liegt
es nahe zu fragen, wie sich seine Gedanken entwickelt und was
für einen Einfluß die geschichtlichen Ereignisse des letzten Viertel-
jahrhunderts auf ihn gehabt haben. Das Buch von 1929 stand
unter dem Eindruck der Erschütterung, welche die herkömmliche
Religionspädagogik (Kabisch, Pfennigsdorf usw.) durch die dialektische
Theologie erfahren hatte. Wenn „Wirklichkeit Gottes
" — so sagte B. damals — „die ewige Krisis der Kultur" bedeutet
, dann steht der Religionslehrer in einer unüberwindbaren
Spannung zwischen seiner Aufgabe als Verkündiger des „Wortes
Gottes" und seiner Aufgabe als Pädagoge. „Denn wir können
nicht etwa das reine Wort oder das reine Evangelium predigen,
als sei es nun wirklich lebendiges Gotteswort. Und wenn wir es
könnten, dürften wir es nicht" (Wort Gottes und der Unterricht
S. 62). Dennoch sei „das letzte Ziel des Religionsunterrichts", die
menschlich-religiöse Entwicklung von Gott her in die Krisis zu
stellen, die eine ewige Krisis ist, dadurch, daß er (der Religionslehrer
) den jungen Menschen in die Entscheidung ruft (a. a. O.
185/86). Von dieser allgemeinen kulturkritischen Problematik
ist in dem neuen Buche wenig mehr zu spüren, es sei denn, daß
man in dem Untertitel: „Die Pädagogik in der Verantwortung

vor Gott" einen Nachklang finden will. Was B. jetzt vorlegt, ist
eine bis in die Einzelfragen durchgeführte evangelische Erziehungslehre
, die sich in sechs große Abschnitte gliedert: Autorität
und Verantwortung, das rechte Leben und die Aufgabe der Erziehung
, die erzieherische Begegnung, die Erziehung als Hilfe zum
Wachstum, die Erziehung als Hilfe zur Entscheidung, die Bewährung
in den drei großen Entscheidungen des Lebens (Ehe, Beruf,
Glaube).

Ich kann in dieser Besprechung nicht alle in diesen Abschnitten
behandelten Probleme durchdiskutieren, sondern möchte im
Sinne der oben angestellten Rückbesinnung auf das Buch von
1929 nur die Frage stellen, wie B. jetzt (im Jahre 53) die Spannung
zwischen Theologie und Pädagogik löst. Offenbar ganz im
Geiste des Pädagogen! In dem Abschnitt über „Hilfe zur Erlösung
" heißt es: „Es gibt heute einen Streit um die Frage, ob es
eine evangelische Erziehung gäbe. Das ist ein Streit um Begriffe.
Erziehung ist nichts anderes als menschliche Hilfe. Überall, wo es
menschliche Hilfe gibt, gibt es auch Erziehung. So wie Menschen
ben helfen. Also gibt es auch Erziehung zum Glauben . . . Wo die
den Glauben an Gott hindern können, können sie auch zum Glau-
Erziehung in diesem Sinne verstanden wird, ist sie zutiefst immer
auch Mithilfe zur Erlösung" (sie! a. a. O. 82). Der Begriff
der „Entscheidung" wird genauer definiert als „sachliche, sittliche
und religiöse Entscheidung", wobei die Entscheidung vor Gott
(mit der tatsächlich eine Entscheidung für Gott gemeint ist,
S. 97) als „die einzige wirkliche Grundentscheidung" gilt. „Wer
im Grunde zu Gott ja gesagt hat und sich vor ihm verantwortlich
weiß, erhält auch von ihm her das Urteil über jede Tat. Die Gültigkeit
dieses Urteils hat er bereits grundsätzlich anerkannt"
(S. 96). Aufgabe des Erziehers ist, dem Zögling in diesen Entscheidungen
einschließlich der „Grundentscheidung" Hilfe zu geben
, und zwar in der Form einer „existentiellen Einwirkung".
Dies geschieht dadurch, daß der heranwachsende Mensch in „einen
behüteten Raum" hineingenommen wird. Solche „behüteten Räume
" sind Familie, Schule, Kirche. Sie sind also der Ort, an dem
sich „Erziehung, die ernstlich mit der Wirklichkeit Gottes rechnet
", verwirklicht oder doch verwirklichen sollte. Dies geschieht
in der Form einer Hilfe zur rechten Entscheidung.

Man kann hiergegen theologische Einwendungen machen,
nicht nur im Sinne der dialektischen Theologie, sondern auch der
lutherischen Rechtfertigungslehre. Aber das will ich nicht tun.
Denn dies ist offensichtlich ein Programm. Auch ein Erziehungsprogramm
kann gute pädagogische Erfahrungen enthalten und
kluge Ratschläge vermitteln. Man spürt bei B. den alten Schulpraktiker
. Das macht sein Buch auf jeden Fall wertvoll. Die Hauptfrage
bleibt: Entspricht sein Erziehungsprogramm der erzieherischen
Wirklichkeit, in der wir heute stehen? Ist die heutige Familie
ein „behüteter Raum"? Können die heutigen Eltern, besonders
die arbeitenden jungen Mütter, ihren erzieherischen Aufgaben
so gerecht werden, wie die meisten gerne möchten? Ist die
heutige Leistungsschule ein „behüteter Raum", wenn (wie Bohne
sagt) „Angst immer ein Zeichen dafür ist, daß man den behüteten
Raum verlassen hat" (S. 15,7)? Man befrage darüber die Lehrer
, die Schüler und deren Eltern. Wieviel Lehrer gibt es, die gewillt
sind, ihren Schülern eine Hilfe bei der Grundentscheidung
vor Gott oder für Gott zu geben? Wie viele sind dazu von Gott
berufen? Lind wenn sie es tun, mit welchem Erfolg tun sie es?
Und die Kirche? Ist ihre Position nicht — menschlich gesehen —
so, daß sie allen Grund hat zu bekennen: „Die Güte des Herrn
ist, daß wir noch nicht gar aus sind; seine Barmherzigkeit hat
noch kein Ende"! Vergißt sie dies Bekenntnis im Bewußtsein äußerer
Sicherungen, dann hat sie bestimmt vor Gott keine Zukunft.
B. hat die Bedeutung der Pädagogik und des Pädagogen überschätzt
und ist insofern trotz aller Kritik am „Idealismus"
immer noch ein Vertreter der alten idealistischen Pädagogik. Er
sieht die erzieherischen Probleme von heute zu sehr unter dem
engen Gesichtspunkt der Schule bzw. der „verantwortlichen Einwirkung
von Erwachsenen auf heranwachsende Menschen" (14).
Er spricht nicht von den Wirkungen, die die politischen Ereignisse
des letzten Vierteljahrhunderts auf unser gesamtes Leben gehabt
haben, obwohl er doch wissen muß, was für einen Einfluß sie auch
heute auf die Schule und die anderen „behüteten Räume" der Erziehung
haben. Es wird z. B. nicht von den doch offenkundigen