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Ausgabe:

1957 Nr. 10

Spalte:

751-754

Autor/Hrsg.:

Frick, Robert

Titel/Untertitel:

Diakonie heute 1957

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Theologische Literaturzeitung 1957 Nr. 10

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scheidend. Die Befunde an Herz und Kreislauf, die Beschwerden
und ihre Entwicklung müssen mit größter Sorgfalt untersucht
werden; der Arzt kann gar nicht genau genug sein, wenngleich
die Rücksicht auf den Leidenden immer größte Vorsicht erfordert.
Aber auch die feinste, subtilste Diagnose bleibt unzureichend,
wenn sie nicht zu einer persönlichen Beurteilung des Kranken,
seiner Lage und seiner Geschichte ausgebaut wird. — Die Therapie
erfordert in allererster Linie Ruhe und Beruhigung des Kranken
, damit die erregte Ordnung sich ausgleichen kann; aber wie
das erreicht werden soll, das muß stets individuell ausgerichtet
werden. Das gilt vor allem für den Gebrauch von Beruhigungsmitteln
: so unentbehrlich sie oft sind, so muß doch das rechte
Maß gehalten werden. Wenn der Schmerz zu gewaltsam unterdrückt
wird, wird seine Warnfunktion ausgeschaltet, der Kranke
mutet sich zu viel zu, 60 daß neuer Schaden entstehen kann.
„Leben ohne Schmerz droht zu einem Leben ohne Maß zu werden
" (vgl. a S. 706). Keine technischen Feststellungen, keine
sachliche Wissenschaft, so unerläßlich sie sind, können die letzte
Entscheidung begründen; sie kann nur in persönlicher Hingabe
von Mensch zu Mensch gesucht und gefunden werden. — In der
gleichen Schwierigkeit stehen wir, wenn wir Herz und Kreislauf
stützen und anregen, aber auch schonen müssen. Gewiß brauchen
wir gründliches Wissen über die Störungen im Leib und über die
Wirkung der Heilmittel, aber das rechte Maß hängt vom Verständnis
von Person zu Person ab. Immer ist der ärztliche Auftrag
an Sehen und Verstehen, Entscheiden und Ergreifen im
Wechselgange von sachlichem Wissen und bereiter Zuwendung
zum Kranken gebunden. Das ist unsere Verpflichtung und unsere

Freiheit in ernster Verantwortung, in mancher Not, aber auch
in getroster Gewißheit. Das ist anthropologische Medizin.

Die Studie über „die Einheit von Leib und Seele" handelt
von der Begegnung der anthropologischen Medizin mit der theologischen
Anthropologie (c). In der theologischen Anthropologie
heißt es nach der These von Karl Barth (K. D. III 2; S. 391):
„Der Mensch ist das Subjekt, die Gestalt und das Leben eines
stofflichen Organismus, die Seele seines Leibes, — beides ganz
und zugleich in unaufhebbarer und untrennbarer Einheit." Diese
Worte entsprechen ganz dem, was in der medizinischen Anthropologie
gesagt ist. Freilich steht in der theologischen Anthropologie
der Satz unter dem Vorzeichen: „Durch Gottes Geist ist
der Mensch das Subjekt", und am Schluß der These wird von
der Einheit von Leib und Seele „in unzerstörbarer Ordnung" gesprochen
, in der „die Seele regiert und der Leib dient". Das sind
Glaubensaussagen jenseits der anthropologischen Medizin; hier
gilt kein Erklären, kein Beweisen, sondern nur das Hören des
Wortes, das mit dem Wort 6elbst geschenkt wird. Der hörende
Arzt wird einsehen, daß sein Wissen und sein Auftrag nicht das
Einzige und das Letzte sind, aber er muß auch daran festhalten,
daß er in der Wirklichkeit des Lebens erfährt, wie die Ordnung
von Leib und Seele eine offene und eine gespannte ist, und wie
oft auch der Leib die Seele zwingt und regiert, wie oft in unseren
Gelüsten und Süchten Leib und Seele in der Tat „untrennbar
" sind. Deshalb muß er den Theologen ermahnen, daß seine
Glaubensaussagen ihm die Offenheit für die Wirklichkeit des Lebens
nicht verschließen dürfen und daß er in ihr und in sie hinein
seinen Auftrag zu bestellen hat.

Die Synode der E.K.D, die im März 1957 in Berlin-Spandau
tagte, hatte zum Hauptthema: Diakonie in einer veränderten
Welt. Leider ist dies Thema sowohl auf der Synode selbst als
auch in der Berichterstattung und Nachwirkung ganz zurückgetreten
hinter der Frage der Wehrmachtseelsorge und ihrer Regelung
durch Staatsvertrag und Kirchengesetz. Um so wichtiger
ist es, auf einige Bücher hinzuweisen, die aus der Vorarbeit für
das eigentliche Thema der Synode erwachsen sind und diesem
noch nachträglich zu der erwünschten Beachtung verhelfen könnten
.

Gerhard N o s k e, leitender Mitarbeiter des Hilfswerks der
E. K. D., hat eine Reihe von Fachleuten gewonnen für eine Einführung
in die diakonische Arbeit der Kirche in ihren mannigfaltigen
Formen1. Von der Inneren Mission (Freudenstein)
und der Mutterhausdiakonie (Wagne r-Leipzig und G. Jaeke-
Stuttgart) führt der Weg zum Hilfswerk (Chr. Berg) und zur
ökumenischen Diakonie (F o e r s t e r - Stuttgart). P. P h i 1 i p p i
berichtet von der Arbeit des Diakoniewissenschaftlichen Instituts
in Heidelberg, E. S c h I e t h davon, wie die Kirche heute ihre
sozialpolitische Verantwortung sieht und wahrnimmt. Der Herausgeber
zeigt an einem Schaubild den Gestaltwandel der Diakonie
, der ebenso durch die Entwicklung vom christlichen zum
säkularen Staat wie durch die Entwicklung von der Staatskirche
zur staatsfreien Kirche bedingt ist. Die Entwicklung führt einerseits
zu einer Kooperation zwischen kirchlicher Diakonie und
staatlicher Fürsorge, anderseits zu einer Besinnung der Gemeinden
auf ihre diakonische Verpflichtung. War Diakonie im 19. Jhdt.
weithin die Angelegenheit der frommen, erweckten Kreise und
der von ihnen getragenen Stiftungen, Anstalten und Vereine, so
erwacht heute die Gemeinde zu dem Bewußtsein, daß Diakonie
Sache aller ihrer Glieder ist, daß allgemeines Priestertum soviel
bedeutet wie allgemeine Dienstverpflichtung. Ein anderes Schaubild
(von G. Hoffmann entworfen) zeigt die dienende Gemeinde,
geeint im gemeinsamen Gottesdienst, aufgegliedert in verschiedene
Arbeitskreise (Männer, Frauen, Jugend usw.), die sich je-

*) Noske, Gerhard: Heutige Diakonie der evangelischen Kirche,
Formen und Aufgaben ihrer karitativen und sozialen Arbeit (hrsg.)
Berlin: Lettner-Verlag [1956]. 143 S. 8°. Lw. DM 6.50.

Diakonie heute

Ein Bericht

Von R. F r i c k, Kaiserswerth

weils ihrer diakonisch-missionarischen Verpflichtung bewußt sind.
Es ist freilich die Frage, wieweit dieses Bild der Wirklichkeit entspricht
und nicht doch auch heute noch ein unerreichtes Ideal ist.

Daß Diakonie nicht eine Sache von kirchlichen Spezialisten
ist, und daß die vereinsmäßig organisierte Diakonie nur stellvertretenden
und Wegbereiterdienst tun kann für die Diakonie
der ganzen Gemeinde — diese Erkenntnis zieht sich auch durch die
Vorträge und die sich ihnen anschließenden Diskussionen eines
Vorbereitungsausschusses für die Spandauer Synode, der unter
Leitung des Berliner Missionsdirektors Brennecke im Juni
1956 getagt hat („Diakonie in einer veränderten Welt")2. Durch
die Wiedergabe von Ausschnitten aus der Aussprache wird der
Leser in guter Weise in das Gespräch mit hineingenommen.
W. Brandt, der Betheler Neutestamentier und Leiter des dor-
tigen Diakonissenhauses, gibt die biblische Grundlegung aller
Diakonie („Unveräußerliche Elemente einer diakonisch lebendigen
Gemeinde und Kirche"): Diakonie ist Betätigung der Agape, die
Leidende und Helfende zur Bruderschaft verbindet; sie wurzelt
in der Verkündigung des Wortes und ist selber Verkündigung;
sie sucht immer den ganzen Menschen nach Leib und Seele —
entscheidende Hilfe ist die Bezeugung der Vergebung. In der
Aussprache wurde betont, daß zum unveräußerlichen Wesen der
Diakonie die Absichtlosigkeit des Helfens gehört (was zur missionarischen
Ausrichtung des Dienstes kein Widerspruch zu sein
braucht), und ebenso die Verbindung von Diakonie und Liturgie
(vgl. das Schaubild von G. Hoff mann). Pastor Bürdest
ü m m e r, Rektor der bayrischen Diakonenanstalt Rummelsberg
, meint bei aller Offenheit für „die Veränderungen in Kirche
und Gemeinde mit ihren Konsequenzen für die Diakonie" und
bei voller Bejahung des Zusammenschlusses von Innerer Mission
und Hilfswerk in einem diakonischen Werk der Kirche, doch vor
einer organisatorischen Verkirchlichung der freien Anstalten warnen
zu müssen. Organisatorische Unabhängigkeit braucht den
kirchlichen Charakter der Werke nicht zu gefährden, gibt ihnen
vielmehr unter Umständen eine größere Bewegungsfreiheit gegenüber
dem oft schwerfälligen Apparat einer Landeskirche. Die

2) Brennecke, Gerhard: Diakonie der Kirche in einer veränderten
Welt. Referate und Aus6pradiebeiträge einer Arbeitskonferenz
[hrsg.] Berlin: Lettner-Verlag [1956]. 158 S. 8°. Lw. DM 6.50.