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Ausgabe:

1957 Nr. 11

Spalte:

858-859

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Titel/Untertitel:

Johannes Stumpfs Schweizer- und Reformationschronik 1957

Rezensent:

Pfister, Rudolf

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857

Theologische Literaturzeitung 1957 Nr. 11

858

drücklich neben der heiligen Schrift Bullingers Dekaden zu täglicher
Lesung empfiehlt (S.76 f.). An die Verbreitung de6 „Hausbuchs
" in Holland und England reicht diejenige in andern Ländern
nicht heran, audi nicht in der Schweiz.

Der zweite Hauptteil von Hollwegs Werk befaßt sich zunächst
mit den „schriftstellerischen, theologischen und homiletischen
Voraussetzungen" des Hausbuchs, wobei wir neben allerlei
vielleicht doch etwas zu weitschweifigen Ausführungen (S. 192
—214) vor allem erfahren, daß Bullinger „ein erklärter Anhänger
der allegorischen Schriftauslegung" (S. 217) gewesen ist und daß
er als hermeneutischen Leitgedanken den Grundsatz Augustins
wiederholte, die rechte Bibelauslegung dürfe nie mit der regula
fidei und nie mit Glauben und Liebe streiten (S. 215).

Vor allem aber befaßt sich der zweite Hauptteil mit der Bedeutung
des „Hausbuchs" in der „Auseinandersetzung der kirchlichen
und theologischen Parteien" (S. 242—362). Es geht dabei
vor allem um viererlei Themen, erstens um das Problem der
kirchlichen Zuchtübung bis hin zur Ketzertötung, zweitens um
die Prädestinationsauffassung, drittens um das Abendmahlsverständnis
und viertens um die Frage der Höllenfahrt Christi.
Das schönste Stück in diesem Abschnitt scheint mir das erste zu
sein (S. 242—278), in dem Hollweg die Stellung Bullingers zum
Problem kirchlicher Zuchtübung in der Pfalz erläutert. Bullinger
lehnt nicht die Zuchtübung, aber die kirchliche Zuchtübung ab,
denn er hält, wie Emile Doumergue schon vor 50 Jahren betonte,
die Zuchtübung einschließlich der Exkommunikation nicht für eine
Sache der christlichen Kirche, sondern der christlichen Obrigkeit
(Jean Calvin, les hommes et les choses de son temps II, 226).
Deutlicher aber als in der bisherigen Literatur hat Hollweg
herausgearbeitet, welche Bedeutung für Bullinger in diesem Zusammenhang
das Abendmahl hatte: das Abendmahl ist für ihn
Evangelium, und deswegen hat, so sagt er (S. 268), „unsre Kirche
niemals das mystische Mahl des Herrn mit der Kirchendisziplin
verflochten" oder an anderer Stelle (S. 260): „warum sollte man
eine Marter der Gewissen aus dem machen, was vom Herrn eingesetzt
ist zur Kräftigung des Glaubens"? Selbst die Einrichtung
kirchlicher Presbyterien hält Bullinger für gefährlich; „er befürchtete
in der Einrichtung selbständiger kirchlicher Regierungsgremien
die Aufrichtung eines neuen Papsttums" (S. 11).

Die Frage freilich, ob die Zuweisung der Zuchtübung und Exkommunikation
an die christliche Obrigkeit für die Obrigkeit nicht eine
noch viel gefährlichere Zumutung darstellt als für die Kirche, hat Bullinger
sich nicht gestellt; auch Hollweg stellt sie nicht. Warum wollte
Bullinger die Kirche damit nicht belastet sehen? Um dies verständlich
zu machen, müßte wohl auf den Schock hingewiesen werden, den die
Kappeler Katastrophe von 1531 hervorrief und der Bullinger zu einer
Abkehr von Zwingiis allzusehr politischen Kirchenregiment bewog, wie
dies Fritz Blanke in seiner Studie über den „jungen Bullinger" 1942
6chön gezeigt hat. Er verfiel bis zu einem gewissen Grad vom Extrem
des zwinglischen kirchenstaatlichen Denkens in das andre Extrem eines
mehr staatskirchlichen Denkens. Die pfälzischen „Disziplinisten" und
Freunde Calvins hatten einen solchen Schock nicht erlebt und waren darum
nicht geneigt, an der Möglichkeit kirchlicher Zuchtübung zu verzweifeln
; das Genfer Beispiel seit 1 5 54 schien ihnen Gewähr dafür zu
bieten, daß es auch bei Respektierung religiöser Aufgaben der christlichen
Obrigkeit doch mehr Raum auch für rein kirchliche Zuchtübung
gab. Darum mußte Bullinger den Kampf um die Kirchenzucht in der
Pfalz und damit auch die Hoffnung auf tiefer gehende Wirkung seines
„Hausbuchs" in der Pfalz verlieren.

Ganz außerordentlich interessant, vielseitig und bewegend
schildert sodann Hollweg die Rolle Bullingers und seines „Hausbuchs
" im Kampf um die Prädestination besonders in Holland zur
Zeit des Remonstrantenstreits (S. 294—338). Die Frage, um die
es hierbei geht, ist die: wer berief sich mit mehr Recht auf Bullinger
, die Remonstranten oder die Kontraremonstranten? Hollweg
nimmt sich im Eingang dieser Ausführungen vor, „hier Klarheit
zu schaffen" (S. 311). Indessen, so reichhaltig und vielseitig
seine Ausführungen über diese Kämpfe sind, so sdieinen sie mir
doch keine ganze Klarheit geschafft zu haben.

Dreierlei hätte m. E. anhand der reichen Belege, die Hollweg gibt,
deutlicher herauskommen können: erstens, daß aufs Ganze gesehen
weder Remonstranten noch Kontraremonstranten sich zu Recht auf
Bullinger beriefen; zweitens, daß innerhalb dieser Schranke die Remonstranten
die größere Nähe zum Prädestinationsdenken Bullingers hatten
als ihre Gegner; drittens, daß Bullinger den remonstrantischen und
kontraremonstrantischen Epigonen gegenüber genau so wie Calvin noch

ein beträchtlich Teil von der Weitherzigkeit und dem scelsorgerlichen
Takt des Theologisierens besaß, der die „Frontkämpfer" der Reformation
auszeichnete. Gerade diese letzte Seite an Bullingers Charakter
leuchtet an vielen Stellen von Hollwegs Buch deutlich hervor; es wäre
nur vielleicht nötig gewesen, sie in diesem Zusammenhang grundsätzlich
in Anrechnung zu bringen.

Denn Bullinger gehört, das merkt man aus Hollwegs Buch,
trotz aller Schranken und Unausgeglichenheiten 6einer Theologie
und Homiletik, ja gerade auch in ihnen zu den wenigen Theologen
der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, die dem Geist der
Verhärtung und gegenseitigen Verketzerung widerstanden, der
damals einriß. Das Wort, das Beza zur Zeit des pfälzischen Streits
an ihn schrieb, kennzeichnet 60wohl ihn selbst wie Bullinger in
sympathischer Weise und hat auch heute noch nicht an Bedeutung
verloren: „Früher konnte man in manchen Fragen verschiedener
Meinung sein, ohne daß dadurch die Freundschaft Schaden litt:
das ist das Unglück unsrer Zeit, daß man keine Meinungsverschiedenheiten
mehr ertragen kann" (S. 278).

Summa summarum, Hollwegs Bullingerbuch bleibt, auch wenn
man wie angedeutet an einigen Stellen eine etwas straffere Fassung
und eine etwas klarere Schlußbilanz wünschen kann, ein
außerordentlich wertvolles, auf breitester 6olider Quellenbasis
und einer profunden Kenntnis der Literatur aufgebautes Werk,
eine Bereicherung sowohl für die Praktische Theologie wie
auch für die systematische Theologie wie auch für die Kirchengeschichte
.

Wuppertal-Elberfeld E. Mülhaupt

^ ™ p :1 Johannes Stumpfs Schweizer- und Rcformationschronik.

11. Teil. Hrsg. von E. Gagliardi f, Hans Müller u. F. Büßer. Basel:
Birkhäuser 1955. III, 391 S. gr. 8° = Quellen zur Schweizer Geschichte
. N. F. L Abt. VI, 2. sfr. 26.-.

Dieser II. Teil bildet Fortsetzung und Abschluß der Re-
rormations-Chronik des Johannes Stumpf. Für den Reformationshistoriker
ist er von besonderer Bedeutung, da darin das 9. Buch,
vom Februar 1528—15 34 reichend, in sorgfältiger Edition zugänglich
gemacht ist. Die für den Gang der Reformation in der
Schweiz höchst bedeutsame Berner Disputation vom Januar 1528
findet sich noch im I. Teil beschrieben (S. 358-376). Das 9. Buch
setzt mit Mitteilungen über die weitere Ausbreitung der Reformation
auf dem Gebiet der Eidgenossenschaft ein. Der 1. Kappelerkrieg
von 1529 gelangt zur Darstellung. Das Marburger Religionsgespräch
findet indessen nur kurze Erwähnung; ausführlicher ging
Stumpf dann darauf in seiner leider noch ungedruckten, erst 1930
wieder entdeckten Geschichte des Abendmahlsstreites ein. Eine
eingehende Behandlung erfahren Vorgeschichte und Verlauf des
2. Kappelerkrieges vom Oktober 1531. Stumpf weiß verschiedene
Einzelheiten zu berichten, die anderweitig nicht erwähnt sind.
S. 186,26 — 210,4 wurde eine Biographie Zwingiis samt verschiedenen
Epithaphien eingefügt. Unser Chronist beschränkt sich
jedoch nicht auf Eidgenössisches. Gern verweist er auf Ereignisse
jenseits der Grenzen, z. B. Reichstag zu Speyer S. 26, 19 - 27, 27,
Vertreibung der Evangelischen aus Rottweil S. 66, 22 — 73, 21,
Wahl des Königs Ferdinand S. 107,20- 108,3, Türkenkrieg
S. 282, l — 286, 15. Zudem finden sich mancherlei kulturhistorische
Notizen eingestreut.

Stumpfs Arbeitsweise war stark von der Mitarbeit anderer
abhängig, wie er selbst mitteilte. Er stützte sich in erster Linie
auf Nachrichten und Schilderungen Fridli Bluntschlis, Sebastian
Francks, Bernhard Sprüngiis und Heinrich Bullingers. Sein Werk
trägt dennoch durchaus originalen Charakter, zugleich ist es die
erste umfassende Darstellung der Reformation in der deutschsprachigen
Schweiz. Bullingers Reformationschronik, die Jahre
1517 bis 15 32 umfassend, wurde aufgrund langjähriger Vorarbeiten
um 1562 verfaßt. Sie war als Antwort auf die Reformationschronik
des katholischen Luzerners Hans Salat gedacht. Bullinger
konnte sich mannigfach auf Stumpf stützen.

Die Schweizer- und Reformationschronik unseres Verfassers
gibt sich nicht als eine objektive, innerlich teilnahmslose Berichterstattung
. Sie ist vielmehr als Darstellung der Ereignisse durch
einen mitbeteiligten Zeitgenossen zugleich ein klares Bekenntnis
zur Reformation Huldrych Zwingiis. Was H. Müller, einer der
Bearbeiter, in der Einleitung zu den beiden Bänden Teil I, XXIV