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Ausgabe:

1957 Nr. 10

Spalte:

761-764

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Šestov, Lev

Titel/Untertitel:

Sola fide Luther et l'église 1957

Rezensent:

Süss, Théobald

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761

Theologische Literaturzeitung 1957 Nr. 10

762

Müller, Friedrich: Geschichtswirksamkeit des Evangeliums in seinem
lutherischen Verständnis. Zwei Aufsätze. Stuttgart: Evangelisches
Verlags werk [1956], 105 S. 8°. DM 4.80.

Aus der Feder des lutherischen Bischofs der siebenbürgisch-
6ächsischen Kirche sind hier zwei Aufsätze vereint. Der erste behandelt
„Das Luthertum als Auslösungskern der volkskirchlichen
Entwicklung und deren geschichtliche Auswirkung in Südosteuropa
". Auf 40 Seiten gibt M. hier die Geschichte dieses interessanten
, vorbildlichen und lebenskräftigen Kirchengebildes, das
infolge der Katastrophen, die über unsere Generation gekommen
sind, für so viele Menschen unbekannt geworden ist. Unmittelbar
von der Annahme der lutherischen Reformation an war diese
Kirche ungewöhnlichen Belastungsproben ausgesetzt, sowohl politischen
durch die Festsetzung der Türken in der ungarischen
Tiefebene (1541) als auch völkischen durch die Schicksalsverbundenheit
mit Ungarn und Rumänen, und schließlich noch Belastungsproben
konfessioneller Art, da ja die Nähe des römischen
Katholizismus ebenso wie das Bekenntnis zur Genfer Reformation
bei den Ungarn und schließlich die in den Rumänen verkörperte
morgenländische Kirche diesen Lutheranern ständig auf den Leib
gerückt war. M. zeigt eindrücklich, wie der Mangel eines staatlichen
Rückhaltes diese Kirchengruppe sowohl auf ihr Volkstum
als auch auf ihr Bekenntnis verwies, und wie die volkskirchliche
Lösung den siebenbürger Lutheranern eine so eigenartige und
vorbildhafte Selbständigkeit verlieh, daß sich sogar die anderen
Volksgruppen und Kirchen in jenem rätselvoll bewegten Geschichtsraum
an ihrem Beispiel zu orientieren vermochten.

Der zweite Aufsatz ist überschrieben „Wo will die Geschichte
mit uns hinaus?". Er entstammt dem Jahre 1942 und
stellt eine Art seelsorgerlicher Beratung, ein nachdenkliches persönliches
Bekenntnis dar, in dem die Bedeutung des Christentums
im Verständnis der Reformation für die Zukunft der Völker gezeigt
wird. Der vorausgehende historische Aufsatz stellt dazu
gleichsam Hintergrund und Tiefendimension dar und zeigt, daß
hier nicht Wünsche, sondern Erfahrungen vieler Jahrhunderte die
Gedanken über die Zukunft lenken. In besonnener Nüchternheit
werden die religiösen Quellen für den Zusammenhalt eines Volkes
gezeigt, im Geiste Herderscher Humanität das Vollcsschicksal
erwogen und realistisch alle utopischen Lösungen abgewiesen.

Ein Vorwort, das Franz Lau als Präsident des Gustav-Adolf-
Werkes der Evang. Kirche in Deutschland vorausgeschickt hat,
bringt eine wichtige Orientierung über Buch und Verfasser, eine
Schlußbemerkung des Verf.s macht den zweiten Aufsatz über
seinen inhaltlichen Wert hinaus noch als ein stilles Dokument
der Widerstandsbewegung bedeutsam.

Göttingen W. Trillhaaa

>. ,

Chest ov, Leon: Sola fide Luther et l'eglise. Trad. du Russe par
S. Seve. Paris: Presse« Universitaires de France 19 57. V, 157 S.
gr. 8° = fitudes d'Histoire et de Philosophie religieuses Nr. 46.
ffr. 700.—.

Eine kurze Einleitung der Herausgeber teilt mit, daß der
Text dieser Abhandlung von Chestov während seines Aufenthaltes
in Westeuropa zwischen 1911 und 1914 in der Schweiz
geschrieben wurde. Es handelt sich um ein größeres unvollendetes
Manuskript, dessen zweiter Teil vom Verfasser 1923 bei
Plön, Paris, unter dem Titel Les revölations de la mort
veröffentlicht wurde. Aus den bisher unveröffentlichten Teilen 1
und III sind einige Themen in die Abhandlung Potestas Clavium
übernommen worden, die Chestov zwischen 1914 und 1918 in
Rußland verfaßte und 1923 in Berlin veröffentlichte. Einer
dieser beiden Teile liegt jetzt in französischer Übersetzung vor.

Die Herausgeber dachten vor allem einen Beitrag zur Kenntnis
des Philosophen Chestov zu liefern. Selten sei Chestov
einem Menschen begegnet, dessen Erfahrung der seinen so nahe
verwandt gewesen wäre wie die Luthers. Sola Fide sei einer
der Schlüssel zur Philosophie des russischen Denkers, geradezu
eine Art geistiger Selbstbiographie. Aber, so fügen wir hinzu,
das Zwiegespräch dieses modernen Philosophen mit dem Reformator
ist auch für die geistige Durchleuchtung der Problematik
des Denkens Luthers und der gesamten abendländischen
Geistesgeschichte von hoher Bedeutung.

Der Leser hätte in der etwas dürftig ausgefallenen Einleitung
genauere Angaben über das Manuskript Chestovs und über
dessen Stellung innerhalb seines Gesamtwerkes erwartet. Sind
die Zitate, die jetzt im gedruckten Text übersetzt sind und in
Anmerkungen im Urtext wiedergegeben werden, von Chestov
selbst übersetzt? Kommen verunglückte Übersetzungen derselben
auf Kosten des Verfassers oder des Übersetzers? Vgl. S. 69
Anm. 1; S. 98 Anm. 1, wo auch der lateinische Text aus Thomas
von Aquin ungenau und unverständlich wiedergegeben ist;
S. 114 ein ganz arg mißhandeltes Zitat aus Piatons Phaidon;
S. 127 Anm. 2, wo in Übersetzung eines Lutherzitates von dem
.,für unsere Sünden gekreuzigten Christus in all seinem Schrecken
und Grauen" die Rede ist: so trägt man Kierkegaard in Luther
ein)

Albrecht Ritsehl heißt S. 117 „Albert Ritschel", Harnacks
bekanntes Buch S. 20 „Das Wesen des Christianismus"; Luthers
Römerbriefkommentar soll S. 87 „vor dem Bruch mit der Kirche
veröffentlicht" worden sein: wenn solche kleinen Schönheitsfehler
im Manuskript Chestovs stehen, hätte wohl die barmherzige
Hand eines Redaktors sie auslöschen dürfen!

Der Text ist in 19 Paragraphen geteilt, die keine Titel
tragen. Chestov beginnt mit Dostojewskis Großinquisitor, des-
*en Urteil über den römischen Katholizismus sich eng mit dem
Luthers berührt. Dann wird das eigentliche Problem Luthers
herausgearbeitet: er kümmerte sich keineswegs um die mancher-
!?! geologischen Spezialprobleme, die damals die Geister in der
^■rche beschäftigten; ihn quälte die Frage nach dem Heil des
Menschen in seiner Begegnung mit Gott im Jüngsten Gericht.
^ie Gegenwartsbedeutung dieser Frage wird durch einen Hinweis
auf die Werke Tolstois und Dostojewskis verdeutlicht. Als
dritter Vergleichspunkt kommt Nietzsche in Sicht. Die mancher-
ei Gegensätze dieser Schriftsteller gegen den Reformator dürfen
die tiefe Verwandtschaft nicht verdunkeln; Theorien dienen
ort nur dazu, „la pensee profonde des hommes" zu verdecken
(S. 9).

Vom 3. Paragraphen ab steigt Chestov in die Kirchengeschichte
ein. Pelagius und Augustin treten auf, die Frage nach
dem Wesen des römischen Katholizismus wird gestellt, dazu
setzt eine Meditation über die Urteile der modernen Kirchenhistoriker
, besonders Harnacks ein. Was bedeutet die Helleni-
sierung des Christentums? Was man bei Augustin als „Vulgärkatholizismus
" bezeichnet hat, ist ein unentbehrliches Moment
in der Synthese des afrikanischen Theologen. Die Synthese ist
freilich eine complexio oppositorum, wie es im übrigen
auch das Denken Harnacks ist, der ohne eine „philosophie vulgare
', nämlich die Philosophie des gesunden Menschenverstandes
(S. 62) nicht auskommen konnte. Philo und Plotin werden
aufgerufen, eine Bemerkung von Fr. Loofs führt zu einer
Auseinandersetzung mit Spinoza, welcher der ganze 7. Paragraph
gewidmet ist. Das Ende des 8. Paragraphen meldet endlich den
Ubergang zu Luther.

Im Zusammenhang einer Bemerkung Rankes wird Luther
rnit Loyola verglichen, dann sein Verhältnis zu Occam erwogen:
schon bei diesem war das Vertrauen in die Unfehlbarkeit der
Kirche erschüttert. Dann betritt Denifle die Bühne, er stellt der
Psychologischen Meditation Chestovs ein ebenso gewichtiges
Problem wie die historische Wissenschaft Harnacks. Was meint
Luther mit seinem sola fide? Der Gegensatz gegen die Heilsbedeutung
der Vernunft und der Werke wird auseinandergesetzt.
Chestov hat Alfonso de Liguori gelesen und weist aus 6einen
Nonnenpredigten nach, daß der Katholizismus tatsächlich dem
Ordensleben eine höhere Verdienstlichkeit zuspricht; aber das
gilt nur für den internen Gebrauch, und Denifle durfte es den
protestantischen Historikern nicht verraten. Für Luther zerbrach
an der Erfahrung der Unüberwindlichkeit der coneupiscentia
die Möglichkeit der saneta supeibia. Dann gab es für ihn nur
noch zwei Möglichkeiten: entweder wie Loyola das so über ihn
hereingebrochene Leiden als höchsten Erweis des Gehorsams auf
sich nehmen und damit der Kirche dienen, oder aber diese Kirche
als Satanswerk durchschauen und ihr den Vernichtungskrieg erklären
.

Nun entwickelt der Verfasser im 15. Paragraphen seinen