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Ausgabe:

1957 Nr. 10

Spalte:

731-742

Autor/Hrsg.:

Süss, Théobald

Titel/Untertitel:

Non a summo, sed ab imo (W 40 I 79, 8 f.) 1957

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Theologische Literaturzeitung 1957 Nr. 10

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Non a summo, sed ab imo

(W 40 1 79,8 f.)

Versuch einer Deutung der theologischen Methode des Reformators

Von Th. Süss, Saint-Ouen/Seine

Das Thema, das diese Lesung1 behandeln soll, ist von uns
gewählt worden, nicht bloß weil es immer wieder, bald da, bald
dort, in den theologischen Erörterungen unserer Tage auftaucht
und also eine gewisse Zeitgemäßheit besitzt, sondern auch weil
es uns besonders geeignet scheint, Ihnen einen Eindruck zu vermitteln
von der Art und Weise, wie wir es versuchen, im Rahmen
unseres Lehrauftrages an der Freien Evangelisch-Theologischen
Fakultät in Paris Theologie zu treiben und die Fragen der
lutherischen Dogmatik zu behandeln. Freilich, es ist ein sehr umfassendes
Thema, und wir werden genötigt sein, die Gegenstände
, die wir dabei zu berühren haben, in ziemlich gedrängter
Darstellung zu umreißen, Einzelheiten beiseite zu lassen, vieles
als bekannt vorauszusetzen und uns vor allem um Klärung des
Wesentlichen zu bemühen.

Nach einem kurzen Hinweis auf Luthers bekannte Auffassung
, daß die Theologie „ab imo", von unten auszugehen habe,
werden wir dieser drei Formen moderner Theologie gegenüberstellen
, in der Absicht, uns durch den Vergleich dieser Theologien
untereinander und mit der Luthers an den Fragenkreis und den
Sinngehalt der „Theologie von unten" des Reformators heranzuarbeiten
. Es handelt sich hierbei um Albrecht Ritsehl, Emil
Brunner und Mattin Kähler. Ritsehl hat den Anspruch gestellt,
mit seiner Theologie die methodische Forderung Luthers zu erneuern
und zum ersten Mal sachgerecht durchzuführen. Brunner
hat in seinem „Mittler" eine Theologie von oben entworfen,
die ein Gegenstück zu Luthers wie zu Ritschis Theologie von
unten bildet, deren Erforschung also zur Aufhellung der Problematik
einer Theologie von unten beitragen kann. Kählers Bemühen
, besonders in seinem Vortrag „Der sogenannte historische
Jesus und der geschichtliche, biblische Christus", wird sich
uns, im Gegensatz zu den zwei eben genannten Lehrbildungen,
als ein theologisches Denken erweisen, das dem Luthers nahe
verwandt ist und sich weithin auf der gleichen Linie bewegt.
Diese Feststellung wird uns vor unsere letzte Frage führen: Wie
läßt sich das von Luther mit seiner „Theologie von unten"
eigentlich Gemeinte, so wie es in seiner Übereinstimmung mit
Kähler deutlich erkennbar ist und von andern Formen gegenwärtiger
Theologie sich ebenso deutlich unterscheidet, wissenschaftlich
ausdrücken und gegenüber den Ansprüchen anderer
Theologien rechtfertigen? Denn darüber kann ja kein Zweifel
bestehen, daß Theologie Wissenschaft ist, und daß drum theologische
Einsichten, mögen sie noch so intuitiv richtig und instinktiv
sicher sein, erst dann allgemein verstanden und anerkannt
werden können, wenn sie sich mit den Mitteln der
Wissenschaft darzustellen gelernt haben.

Wir geben zuerst die Stelle aus dem großen Galaterkommen-
tar wieder, welcher die Formel „non a summo, sed ab imo"
entnommen ist (W 40 I 79, 7 ff.): „Paulus verbindet immer Jesus
Christus mit dem Vater, weil er christliche Theologie lehren
will, welche nicht beim Höchsten, a summo, anfängt, wie alle
andern Religionen, sondern beim Tiefsten, ab imo. Man soll
auf der Jakobsleiter emporsteigen, auf die Gott getreten ist,
deren Fuß die Erde berührt neben dem Haupte Jakobs. Wenn
du etwas für dein eigenes Heil tun oder erwägen willst, so laß
alles andere beiseite, alles Denken an das Gesetz, alle Lehrüberlieferungen
der Philosophie, und lauf eilends zur Krippe und
zum Schoß der Mutter, 6chau ihn, wie er saugt, wie er wächst,
wie er stirbt. So kannst du dann allen Ängsten und Irrtümern
entlaufen, und dieses Bild hält dich auf dem rechten Weg."

Wir halten fest, was dieser Text uns über den Sinngehalt
der Theologie von unten bei Luther bietet. Es geht dabei zunächst
um Christus als den Menschgewordenen. Am Menschgewordenen
aber werden zweitens die Abgründe seiner mensch-

*) Am 8. Dezember 1955 vor der Evangelisch-Theologisdien Fakultät
der Universität Münster gehalten.

Friedrich Karl Schumann in Dankbarkeit und Verehrung

liehen Existenz besonders hervorgehoben, die Krippe und das
Kreuz, die Hilflosigkeit des vom Weib geborenen Säuglings,
und die Schande des am Kreuz hingerichteten Verbrechers. Als
Drittes kommt hinzu die Daseinsnot des Gläubigen, der in seiner
eigenen Hilflosigkeit und Ausweglosigkeit gerade einen solchen
Helfer braucht. Theologie von unten bedeutet also im wesentlichen
diese drei Momente: die Theologie hat einzusetzen
bei Gott, wie er Mensch geworden ist, und zwar Mensch in der
äußersten Erniedrigung, und dies uns Menschen zugut. Nicht
Gott an sich, sondern Gott für uns Menschen, und deshalb er
selbst als Mensch, und zwar als Mensch in der tiefsten Daseinsnot
. Diese drei Momente stehen offensichtlich in innigen Beziehungen
untereinander. Gott und Mensch sind hier in innigster
Lebensgemeinschaft miteinander verbunden, Gott tritt herein in
das Leben, Erleiden und Bewußtsein des Menschen und wird selber
dabei ganz menschlich; und umgekehrt, indem er das tut,
spricht er den Menschen gerade in seiner Menschlichkeit an.
Gott, indem er Mensch wird, und so, wie er es wird, bestimmt
geradezu den Ort, wo die eigentliche Menschlichkeit des Menschen
liegt und zu liegen hat; indem er Mensch in äußerster Erniedrigung
wird, spricht er uns Menschen am Ort unserer eigenen
tiefsten Niedrigkeit an, ruft uns dahin, führt uns dahin,
stellt uns dahin. Mensch und Gott begegnen sich am Ort der
tiefsten menschlichen Niedrigkeit, und eben an diesem Ort
offenbart sich uns Gott wirklich als Gott. Daher gehören zu den
schönsten Stellen, an denen Luther seine Theologie von unten
ausspricht, die Ausführungen am Anfang des Magnificat: „Die-
weil Gott der aller höhest und nichts über ihm ist, mag er nit
über sich sehen, mag auch nit neben sich sehen; dieweii ihm
niemand gleich ist, muß er von Not in sich selbst und unter sich
sehen, und je tiefer jemand unter ihm ist, je baß er ihn siehet"
(W 7, 547, 13-16).

Schließlich weisen wir, als Übergang zu Ritsehl, auf die bekannte
Stelle am Anfang des Großen Katechismus hin, wo Luther
die Frage stellt: „Was heißt ein Gott haben oder was ist ein
Gott? Antwort: Ein Gott heißet das, dazu man sich versehen
eoll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten. Also daß
ein Gott haben nichts anders ist denn ihm von Herzen trauen
und glauben, wie ich oft gesagt habe, daß allein das Trauen und
Glauben des Herzens machet beide, Gott und Abgott. Ist der
Glaube und Vertrauen recht, so ist auch dein Gott recht, und
wiederum wo das Vertrauen falsch und unrecht ist, da ist auch
der rechte Gott nicht. Denn die zwei gehören zuhauf, Glaube
und Gott. Worauf du nu (sag ich) dein Herz hängest und verlassest
, das ist eigentlich dein Gott" (W 30 I 132, 34 - 133, 8).
Offensichtlich redet Luther hier nicht von Gott an sich, sondern
von Gott für uns. Die gegenseitige Beziehung von Gott und
Glaube, Gott und Mensch ist aufs stärkste ausgedrückt. Gott
kann nur von der menschlichen Daseinsnot aus recht ergriffen
und erkannt werden, und nur so, wie er sich uns Menschen als
unser Gott hingibt. Gott und Glaube gehören zuhauf, und
außerhalb dieser lebendigen Verbindung und Beziehung von Gott
reden, Gott erkennen, mit Gott handeln wollen führt auf Abwege
. In unserer heutigen Sprache nennt man das die existen-
zielle Beziehung des Gottesgedankens. Und mit ihr gehört, wie
Ritsehl richtig hervorhebt (III, 202), Gott als der Menschgewor
dene aufs engste zusammen; „denn die Güte und Macht Gottes,
auf welche sich der Glaube verläßt, ist, wie Luther urteilt, nur
durch die Wirksamkeit Christi offenbar".

Linter Berufung auf solche Aussagen Luthers entwickelt
Ritschl seine eigene Theologie von unten, besonders im Bereich
der Christologie. „Jede Wirkung Christi", sagt er, „muß ihren
Maßstab an der geschichtlichen Gestalt seines Lebens finden.
Also muß die Gottheit oder die Weltherrschaft Christi in bestimmten
Zügen seines geschichtlichen Lebens als Attribut seiner zeitlichen
Existenz begriffen werden. Denn was Christus nach seiner