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Ausgabe:

1957 Nr. 10

Spalte:

764-767

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Titel/Untertitel:

Origenes, Prayer 1957

Rezensent:

Altaner, Berthold

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Theologische Literaturzeitung 1957 Nr. 10

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Glaubensbegriff, wobei wieder, wie auch sonst durch seine ganzen
Darlegungen hindurch, Tolstoi, Dostojewski und Nietzsche
angeführt werden. Luther wurde in seinem inneren Ringen über
alle anerkannten Grenzen des menschlichen Daseins und des gesunden
Menschenverstandes hinausgedrängt, dahin, wo auch jene
großen Vertreter der modernen Menschheit lebten, und hier
mußte er dem großen Mysterium ins Auge schauen, an dem alle
klar umrissenen Werte zerbrechen und von dem her der Mensch
nur solche neuen Prägungen finden kann, die selber wieder mit
Untreue belastet sind und zerbrechen müssen. Dies ist die Tragik
bei all diesen Großen gewesen, die Chestov zusammen mit
Luther dem Leser vorgeführt hat, und schließlich bewährt der
Verfasser diese allgemeine Regel des menschlichen Daseins auch
an Luther. Der Mensch braucht einen festen Halt, drum wandelt
er die ihm geschenkten schlechthin einmaligen, individuellen Begnadungen
in allgemein gültige Wahrheiten. In diesem Stadium
kam Melanchthon dem Reformator zu Hilfe. Chestov hat offensichtlich
dessen Loci gelesen und festgestellt, daß darin in kluger
Weise kein Wort gesagt ist von dem, was ein wesentliches
Merkmal des Glaubens Luthers ist: die bedingungslose Hingabe
an eine völlig unberechenbare Allmacht, die Offenheit für eine
völlig undurchsichtige Zukunft. Chestov begegnet sich mit Karl
Holl, wenn er behauptet, daß Melanchthon nicht gezögert hätte,
mit Thomas von Aquin den Glauben ein Verdienst zu nennen
(S. 138). Aber Holl hatte nicht die gleiche Kühnheit, dasselbe
schließlich auch von Luther, insofern er sich wieder den Menschen
und dem kirchlichen Aufbau zuwandte, zu sagen: „La foi
devient un merite, tout comme chez 6aint Thomas d'Aquin"
(S. 146).

Damit ist die Frage nach dem Wert des Urteils Chestovs
gestellt. Über die hohe Bedeutung seiner Meditation brauchen
keine Worte gemacht zu werden. Sie beruht darauf, daß ein Denker
zu uns redet, der sich eine klare, eindeutige Weltanschauung
errungen hat, mit der er alle ihm begegnenden Lebenserscheinungen
durchleuchtet, und zugeich ein seiner Verantwortung bewußter
Schriftsteller, der sich gründlich in die von ihm behandelten
Fragen eingearbeitet hat. So treffen wir hier eine Problematik
an, die vor einem halben Jahrhundert aktuell war, und doch
fühlt sich der Leser unmittelbar in seinen eigenen Lebensfragen
angeredet. Das ist offensichtlich der Chestov'schen Philosophie
zu verdanken. Die Frage ist also, ob diese dem behandelten Gegenstand
gemäß ist.

Chestov überrascht den Le6er gelegentlich durch wertvolle
Einsicht. Er hat durchschaut, wie bei aller Verwandtschaft das
Urteil über die superbia bei Luther viel radikaler ist als bei
Thomas (S. 8 8 f.). Im Zusammenhang damit steht die Erkenntnis
eines Grundcharakters des lutherischen Denkens: das Urteil Gottes
über das Tun des Menschen ist nicht nur „oft", sondern immer
und grundsätzlich anders als das des Menschen. Zwischen
Gott und dem Menschen besteht keine analogia entis: das ist
ein Gegenstand steter und leidenschaftlicher Aufmerksamkeit des
Verfassers, wenn auch der Ausdruck nicht vorkommt. Auch Luthers
verwickelter Lehre von der Willensfreiheit ist er mit Aufmerksamkeit
nachgegangen (S. 115 f.). Hier sieht er klar den
Unterschied zu Kant: dieser bindet den Menschen als Phänomen
streng an den kausalen Ablauf und spricht ihm als wesentlichem,
intelligiblem Ich Freiheit zu; Luther urteilt gerade umgekehrt.
Hier und anderswo entscheidet Chestov offensichtlich selbständig
und aus eigener Sachkenntnis.

Dem stehen tiefgreifende Fehlurteile gegenüber. Luthers
Kampf gegen die Vernunft entspricht einem Anliegen des Verfassers
; dieser kommt immer wieder darauf zu sprechen, erwähnt
aber mit keinem Wort die andere Seite, Luthers hohes Lob der
Vernunft als einer edeln Gabe des Schöpfers. Das Verhältnis des
Glaubens zu Schrift und Christus wird vollkommen übersehen.
Luthers Anspruch, daß seine Theologie auf Schriftexegese beruhe,
darf nicht gelten; wenn Ranke sich darauf beruft, so wird ihm
das als methodischer Fehler angerechnet. Daß die christologische
Begründung der Rechtfertigungslehre in einer um 1912 entstandenen
Abhandlung übersehen wird, ist erklärlich, nichtsdestoweniger
ergibt sich daraus eine schwerwiegende Mißdeutung. Die
Rechtfertigung selbst wird einseitig und abstrakt forensisch dargestellt
: Gott rechnet dem Sünder um des Sühnetodes Christi

willen die Schuld nicht zu, ,,mais les hommes n'en sont pas de-
venus meilleurs" (S. 129).

Daß die Menschen nicht anders und besser werden, das ist
im Grund auch die Einsicht von Tolstoi und Nietzsche und auch
schon das letzte Ergebnis der Philosophie Plotins. Die Begegnung
mit Gott, dem absolut jenseitigen, im schlechthin einmaligen,
unwiederholbaren Erlebnis, führt nur zur Einsicht in die Ohnmacht
des Menschen und ihre Ausweglosigkeit. Einen Trost
brauchen wir in dieser unserer tiefsten Not; den findet Tolstoi,
indem er trotz besserem Wissen den andern predigt und sich so
eine pharisäische Rechtfertigung verschafft, und Nietzsche, indem
er eine aristokratische Moral der Mitleidlosigkeit entwirft, weil
der Mensch dem Menschen ja doch nicht helfen kann und ihn
höchstens an die ausweglose Not erinnern würde (vgl. hierzu besonders
Leon Chestov, L'idee de bien chez Tolstoi et Nietzsche,
Librairie philosophique J. Vrin, Paris, 1949).

Daß diese Theorien mit dem Christentum nichts zu tun haben
, liegt auf der Hand. Luthers Rechtfertigungslehre verkündigt
wirkliche Hilfe. Gott ist ins Fleisch gekommen, und das wandelt
das ganze Dasein des Menschen im Fleisch. Aber ebenso
deutlich liegt auch auf der Hand, daß Chestovs Religionsphilosophie
starken Strömungen der heutigen Theologie parallel geht:
Bultmanns Bereitschaft des Glaubens für eine völlig undurchsichtige
Zukunft, Karl Barths radikalem Kampf gegen jegliche
analogia entis. Besonders das letztere ist auffallend; wenn
längst vor Karl Barth ein so rücksichtslos folgerichtiger Kampf
gegen die analogia enlis in einem Denken aufgetreten ist, das
sich zwar auf die Bibel beruft und sich dennoch nicht als Theologie
, sondern als Philosophie ausgibt, wie will man uns dann
davon überzeugen, daß dies ein echt theologischer Satz und nicht
ein philosophischer Lehnsatz in der Theologie sei? Um so mehr,
als Chestovs Berufung auf die Bibel etwas zweifelhaft ist, wenn
sie sich etwa in der Behauptung ausspricht: „L'extase sans limites,
l'Eros insense, demesure, teile fut la source d'inspiration des
prophetes judaiques" (S. 32).

Die Not dieser Problematik liegt darin, daß Chestovs Lutherdeutung
sich doch eine gewisse Strecke weit mit Recht auf
Luther berufen darf. Aber eben nur eine Strecke weit, dann setzt
bei Luther eine ganz andere Linie ein. Diese wird heute oft, auch
von Chestov, als Untreue Luthers gegen den Grundansatz seines
Denkens ausgegeben. Aber das ist unzweifelhaft eine Behauptung
von hochgradiger Willkür.

Die Aufgabe, auf welche die historische Wissenschaft durch
das Buch Chestovs wieder einmal und stärker als je hingewiesen
wird, besteht darin, die beiden Linien in Luthers Denken klar
und scharf herauszuarbeiten. Nach unserer Ansicht ist sie so zu
lösen, daß bei Luther die monistische Ontologie, die er aus dem
christlichen Piatonismus des Mittelalters überkommen hatte, mit
ihrem charakteristischen Dualismus, in seiner Anthropologie
sitzen geblieben ist und von da die Lehre von der christlichen
Subjektivität bestimmt, während jene ganz andere Linie in der
Lehre von den objektiven Gnadenmitteln zur Geltung kommt:
Christus, Wort, Sakrament.

Die systematische Aufgabe, die sich im Zusammenhang damit
der Theologie stellt, besteht darin, zwischen diesen zwei
Denkformen zu wählen. Bisher war es so, daß der platonisierende
Dualismus, den Luther auf das Gebiet der christlichen Subjektivität
zurückgedrängt hatte, sich auch in den objektiven Bereichen
der Theologie wieder durchzusetzen bemühte. Aber es könnte
auch einmal umgekehrt sein.

Saint-Ouen/Seine Th. Süss

KIRCH EN GESCHICHTE: ALTE KIRCHE

Ancient Christian Writers. The Works of the Fathers in
Translation, ed. by Johannes Q u a s te n S. T. D., Catholic Univer-
sity of America. Washington, D. C. and Joseph C. Plumpe, Ph.
D., Pontifical College Josephinum, Worthington, Ohio, vol. 19—22.
Westminster, Maryland: The Newman Press 1954—1956 — London:
Longmans, Green and Co. 1954 ff.

Das folgende Referat setzt meine in dieser Zeitschrift 1951,
550—553 und 1955, 438—441 veröffentlichten Besprechungen