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Ausgabe:

1957 Nr. 11

Spalte:

833-840

Autor/Hrsg.:

Winter, Paul

Titel/Untertitel:

Der gegenwärtige Stand der Erforschung der in Palästina neu gefundenen hebräischen Handschriften 1957

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Theologische Literaturzeitung 1957 Nr. 11

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nis ließ sich erwarten bei einem Buche, das etwa der Mitte des
zweiten Jahrhunderts angehören mag.

Alles in allem: das neue gnostische Buch bringt uns einen
Zuwachs an Erkenntnis. Gnostische Frömmigkeit wird uns anschaulich
. Dabei sehen wir, daß die Unterschiede zwischen Großkirche
und Gnosis nicht immer so hervortreten, wie bei den alten
Ketzerbestreitern. Vielleicht konnte etwa ein alexandrinischer
Christ aus der Schule des Klemens die vorliegende Schrift lesen,
ohne wesentlichen Anstoß zu nehmen. Immerhin mußte er doch
Unterschiede wahrnehmen, wenn er auf das achtete, was in dieser
Schrift fehlt. Sie kennt kaum ein Distanzgefühl Gott gegenüber
, trotz der hohen Vorstellungen vom Vater. Und sie vertritt
eine andere Auffassung von der Entstehung der Sünde. Damit
hängt zusammen, daß der Begriff Sünde nicht anschaulich
wird und sittliche Mahnungen, besonders zur Nächstenliebe, in
den Hintergrund treten.

Wir danken den Herausgebern für ihre wertvolle Arbeit.
Ich hebe besonders hervor, daß die Übersetzung eine hervorragende
Leistung darstellt: einen koptischen Text zu verstehen,
der nicht koptisch gedacht ist, ist nicht einfach. Mögen uns recht
bald auch die übrigen Teile des codex Jung zugänglich werden!

Zusatz bei der Korrektur (17. Sept.). In dem neuesten Bande
der Löwener Zeitschrift Le Museon (LXX 1957 S. 59 ff.) teilt
Gerard Garitte mit, daß das Koptische Museum von Alt-Kairo
eine photographische Ausgabe der koptisch-gnostischen Schriften
beginnt; 1956 erschien bereits: „Antiquities Department. Coptic
Gnostic Papyri in the Coptic Museum at Old Cairo by Dr. Pahor
Labib, Director of the Coptic Museum. Vol. I. Government Press"
(8 Seiten, 158 Tafeln). Garitte teilt in lateinischer Übersetzung
einige Texte aus dem Thomas-Evangelium mit, das sich auf Tafel
80 bis 99 findet. Es enthält 113 Sprüche Jesu; fast jeder wird
eingeleitet „Jesus spricht"; hier und da findet sich eine erzählende
Vorbemerkung, z. B. eine Frage der Jünger. Die Oxyrhynchos-
Papyri 1,654, 655 stammen aus diesem Werke (Kleine Texte
Nr. 8); die koptischen Parallelen teilt Garitte lateinisch mit; die
griechischen Bruchstücke können nun sicherer ergänzt werden.
Das Thomas-Evangelium ist nicht sachlich eingeteilt, zeigt aber
teilweise Stichwort-Disposition. Dürfen wir uns ähnlich die Form
der Redequelle vorstellen? Der Leitung des Koptischen Museums
in Alt-Kairo ist die Wissenschaft zu besonderem Danke verpflichtet
.

Der gegenwärtige Stand der Erforschung der in Palästina neu gefundenen hebräischen Handschriften

41. Das Neue Testament und die Rollen vom Toten Meer
Bemerkungen zu einem Sammelband

Von Paul Winter, London
Die in diesem Band gesammelten und von K. Stendahl
(Harvard Divinity School) in Form einer Anthologie herausgege

benen Aufsätze1 sind zumeist vorher in Zeitschriften erschienen.
In manchen Fällen haben die Verfasser ihre früheren Arbeiten
revidiert oder ergänzt. (Bei Besprechung der einzelnen Beiträge
wird unten jeweils der ursprüngliche Erscheinungsort angegeben.)

Ein Aufsatz des Herausgebers „The Scrolls and the New
Testament: An Introduction and a Perspective" leitet den
Sammelband ein. Der als Verfasser einer scharfsinnigen Untersuchung
über die Wesensgleichheit der Anwendung alttestament-
Iicher Zitate im Matthäusevangelium und in den pescher - artigen
Schriften der Sektengemeinde von Qumrän2 bekannte Forscher
stellt hier Beobachtungen an über die Verwandtschaft oder
Verschiedenheit der Messias-Erwartung, die einerseits in den
Qumränschriften, anderseits im Neuen Testament zum Ausdruck
kommt. Stendahl geht insofern mit Dupont-Sommer übeiein, als
auch er annimmt, daß die Qumrän-Sekte die Auferstehung des
Lehrers der Gerechtigkeit erwartet und ihn als den Messias
designatus betrachtet hätte (einige Mitarbeiter der Anthologie,
vor allem Brown, teilen diese Ansicht nicht). Sowohl die Männer
des .Neuen Bundes' wie die Jesus-Jünger werden von Stendahl
als messianische Gemeinschaften gesehen; der Unterschied zwischen
ihnen stelle sich in dem Steigerungsgrad ihrer Erwartung
dar: während die Qumrän-Sekte die Wiederkunft des Lehrers der
Gerechtigkeit als Messias in ferner Zukunft erwartete, sah die
Gemeinde der Jesus-Jünger sich vor ein bereits vollzogenes Ereignis
gestellt. „The relative difference in anticipation led to
what appears to us as an absolute difference in ideas" (S. 17).
So beachtlich und anregend die hier vorgebrachten Gedanken
sind, kann ich mich nicht zu der Überzeugung bekennen, daß der
Lehrer der Gerechtigkeit „a messianic figure" gewesen sei;1.

Von den auf die Einleitung folgenden dreizehn Einzelbeiträgen
haben elf als gemeinsames Thema die Frage, welchen Aufschluß
uns die Dead Sea Scrolls für das Verständnis des palästinensischen
Hintergrunds der neutestamentlichen Schriften geben.
In den Worten des Herausgebers: „The Dead Sea Scrolls add . . .
to our knowledge of the Jewish background of Christianity. On

') S t e n d a h lpKrister, Prof. Dr.: The Scrolls and the New Testament
. New York: Harper & Brothers 1957. VIII, 308 S. 8°. $ 4.00.

!) Krister Stendahl: The School of St. Matthew and Its Use of the
Old Testament. Lund: Gleerup 1954. Vgl. die Anzeige Philipp Vielhauers
, ThLZ 81 (1956), Sp. 39—42.

3) Vgl. meine Anzeige des Dupont-Sommerschen Buches The Jewish
Sect of Qumran and the Essenes in Vetus Testamentum 5 (1955),
S. 105-110.

this point there is universal agreement... It means, among other
things, that both the Pauline and the Johannine literature can
be understood in their Jewish background and that many of the
Odysseys of scholars some decades ago over the deep waters of
Hellenistic philosophy and religion were more fascinating than
they were rewarding" (S. 5). Ein zwölfter Aufsatz behandelt das
Problem der Beziehungen zwischen den Traditionen der Qumrän-
Gemeinde und judenchristlichen Glaubenssätzen. Der letzte Aufsatz
ist mit der Frage befaßt, ob die Qumrän-Männer einen Einfluß
auf die rabbinische Auslegung der Torah gehabt haben
können.

Die Rezension eines solchen Sammelbandes ist stets ein
verfängliches Unternehmen. Trotz Verwandtschaft ihrer Themen
gehen die Verfasser nicht von derselben Grundeinstellung aus
«nd ihre Forschungsmethoden sind verschieden. Ein Rezensent
wird sich von denjenigen Themen und denjenigen Beiträgen mehr
angezogen fühlen, die seiner eigenen Betrachtungsweise näherkommen
. Im vorliegenden Fall liegt es nicht einmal so sehr an
subjektiven Eindrücken, wenn über einzelne Beiträge ausführlicher
referiert wird als über andere, als vielmehr an der Erwägung
, daß ursprünglich in deutschen (oder zumindest europäischen
) Zeitschriften erschienene Aufsätze den Lesern der ThLZ
als bekannt vorausgesetzt werden dürfen. Aus diesem Grunde
konzentriere ich mich mehr auf die vorher in ausländischen Organen
veröffentlichten Beiträge, welche in die vorliegende Anthologie
Aufnahme gefunden haben. Vorausbemerkt sei, daß ich
die Beiträge von K. G. Kuhn und von W. D. Davies für die wesentlichsten
in diesem Sammclband halte. Wenn über Kuhns
Aufsätze nicht eingehend referiert wird, liegt dies ausschließlich
daran, daß sie allgemein bekannt sind.

Oscar C u 11 m a n n (Basel) steuert einen Beitrag „The
Significance of the Qumran Texts for Research into the Begin-
nings of Christianity"4 bei. Hier wird eine Vermutung über die
&h)viaxai (Acta 6, 1) ausgesprochen, die — wenn erhärtet —
uns nötigen würde, unsere Vorstellung von den Anfängen des
Christentums neu zu formen. Cullmann behauptet, die fUrjvia-
Tott „belonged to the original Church from the beginning; they
are not thus a result of the Diaspora" (S. 25). Diese .Hellenisten'
hringt Cullmann nun zu den Qumränleuten in Beziehung: „Jews
who differ from the official Judaism, showing tendencies, more
or less esoteric, of a syncretistic origin" (S. 26). Er spricht von
Zusammenhängen zwischen essenischem Gedankengut und dem

4) Erstmals im Journal of Biblical Literature 74 (1955), S. 213
—226, abgedruckt.