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Ausgabe:

1957 Nr. 11

Spalte:

871-873

Kategorie:

Religions- und Kirchensoziologie

Autor/Hrsg.:

Fichter, Joseph H.

Titel/Untertitel:

Die gesellschaftliche Struktur der staedtischen Pfarrei 1957

Rezensent:

Holtz, Gottfried

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Theologische Literaturzeitung 1957 Nr. 11

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„Schöpfungsordnungen". Welcher Mißbrauch damit getrieben
worden ist, bedarf keiner Erörterung. Ebensowenig aber sollte
es einer Erörterung bedürfen, daß uns der Schöpfungsglaube im
Neuen Testament ebenso wie in der Christlichen Ethik erhebliche
Aufgaben stellt. Wie sind die Dinge, die uns hier beschäftigen,
z. B. die Ehe, das Verhältnis der Eltern und Kinder, „ursprünglich
" gemeint? Welche „Ordnungen" weisen überhaupt in den
„Anfang" zurück, welche nicht? Und in welchem Sinne weisen
sie dorthin zurück? Es fällt auf, daß W. diese Probleme im Zusammenhang
einer flüchtigen Erörterung des Naturrechts wohl
anrührt, aber es kommt zu keinen prinzipiellen Aussagen, vielmehr
geht es dann immer gleich wieder in eine Abkehr von diesen
Fragen über. Über die Feststellung der „Fragwürdigkeit" und
(natürlich) „Dämonisierbarkeit" dieser Ordnungen und Institutionen
kommt man nirgends hinaus (S. 8 8 ff.). Aber das genügt
nicht. Warum sollen plötzlich die „Bindung an Haus und Familie"
(S. 206), Heimatliebe und Nachbarschaft doch gelten? Eschatolo-
gisch läßt sich das doch nicht begründen, wenn schon die Liebe
als eschatologische Wirklichkeit in Anspruch genommen wird
(S. 108), was mir in dieser pauschalen Form übrigens auch nicht
so sehr einleuchtet.

Zuletzt schließlich gilt mein Bedenken dem Bilde der Kirche.
W. denkt unfraglich an „die missionierende Kirche" (S. 102).
Es ist die Kirche, die allen vergangenen Positionen den Abschied
gegeben hat, die sich keinen Rückwärtsillusionen hingibt u. dgl.
Andererseits ist sie bereit, den Emigranten aus der Kirche zu
begegnen, für dieselben Vorformen der Gemeinde zu begründen
usw. Sie hat Amt und Dienst, dem Menschen unserer Zeit
„mit neuen Zungen" zu sagen, wer er sei (S. 192). Ja, diese Gemeinde
kann nach W. „neue Dekaloge" machen (S. 87; daß hier
ein grobes Mißverständnis des Lutherwortes Disp. (Drews) S. 12
vorliegt, der von der Freiheit des gerechtfertigten Christen, nicht
von einem Recht der Gemeinde (!) spricht, leuchtet ein; vgl. hierzu
K. Holl, Luther2 u-3, 1923, S. 223). So genommen, erscheint
die Kirche W.s ganz im Lichte des Enthusiasmus. Nimmt man
noch hinzu, wie die von W. überall perhorreszierten „Dämonien"
fast so etwas wie einen Gegenenthusiasmus innerhalb der Schöpfungsordnungen
voraussetzen, so vervollständigt sich das Bild.
(Alfred Weber bekommt S. 232 eine rüde Abreibung, weil ihm
diese Dämonologie nicht einleuchtet. W. hätte sich dieserhalb
auch gegen gelegentliche Äußerungen von K. Barth wenden können
. Daß Tillich diesen Begriff „schon vor dreißig Jahren" wiederentdeckt
hat, ändert ja nichts an der Tatsache, daß hier eine erhebliche
Veränderung des neutestamentlichen Begriffes zugunsten
tiefsinniger Undeutlichkeit vorgenommen worden ist.) Aber man
wird W. mit der Erwägung solcher Möglichkeiten unrecht tun.
Denn diese Hinweise werden viel harmloser im Sinne Wicherns
verstanden werden müssen. Es geht hier um innere Mission; das
Buch W.s selbst wird in dieses Programm zu rechnen sein. Ich
würde nur meinen, daß dieser enthusiastische Verdacht — wenn
ich mich einmal so ausdrücken darf — auch dadurch behoben werden
könnte, daß W. gerade zugunsten jener „Emigranten" des
Kirchentums sich dem Anliegen erschließen möge, dem er bei
Gogarten (S. 231) so leidenschaftlichen Widerstand entgegensetzt.
Er möge das Problem der Vernunft in seine Analyse des heutigen
Menschen mit einbeziehen, und er möge sich jener theologischen
Sicht der Profanität erschließen, die wir der Arbeit vor
allem Wilhelm Kamlahs zu verdanken haben. Die Erfüllung dieser
beiden Wünsche werden der Radikalisierung und Konkretisierung
der Absichten W.s gegenüber der evangelischen Kirche dienlich
sein.

Göttingen W. Trillhaas

Fichter, Joseph H, SJ: Die gesellschaftliche Struktur der städtischen
Pfarrei. Freiburg: Herder [1957]. VIII, 247 S. gr. 8°. Kart. DM 15.-.

Der zu weit gefaßte Titel wird irreführen, wenn eine Untersuchung
zur städtischen Pfarrei allgemein oder in Deutschland
erwartet sein sollte. Darum sei zuerst berichtet, daß der Verf.
Katholik und Amerikaner ist und nur von den Ergebnissen seiner
soziologischen Feldarbeit ausgeht, d. h. von Strukturanalysen
weniger amerikanischer Pfarreien in Städten, die im Süden der
USA gelegen sind. Unser Werk ist eine Übersetzung einer 1954

in Chicago erschienenen Urausgabe. Erfreulicherweise sind dem
Bild der untersuchten Gemeinden die konkreten Züge belassen.
Wir erwähnen die Rassentrennung, die nicht vor dem Altar haltmacht
; weiße Katholiken arbeiten in öffentlichen Aufgaben mit
weißen Protestanten zusammen, während sie „jede Verbindung
mit Negern verweigern, die doch zur selben Pfarrei gehören und
mit ihnen Glieder des mystischen Leibes Christi sind". Neben
Zügen, die nur die untersuchten Stadtgemeinden charakterisieren,
stehen solche allgemeinamerikanischer Art: die Ballung des katholischen
Elements in den Städten, während auf dem flachen
Lande nur eine dünne Diaspora lebt; die ungewöhnlich große
Freizügigkeit; die uns fremde Rolle von Spiel, Sport, Tanz, Unterhaltung
im Programm kirchlicher Organisationen; der Kontrast
zum benachbarten protestantischen Freikirchentum u. a.
Aber nicht zur Förderung morphologischer Studien an fernem
Kirchentum dürfte die Ausgabe in deutscher Sprache besorgt sein,
sondern um die Eigenart amerikanischen religionssoziologischen
Forschens kennen zu lernen und brennende Probleme der Welt-
kirche allgemein zu diskutieren, die hinter und neben den speziellen
kirchlichen Problemen der Südstaaten aufgetaucht sind und
die soziologisch zu erfassen das Werk Wege zu weisen verspricht.
Auch wir halten die Berührung der europäischen und amerikanischen
religionssoziologischen Forschung für überaus fruchtbar.
Fichter gesteht der europäischen Forschungsgemeinschaft die Führung
im Theoretischen zu. „Man darf aber sagen, daß die amerikanischen
Soziologen sich einer Art der wissenschaftlichen Ausbildung
erfreuen, die sie befähigt, eine mehr empirische Art der
Forschung zu betreiben — und damit wahrscheinlich eine wertvollere
."

Daß ein solches Wort nicht der Ausfluß eines hohlen Stolzes, sondern
ein Ausdruck eines gesunden Selbstbewußtseins ist, beweist das
ganze Buch, aus dem Kapitel um Kapitel zu lernen sein dürfte. Teil I
handelt von der Typologie der Pfarrangehörigen. Da
bis zu 40 % aller, die ihre Religion als katholisch angeben, nicht mehr
zur Kirche gehen und kein Interesse an ihrer Arbeit bekunden, ist die
Frage nach der Mindestforderung formaler religiöser Praxis brennend,
um den Grenztypus zu gewinnen. Das Urteil Fichters lautet so: „Ein
katholischer Laie kann nur noch zur Pfarrei geredinet werden, wenn er
gelegentlich, nicht unbedingt einmal im Jahr die Messe besucht, und
dieser Meßbesuch kann auch nur bei besonderen Gelegenheiten, wie
Trauung oder Beerdigung von Familienangehörigen, stattfinden. Wenn
er Kinder hat, wird er sie taufen und in den meisten Fällen auch zur
Erstkommunion gehen lassen, aber wahrscheinlich ihre Firmung versäumen
. Er selbst hat kirchlich geheiratet, und wahrscheinlich wird er
auch die Dienste des Priesters für die Sterbesakramente vor seinem
Tode wünschen." Die Menschen dieses Typus werden Randkatholiken
genannt, ihr Anteil auf 20 % der Pfarrangehörigen geschätzt.
Was hat sie in das Randdasein getrieben? Antwort: sie folgen dem
Denken und Verhalten im Säkularismus, vor allem im Geschäftsleben,
kennen überhaupt nur noch eine relative Moral, sind Feinde kirchlicher
und religiöser Autorität und haben Ersatz in nichtreligiösen Institutionen
gefunden. Unter diesem Typ liegt der des schlummernden
Katholiken, der praktisch von der Pfarrei getrennt ist,
ohne ausgestoßen oder ausgetreten zu sein. „Seine ständigen und praktischen
Denk- und Verhaltensmuster sind nidit katholisch." Die Zahl
wird hier mit 38 % der Getauften angegeben, die betreffenden gelten
aber nicht mehr als Pfarrangehörige. Als Hauptgründe des „Schiummerns
" gelten Vernachlässigung durch die Eltern, Mangel an religiöser
Unterweisung, Demoralisation und unordentliches Familienleben, Mischehen
, Mängel in der Persönlichkeit des Priesters, Schockerfahrungen mit
der Kirche. Der Durchschnitts p'farrangehörige, der
schon seiner Zahl wegen — 70 % der Pfarrangehörigen — die wichtigste
und repräsentativste Kategorie für den Sozialwissenschaftler bildet
, erfüllt die kirchlichen Pflichten. Er stimmt intellektuell und gefühlsmäßig
den abstrakten Wahrheiten des Katholizismus zu und weiß
sich in der Solidarität der sakramentalen Gnade stehend, verbindet sich
aber im Berufsleben und in der Freizeit unbedenklich mit Nichtkatho-
liken. In gewissen Pfarrorganisationen (Theatergruppe, Paramenten-
verein, Elternvereinigung u. ä.) kann er führend sein („Wenige sehr
aktive Menschen in den Organisationen erfüllen vielleicht nicht einmal
die österlichen Pflichten"). Die Spitze hält der Kernpfarrangehörige
, der allerdings nur eine kleine Gruppe bildet (nicht
mehr als 10 % der Pfarrangehörigen). Überraschend ist, daß hier die
Gruppe der 15—19jährigen die meisten Angehörigen stellt, sowohl als
monatlich und als wöchentlich Kommunizierende wie als Glieder der
Pfarrgruppen. Der Rückgang in der Altergruppe von 20—29 lahren ist
enorm, in der Teilnahme an der Pfarrgruppenarbeit sogar von 15 auf
1, 8 %, worauf mit 30 Jahren ein allmählicher Wiederanstieg beginnt,
der aber nicht über 5, 6 % hinausführt (Altersgruppe 60 Jahre und dar-