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Ausgabe:

1957 Nr. 11

Spalte:

860-863

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Kupisch, Karl

Titel/Untertitel:

Zwischen Idealismus und Massendemokratie 1957

Rezensent:

Beyreuther, Erich

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Theologische Literaturzeitung 1957 Nr. 11

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schreibt, muß der Benutzer der Chronik ständig berücksichtigen:
„Der Chronist hatte die Ereignisse seit 1522 intensiv und mit
innerer Leidenschaft miterlebt, er schrieb aus persönlichem Kontakt
mit den Persönlichkeiten und den Ereignissen, freilich schon
von ihnen getrennt durch den tiefen Einschnitt der Schlacht von
Kappel. Seine Reformationschronik muß als ein Zeugnis für die
gute Sache der Reformation verstanden werden, als Dokument
ihres inneren Wertes nach der äußeren Niederlage, als Verteidi-
gungs- und Kampfschrift gegen die Gegner von außen und in den
eigenen Reihen. Sie ist das Zeugnis eines Geistlichen, der zu den
Begründern der Reformation gehörte und der versuchte, ihren
ursprünglichen Sinn und ihre ursprüngliche Reinheit gegen alle
verfälschten Einflüsse zu verteidigen."

Wie im I. Band verzichteten die Herausgeber auf einen sachlichen
Kommentar. Am Schlüsse sind einige Illustrationen aus der
Chronik und ein ausführliches Orts- und Personenregister beigegeben
.

Züridi Rudolf Pf ister

KIRCHENGESCHICHTE: NEUZEIT

Conrad, Walter: Der Kampf um die Kanzeln. Erinnerungen und Dokumente
aus der Hitlerzeit. Berlin: Töpelmann 1957. XV, 152 S..
18 Taf. 8P. Lw. DM 12.80.

„Ich kann nicht dulden, daß der liebe Gott gegen mich ausgespielt
wird." Dieses Wort Hitlers setzt der Verfasser an die
Spitze des Vorwortes zu seinem Buch und zeigt damit die Richtung
an, durch die das vom Verfasser entrollte dramatische Geschehen
der Offensive des Nationalsozialismus gegen die Evangelische
und die Katholische Kirche mit bestimmt wird. Dies
Wort ist aber auf der Höhe des Kirchenkampfes gesprochen worden
, als schon durch brutale Gewaltakte feststand, daß die im
Parteiprogramm zu Punkt 24 aufgestellte These: „Die Partei als
solche vertritt den Standpunkt eines positiven Christentums"
nicht mehr verfing.

Der Verfasser berührt zunächst in ganz knappen Zügen die
Entwicklung der beiden großen Kirchen im neunzehnten Jahrhundert
und im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts und
berührt auch kurz die rechtliche Lage der Kirchen und die politische
Lage, die der Nationalsozialismus bei der Machtergreifung
vorfand. Er zeigt, wie das Ringen der NSDAP um die direkte
Herrschaft über den Organismus der evangelischen Kirchen ging.
Die Bildung der sog. „Glaubensbewegung Deutsche Christen",
der Einbruch der Landsknechtsnaturen innerhalb derselben in
die Kirchen, das Versagen der zum Schutz der kirchlichen Ordnung
berufenen Landesregierungen, die Staatskommissare und die Anstrengungen
des Reichsministeriums des Innern, dem der Verfasser
angehörte, Recht und Gerechtigkeit walten zu lassen, werden
spannend geschildert. Der „Beauftragte des Reichskanzlers",
Wehrkreispfarrer Ludwig Müller, wird nach dem Führerprinzip
Reichsbischof, tritt an die Spitze der Reichskirche und weckt wider
Willen durdi seine Unfähigkeit, Brutalität und korrupte Haltung
die Kräfte der Bekennenden Kirche nicht nur gegen sein Kirchenregiment
, sondern weit darüber hinaus.

Die äußere Geschlossenheit der Katholischen Kirche, die
Festigkeit ihres Dogmas und die Machtstellung des Papsttums
boten keine ähnlichen Angriffspunkte. Aber gewisse Verflechtungen
von Männern des deutschen katholischen Klerus mit der
Zentrumspartei, die zu den beseitigten Parteien gehörte, ließen
auf ein Entgegenkommen hoffen. War aber der Vatikan bereit,
mit den neuen Machthabern ein Konkordat abzuschließen, so
mußte dies in hervorragender Weise zur Einführung derselben
in die internationale Diplomatie dienen.

In welch verlogener Weise dies geschah, wird in dem dritten,
sechsten, achten und zehnten Kapitel ausführlich dargestellt. Im
Brennpunkte stehen schließlich die katholischen Organisationen,
vor allem die Jugendverbände. Hervorragend ist dem Verfasser
die Verwertung der vom Ministerialdirektor Buttmann, Reichsministerium
des Innern, stammenden Aufzeichnungen gelungen.

Ausgezeichnet ist das beigegebene Bildmaterial.

Das Buch schließt mit einem „Staatsdilettantismus" überschrieb
enen Kapitel. Es bringt die Anfänge des Reichs- und Preußischen
Ministeriums für die kirchlichen Angelegenheiten, das die
Befugnisse des Reichsinnenministeriums mit übernahm, und streift
in kluger Selbstbeschränkung nur noch die weitere Entwicklung.
Wer diese Entwicklung bewußt miterlebte, weiß, wie die ganze
deutsch-christliche Kulisse zerbrach, Reichsminister Kerrl scheiterte
und nur das nackte Staatsregiment in der Kirche übrig blieb.

Das Auferstehen der Kirchen nach dem Zusammenbruch gehört
zu den Wundern Gottes, das Seiner Zusage — Matthäus 16
Vers 18 — entspricht. Der Verfasser schließt mit den Worten:
„Mögen alle, die es angeht, aus dem Erlebten lernen — und danach
handeln!"

Magdeburg Kurt G r ü n b a 11 m

Kupisch, Karl: Zwischen Idealismus und Massendemokratie. Eine
Geschichte der evangelischen Kirche in Deutschland von 1815—1945.
Berlin: Lettner-Verlag [1955]. 296 S. mit Taf. 8°. Hlw. DM 7.80;
Lw. DM 9.80.

Bei dem Mangel an zusammenfassenden kirchengeschichtlichen
Darstellungen des 19. und 20. Jahrhunderts, die über das
Kompendienhafte hinausgehen, kann jede Veröffentlichung über
diesen Zeitraum nicht lebhaft genug begrüßt werden, vor allem,
wenn sie noch von einem Historiker stammt, der sich durch
seine Arbeiten über diese Zeit so ausgewiesen hat wie Karl
Kupisch. Eine Gesamtschau des 19. Jahrhunderts wird vorgelegt,
die bei aller Behutsamkeit angesichts des überaus komplizierten
Charakters dieses Zeitraumes doch das Wesentliche eindrucksvoll
herausstellt. Dabei zieht noch eine Fülle von Gestalten, knapp
umrissen, aber überraschend greifbar, vor dem Auge des Lesers
vorüber. Manchmal wird das Urteil mehr zwischen den Zeilen
sichtbar. Die Nähe zu den Quellen gehört zu den weiteren Vorzügen
des Buches. Man stößt öfters auf glänzende Formulierungen
, die ins Schwarze treffen. Z. B. die Beurteilung der kirchenbehördlichen
Sackgasse angesichts des Apostolikumstreites, die
Urteile über den Liberalismus und die Bewertung der Gemeinschafts
- und Jugendbewegung sind so abgewogen, auch erfahren
die eigenwilligen Persönlichkeiten wie Vilmar und Kliefoth eine
so gerechte Würdigung ihrer tiefsten Anliegen, daß man die
Kunst des Historikers bewundert. Der Krebsschaden des deutschen
Protestantismus im 19. Jahrhundert ist so eindeutig herausgestellt
worden, daß schon darum die ganze Darstellung
wichtig ist (soziale Taubheit und nationalistische Kurzsichtigkeit
). Man wird dem Verfasser zustimmen müssen, daß der
ganze Schaden des theologischen Liberalismus viel leichter wiegt,
als was hier durch den traditionellen Bund des deutschen Protestantismus
mit dem Nationalismus und der preußischen Militärmonarchie
wie durch den „Pastorennationalismus" versäumt
worden ist, worauf auch Kurt Dietrich Schmidt, nicht zuletzt in
seinem Grundriß der Kirchengeschichte, hinweist. So weckt auch
diese Darstellung den Wunsch nach weiteren Einzeluntersuchungen
über dieses Phänomen des deutschen evangelischen Reichspatriotismus
, wie sie bei Adolf Heger1 und Reinhard Wittram"
vorliegen.

Nach dem Vorwort soll das Buch vor allem den Mitarbeitern
im katechetischen Dienst, aber auch jedem interessierten
Gemeindeglied dienen. Bei der starken Aussagekraft des Verfassers
und dem sachlichen Gewicht der Ausführungen, die eine
Fülle von Anregungen geben, ist eine ausführliche Besprechung
geboten. Wir verstehen, daß gewisse Stichworte fehlen, und dai?
eine „Kunst des Weglassens" geübt und manches notgedrungen
nur skizzenhaft dargeboten werden konnte, was der Verfasser
aus eigenen Forschungen eindrucksvoll hätte belegen können.

Selbstverständlich bleiben wie bei jeder gestrafften Darstellung
eines so großen Zeitraumes, der uns auch erregend genug
naheliegt, Einzelwünsche offen. Doch sind es vor allem grundsätzliche
Fragen, zu denen die Darstellung anregt.

*) Heger, Adolf: Evangelische Verkündigung und deutsches Nationalbewußtsein
, 1939.

2) Wittram, Reinhard: Kirche und Nationalismus in der Geschichte
des deutschen Protestantismus im 19. Jahrhundert (enthalten in R.
Wittram, Nationalismus und Säkularisation) 1949.