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Ausgabe:

1957 Nr. 12

Spalte:

916-917

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lerle, Ernst

Titel/Untertitel:

Die Predigt im Neuen Testament 1957

Rezensent:

Schille, Gottfried

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Theologische Literaturzeitung 1957 Nr. 12

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setzt die Abfassung der Apg. auf die Zeit zwischen 80 und 8 5 an
(S. 72); die judenchristliche Gemeinde, gegen die der Verfasser den
Paulus verteidigt, vermutet T. nach S. G. F. Brandon in Alexandria
(S. 73; auch das dürfte — milde ausgdrückt — eine sehr gewagte Annahme
sein). Der autor ad Theophilum ist der Wortführer der Gemeinden
von Mazedonien, Achaja und Kleinasien.

Mit Kap. 4, „La methode de l'auteur" (S. 76—121) geht T. zu
seinem zweiten Thema über: der Verfasser hat als Historiker und Erbauungsschriftsteller
gearbeitet. Als Historiker: er benutzt Quellen,
zeigt Kritik an ihnen, indem er Dubletten vermeidet, bemüht sich um
topographische Genauigkeit (wenigstens in der zweiten Hälfte der
Apg.) und um eine Chronologie (T. baut Turners Behauptung, daß das
Geschichtsbild des Lukas in 6 Felder aufgeteilt ist, selbständig aus,
indem er die Formel fiev ovv als Teiler verwendet; S. 8 8 f.). Den Besuch
des Paulus in Jerusalem Apg. 11,30 und 12,25 identifiziert er
mit dem von Gal. 2, 1—10 (mit dieser recht unwahrscheinlichen These
steht T. ziemlich allein; wenn er die verbreitete Ansicht, daß die
Reiseberichte in Apg. 11 und 15 Dubletten sind, damit abtut, daß
Lukas Dubletten vermieden habe, so beachtet er nicht, daß Lukas sie
eben nicht als solche erkannt hat). Auch daß Lukas Verbindung mit
zeitgenössischen Erscheinungen und Personen herzustellen sucht, zeigt
ihn als Geschichtsschreiber. Weiter erweist er sich als Historiker durch
eine, wie T. urteilt, ziemlich oberflächliche Kenntnis zeitgenössischer
Institutionen (S. 105). Indem er die Monotonie der Erzählung durch
Einfügung von Reden (hier geht T. ein gutes Stück mit Dibelius zusammen
) auflockert, übernimmt er einen Zug aus der Geschichtsschreibung
, freilich in sehr persönlicher Abwandlung. Aber in Wirklichkeit
ist und bleibt er Evangelist (S. 113): er verwendet die hl. Sprache der
LXX, benutzt — wie schon Mk. — die beliebte Form des Reiseberichts,
übergeht, was seine Linien stören würde, erfindet aber nie Episoden
(aber ist das Gespräch des Festus mit Agrippa 2 5, 13—22 etwa keine
erfundene Episode?). Der theologische Gedanke der Erwählung der Heiden
und der Verwerfung Israels bestimmt den Aufbau des nach-
jerusalemischen Teils der Apg. Evangelist ist der Verfasser auch in
der Art, wie er seine Quellen behandelt: er übernimmt von Mk. soviel
wie möglich, aber er gibt seine Quelle nie so genau wieder, daß
man ihren Wortlaut mit Gewißheit feststellen kann (S. 121).

Damit sind wir schon bei der dritten und letzten Frage, die in
Kap. 5 und 6 abgehandelt wird: „Les sources du livre des Actes '
(Kap. 16—28: S. 122—153; Kap. 1—15: S. 154—214). Der Verfasser behauptet
Lk. 1,2 („uns"!), er und seine Leser seien Zeugen (oder doch
Zeitgenossen) der entscheidenden Ereignisse gewesen; naq-r]HoXovdr]x6xi
äva>&ev nämv in 1, 3 besage: er sei immer den Ereignissen gefolgt, die
sich vor seinen Augen abspielten, „seit seiner Jugend, seiner Bekehrung
oder seinem Eintritt in ein kirchliches Amt" (S. 127. Diese Interpretation
hat den Referenten keineswegs überzeugt). Er war aber nicht
Augenzeuge aller Ereignisse, die in Kap. 16—28 erzählt werden, sondern
hat den Apostel nur zu Beginn der mazedonischen Mission und
dann seit der letzten Fahrt nach Jerusalem begleitet. Die kurzen Notizen
, die er sich damals machte, habe Lukas 30 Jahre später mit anderem
Material erweitert (S. 149 ff. Aber wie konnte dieser Paulusbegleiter
dann die „volkstümliche Erzählung" vom Erdbeben in Phi-
lippi einschieben, von dem er doch wußte, daß es gar nicht stattgefunden
hatte?).

Auch in Kap. 13—16, 5 hat Lukas ein kurzes Reisetagebuch —
diesmal aus der Feder eines der Missionare — benutzt: 13, 4—6.
13—15. 43—52; 14, 1—7. 19—28; 15, 1—4. 13. 19. 21 f. 32—35.
36—41; 16, la (S. 162). In 15,19.21 finde sich die Jakobusrede der Vorlage
, in der Jakobus seinen „Verzicht auf die Aussendung judaistischer
Emissäre in die heidenchristlichen Gemeinden" ausspreche ((): S. 160 f.
Für 1,6—5,16 und 9,31 — 11,18 hält T. mit De Zwaan die These
Torrey's von Fehlübersetzungen aramäischer Texte für erwiesen (S. 165:
auch das dürfte eine überholte Position sein). Dagegen leugnet er eine
„antiochenische Quelle" für die Kap. 6 bis 15 (S. 167, A. 2). Die
Stephanusleute hätten die Christen mit dem Ehrennamen 'EßgaToi
bezeichnet im Gegensatz zu den rebellischen Juden; das habe Lukas
mißverstanden und dazu den Gegenbegriff 'EXlrjvimai eingeführt (!):
S. 190 f. Aber wir können hier nicht auf die bisweilen recht sonderbaren
Einzelheiten dieser Quellenrekonstruktion näher eingehen, die
methodisch öfter an die der Harnackzeit erinnert.

Ein Verzeichnis der besprochenen Bibelstellen (S. 219—232) und
der zitierten Autoren aus Altertum und Neuzeit (S. 23 3—236) beschließt
das Buch.

T. räumt in seiner .Conclusion' (S. 215—217) selbst ein, daß
er keine neue Interpretation der Apg. gegeben oder gesucht
habe. Dagegen hofft er die rechte Geisteshaltung und Methode
des Historikers angesichts der Apg. bestimmt und gezeigt zu haben
, welche Reichtümer ,,le critique prudent et eclaire" darin
finden kann. Nun, seine wirklich lesbare Untersuchung zeichnet
sich durch vorzügliche Kenntnis der Literatur und klaren Aufbau
aus; sie bietet eine selbständige Abwandlung früherer Thesen

über das Quellenproblem (vor allem solche von Goguel, Lake
und Dibelius). Das Buch wird auch dann anregend auf die Diskussion
der Apg. einwirken, wenn man beachtet, daß die literarische
Komposition des Lukas zu kurz kommt und damit der
Ausgangspunkt für die Quellenfrage verschoben ist.

Münster/Westf. E. Haencheu

Lerle, Ernst, Mag. phil. Dr. theol.: Die Predigtim Neuen Testament.

Uelzen: Lutheraner-Verlag [1956]. 142 S. 8°. DM 5.40; Lw. 6.40.

Ein Buch mit dem angegebenen Titel erweckt besondere Erwartungen
, weil man sich einen Beitrag zur hermeneutischen
Frage, eine methodische Klärung der exegetischen Voraussetzungen
oder eine Hilfe für die Praxis erhofft.

Die hermeneutische Frage bleibt allerdings unberührt. Doch widmet
sich L. z. T. exegetischen Fragen. Er argumentiert mit der richtigen Erkenntnis
einer sachlichen Differenz zwischen Missions- und Gemeindepredigt
, obgleich sich doch beides inhaltlich decken mag (S. 87 f.). Aber
sein Hang zu Verallgemeinerungen hebt den Gewinn wieder auf. Dem
Praktiker verheißt die Buchhülle einen Ausweg „aus der Einseitigkeit
einer erstarrten und verarmten Predigtweise". Wenn L. die Predigt als
Heroldsruf beschreibt, legt er tatsächlich auf einen Punkt Gewicht, der
Beachtung verdient. Wenn freilich ganze Fragenkreise wie der der Erwählung
oder der des Verhältnisses zwischen Wort und Sakrament unberücksichtigt
bleiben, entsteht dann doch wieder der Eindruck einer
Verengung. So bleibt es eben im Abschnitt „Motive der Verkündigung"
bei den Absätzen: „die gute Botschaft", „Fanfaren des Dankes und des
Lobes Gottes" (gemeint sind v. a. Dank und Doxologie), „Ernst der
Sünde" und „Zuspruch des Trostes".

L. versteht die Predigt so umfassend wie möglich und meint
auch historischen Bericht und liturgische Formel. Der Begriff hat
also die ganze, üblicherweise mit „Kerygma" bezeichnete Breite.
Die Predigt ist der aktuelle Heroldsruf, wobei man natürlich
wieder fragen könnte, ob etwa die Doxologie wirklich noch hinzugehören
darf. Durch diesen Heroldsruf erfolgt der Einbruch
Gottes in diese Welt, das Satansreich. Verf. handelt weiter über
die Vollmacht der Predigt und die legitime oder besser illegitime
Predigt, wobei sich konkrete Vorschläge für eine „Lehre
von der falschen Verkündigung" ergeben.

Den Neutestamentier interessiert besonders die Deutung der
Areopagrede. Diese will nach L. die Hörer, die sich schon zu Richtern
über Gottes Herolde aufgeworfen haben, ihrerseits richten und ihre
Anklage zerstören. Deshalb schlägt sie mit Mitteln, die der Hörer als
hellenistische erkennen kann (nicht muß!), die wir aber ebensogut pau-
linisch interpretieren dürfen, die Anklage nieder und geht zum Gegenangriff
über, wir würden meinen: sozusagen aus dem Hinterhalt. Nui
der oberflächliche Leser bleibt z. B. am Aratzitat hängen. Wer tiefer
schaut, erkennt die — paulinische — Spitze, nämlich die Kritik des Boten
. Zwar gibt es keine Möglichkeit der Anknüpfung: Gott ist anders
als der unbekannte Götze. Aber der Areopagredner knüpft an die
Religiosität der Hörer an (S. 92). „Ohne jedes Vorbild wurde eine
neue Art des Angriffs auf die alte, heidnische Frömmigkeit ausgetragen
." So ist das Ergebnis paulinischer Urheberschaft (S. 104 f.) nur konsequent
. Denn das kann man nur dem „größten Missionar aller Zeiten"
zutrauen, welcher den Heiden „keinen Auszug aus dem Römerbrief
vorsetzt".

Wen diese Auskünfte nicht befriedigen, der findet auch an anderen
Stellen genug, was die Lektüre des Buchs nicht eben erleichtert. Wenig
förderlich ist die pauschale Redeweise, die etwa 6tets von „dem Neuen
Testament" spricht und die Nüancen übergeht. Der folkloristische Stil
fällt auf („feindlicher Nachrichtendienst", „Hauptkampffeld", S. 70;
„Fanfaren des Dankes" in einer Überschrift S. 30). Wir notieren weiter
: S. 130 wird behauptet, es gebe im Neuen Testament keine „Spuren
einer falschen Diakrise"; vgl. aber die Angriffe der Jakobusleute nach
Gal. 2! Die Wiedergabe der Schweigegebote auf S. 17 unter Absage an
W. Wrede genügt nicht. Die Formel 1 Kor. 15, 3—7 hat J. Jeremias an
der zitierten Stelle richtiger vor v. 6 begrenzt (S. 23). Warum darf man
die S. 34 f. aufgeführten Rufe nicht „Doxologie" nennen und als Varianten
eines einheitlichen Dank-Schemas bezeichnen? Die Beurteilung
der Lazarus-Parabel auf S. 57 und manches andere werden kaum Nachahmung
finden.

Wenig überzeugend ist weiter die Beurteilung der politischen Verantwortung
eines Predigers als Karikatur, die sich lediglich auf das Vorbild
der alttestamentlichen Propheten berufen könne, weil sie ihren
Inhalt „aus zwei Quellen" empfange (S. 129 f.). Hätte sich Verf. doch
gefragt, ob die politische Entscheidung eines Propheten auch aus zweiter
Hand geschah! Daß der neutestamentliche Begriff des „Falschapostels".,
des „Falschbruders" oder des „Falschpropheten" damit richtig wiedergegeben
wird, möchte ich rundweg bestreiten.