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Ausgabe:

1957 Nr. 10

Spalte:

741-752

Autor/Hrsg.:

Siebeck, Richard

Titel/Untertitel:

Die Medizin auf der Suche nach dem Menschen 1957

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Theologische Literaturzeitung 1957 Nr. 10

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6uchen als im Menschen Jesus von Nazareth, 6agt Luther. Die
besonderen Fragen und Anliegen, aus denen diese Aussagen erwachsen
sind, mögen wohl bei Luther und Kahler verschieden
sein; aber die letzte Absicht ist die gleiche.

Dieses Ergebnis unserer Untersuchung wird eine Bestätigung
erfahren, wenn wir auch bei Luther nach der in seiner Theologie
von unten lebenden Denkform fragen und dabei sehen,
daß sie die gleiche Richtung auf ein phänomenologisches Denken
hat, die wir bei Kähler angedeutet haben. In der Vorlesung zum
ersten Johannesbrief von 1527 finden wir folgende christologi-
schen Ausführungen. Unsere Häretiker fangen an zu untersuchen,
wie man Christi Menschheit von seiner Gottheit absondern solle.
Johannes sagt: „das wir gehört haben, das wir gesehen haben
mit unsern Augen usw." Daraus schließt man: Die Gottheit
könne nicht gesehen werden, also sei ausschließlich von der
Menschheit die Rede. Stattdessen sollen wir bei der Einfachheit
der Schrift bleiben und von Jesus Christus so reden, wie die
Schrift es tut. Wir glauben, daß Jesus Christus eine Person ist,
zwar aus zwei Naturen bestehend, aber eine Person. Was immer
über die Person Christi gesagt wird, geht die ganze Person
an. In substantia, vom Gesichtspunkt der Substanz ist es wahr,
die Naturen an sich betrachtet sind unterschieden: in se
distinctae sunt naturae. Sed quando ponitur mihi in

verbunden mit Christus im Blickfeld des Glaubens, der Akte des
Glaubens, des ganzen subjektiven Glaubenslebens. Christus als
Person und der Glaube gehören untrennbar zusammen.

In der Sprache der Husserlschen Phänomenologie geredet,
Christus als Person in der unauflöslichen Einheit seiner beiden
Naturen ist das intentionale Gegenüber zum subjektiven Aktleben
des christlichen Glaubens. Wir kommen also zu diesem
Ergebnis: Im innersten Kern der christologischen Gedanken Martin
Luthers, genau wie bei gewissen christologischen Erörterungen
Martin Kählers, finden wir Dinge ausgesprochen, die sich
auf der Linie eines phänomenologischen Denkens bewegen und
nur durch eine ihrer selbst bewußt werdenden Phänomenologie
zu voller und wissenschaftlicher Klarheit erhoben werden können
.

Nun noch eine letzte Bemerkung, um anzudeuten, daß das
Auftauchen einer phänomenologischen Denkrichtung bei Luther
eigentlich nicht verwunderlich ist. Er lehnt sich dabei an scholastische
Denkelemente an: an den scholastischen Begriff des
Objektiven. Wir, mit unserer von Kant geprägten philosophischen
Sprache, würden dieses scholastische Objektive eher als
das Subjektive bezeichnen. Aber Luthers Christus in objectum
positus ist nicht ein bloß subjektiver Christus. Es ist Christus
selbst, wie er in den Akten des Glaubenslebens sich darstellt und

objectum et offertur mihi Christus, non divisus ab humana j gibt; die Sache selbst in den Erscheinungen, nach der von Ritsehl
natura, sed totus Christus arripiendus mihi: Wenn Chri- i gebrauchten Formel für seine aristotelische Grundanschauung

stus mir eben als Christus angeboten und als Gegenstand meines
Glaubens vor den Blick desselben gesetzt wird, dann muß
ich den ganzen Christus ergreifen, nicht einen solchen, der von
seiner menschlichen Natur geschieden wäre.

Das Phänomenologische hängt also mit dem Aristotelischen zusammen
; und doch unterscheidet es sich wesentlich von ihm, wie
wir schon andeuteten. Das aristotelische Denken sucht in den
Erscheinungen nicht so sehr die Dinge selbst, wie sie sich geben,

In einer andern Nachschrift dieser Vorlesung wird der Aus- ! f°ndem das Wesen, die angebliche Substanz, den Begriff dersel-
druck: ponitur mihi in objectum, so erklärt: „das ist, womit j en- und das führt in der Folge zu einer Vergewaltigung der
man handeln soll", was offensichtlich bedeutet: womit man im | 5!?C, "en PinSe selbst durch den ontologischen Rationalismus,
Glauben, im Gebet, im Vertrauen, überhaupt in den mancherlei
Akten des persönlichen Glaubenslebens handeln soll. Wir heben
noch folgende Formeln hervor: Niemand kann von außen,
ab extra, mit seiner Anbetung, seinem Eifer, seinem Werk die
Naturen getrennt erfassen, so wie sie von innen getrennt sind.
Und: Wenn ich an die Menschheit Christi glaube, so glaube ich
an die ganze Person: Non disputandum de dividendo Christo,
sed contrarium (W 20, 602—604).

Luther unterscheidet hier zwei Gesichtspunkte: Christus
in substantia, Christus in objectum positus-, oder auch
Christus ab intra und ab extra- Von diesen beiden Gesichtspunkten
gehört nur der eine, Christus als Objekt und von außen,
dem Glauben als subjektivem Glaubensakt zu. Objekt ist dabei
nicht im modernen, sondern im scholastischen Sinn gemeint:
nicht Christus objektiv, wie er an sich ist; das heißt in der scholastischen
Sprache in substantia; sondern Christus so, wie er
dem lebendigen Glauben im Vollzug der Glaubensakte, im Vollzug
des subjektiven Glaubenslebens sichtbar und erfahrbar gegenübersteht
. Christus so, wie er dem Glauben gegeben ist;
Christus als der Christus für uns, als Gott für uns; Christus,
wie er der gläubigen Subjektivität gegeben ist und erscheint. Von
diesem Gesichtspunkt betrachtet ist Christus Person, und als
solche können wir Menschen im Glauben ihn erfassen, als Person
ist er uns in echter Weise gegeben, mit ihm als Person können
wir handeln. Christus als Person ist also für Luther untrennbar

der in den Substanzen und Begriffen steckt. Das rein Phänomenologische
, das reine Erscheinungsdenken verzichtet endgültig auf
njf.. Substanzen und die sich selbst genügenden Begriffe, um die
Phänomene so zu nehmen, wie sie sich geben, und sie nach dem
Sinngehalt zu befragen, mit dem sie sich selber geben.

Das also, meinen wir, ist der Sinn von Luthers „Theologie
von unten". Ihr Ausgangspunkt ist nicht der objektive Christus,
wie unsere moderne Sprache ihn versteht, also Christus wie die
W'ssenschaft unserer Zeit ihn erforscht, sondern der Christus
>n objectum positus, Christus wie der Glaube ihn schaut und
das Wort ihn verkündigt, Christus als Gott hier unten bei uns
und für uns. Dadurch ist auch der Mensch an den Ort gestellt,
Wo er hingehört, nämlich unten in die Tiefe; und dadurch bekommt
auch der Begriff „oben" erst seinen rechten Sinn. Denn
abgesehen von Christus im Fleisch und vom Ort unten, an den
er uns hinstellt, meinen wir mit „oben" doch nur die Allgemeinheiten
, Abstraktionen, Begriffe und Ideen unsres eigenen Geistes
. Das wahre,,oben" ist Gott selbst, Gott in seiner Person
und lebendigen Wirklichkeit, und den kennen wir nur in Christus
, also nur unten. Wir sind nicht oben und können also auch
keine Theologie von oben machen, sondern immer nur im Blick
von Christus im Fleisch nach oben. Alle rechte Theologie ist von
da unten gesehen; auch die Präexistenz Christi und seine ewige
Geburt aus dem Vater und sein Abstieg ins Fleisch. All dies hat
nur Sinn aus dem Blickpunkt unten, vom lebendigen Gegenüber
des Glaubens und des fleischgewordenen Gottessohnes her.

Wer ist der Mensch? Diese Frage ist in der Medizin neu
aufgebrochen. Mechanistisches, biologisches, funktionalistisches,
und nicht zuletzt auch psychologisches und psychosomatisches
Denken soll durch eine „anthropologische Medizin" zusammengefaßt
und überwunden werden. Dieses Bestreben geht von recht
verschiedenen Ansätzen aus; darüber soll hier an einigen Beispielen
berichtet werden.

1) Die Zeit ist reif für eine neue naturphilosophische Besinnung
, davon geht Thurevon Uexküll aus1. Das gilt

*) Uexküll, Thurc von: Der Mensch und die Natur. Grund-

Die Medizin auf der Suche nach dem Menschen

Von Richard S i e b e c k, Heidelberg

nicht zuletzt für die Medizin, denn der Arzt ist in jedem Akt
seines Sehens, Verstehens und Handelns auf ihre Probleme hingewiesen
, wie auch von seinen neuen Ansätzen neue Fragen nach
dem Menschen und seiner Welt auftauchen, die für andere
Wissenschaften von größtem Interesse sind. Für die Aufgabe,
die hier gegeben ist, bringt der Verfasser beste Voraussetzungen
mit: er ist Arzt aus der funktionalistischen Schule von Bergmanns
, verfügt über weitumfassende Kenntnisse, in Naturwis-

züge einer Naturphilosophie. München: Lehnen [1953]. 270 S. kl. 8°
= Sammig. Dalp Vi. Lw. DM 7.80.