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Ausgabe:

1957 Nr. 9

Spalte:

699-700

Kategorie:

Kirchenfragen der Gegenwart

Autor/Hrsg.:

Benda, Clemens E.

Titel/Untertitel:

Der Mensch im Zeitalter der Lieblosigkeit 1957

Rezensent:

Diesner, Hans-Joachim

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699

Theologische Literaturzeitung 1957 Nr. 9

700

itrsacht wird, das doch hätte vermieden werden sollen und können
; daß es geschieht, weil in solch umwälzenden Kämpfen, in
denen wir leben, Not, Angst und Leidenschaft der Menschen immer
wieder über das Ziel schießen."

Neben den Bericht über den Inhalt eines Buches hat — wenigstens
bei einer Arbeit, wie Emil Fuchs sie uns vorlegt — der Versuch
einer Würdigung zu treten, wobei allerdings betont werden
muß, daß angesichts einer so aufrüttelnden und mahnenden Arbeit
, wie Emil Fuchs sie uns bietet, jede Wertung den ihr nun
einmal anhaftenden subjektiven Zug grell in die Erscheinung treten
läßt.

Für den Rezensenten ist das Ergreifende an beiden Büchern
des Leipziger Systematikers die geistige Gestalt des Menschen
Emil Fuchs, die sich hinter allen Darlegungen und Forderungen
markant emporreckt. Hier spricht ein Verfasser, der die Not der
Industrie-Arbeiterschaft, wie er sie in seiner Jugend gesehen hat,
innerlich so stark miterlebt hat, wie nur wenige das vermocht haben
. Immer wieder spürt man ihm den tiefen Schmerz darüber an,
daß die evangelische Kirche diese Not so spät, zu spät verstanden
hat. Mit starker innerer Bewegung schaut man auf den Christen,
der sich — trotz allem! — die Zuversicht nicht nehmen läßt, daß
man sich eines Tages in den Reihen der Marxisten — erschüttert
und überwunden — doch noch vor dem beugen wird, der aller Geschichte
Herr ist, daß der Kampf gegen Gott nur ein Umweg sein
wird zu besserer Einsicht, zur Heimkehr. „Wir sind gewiß", so
heißt es in „Christentum und Marxismus", Seite 212, „daß wir
(Christen) Kräfte in diesem (unserem) Glauben empfangen und
weiterzutragen haben, die auf die Dauer nicht entbehrt werden
können."

Greifswald E. Jenssen

B e n d a, ^Clemens E.: Der Mensch im Zeitalter der Lieblosigkeit.

Stuttgart: Steingrüben Verlag [1956]. 350 S. 8°. DM 12.80; Lw.
DM 14.80.

Das Werk des in den USA wirkenden Verfassers sucht in
einer vielschichtigen und tiefschürfenden Untersuchung, die mit
den Methoden der Psychologie, aber auch der Religionsforschung
und der Kulturkritik arbeitet, die Situation des .heutigen Menschen
' zu erfassen, um zugleich mit der Erkenntnis neue Wege zu
weisen. Schon die umfangreiche Vorrede führt in brennende Zeitprobleme
wie Evolution, Fortschritt, Frustration hinein. Der
Ganzheitsauffassung des Verf.s entsprechend werden dann in
10 Kapiteln (Liebe und Sexualität, Das Spektrum der Gefühle,
Das Unbewußte, Bewußtsein und Sprache, Die Macht des Wortes,
Das Weltbild des modernen Menschen und die Naturwissenschaften
, Krankheit und Schicksal, Selbst und Selbsterfüllung, Von der
Freiheit des Willens, Vom Glauben im Zeitalter der Lieblosigkeit
) die Aktions- und Reaktionsmöglichkeiten des Menschen in
umfassender Schau dargestellt. Wertvoll, wenn auch im einzelnen
immer angreifbar, ist die scharfe, aber doch .verstehende' Kritik
sowohl am Einzelmenschen als auch an den großen geistigen Bewegungen
, an den Institutionen, Kirchen und .neuen politischen
Weltreligionen' (S. 66, S. 290). All diese Gesellschaftsformen
sind nach B. einer totalen Säkularisierung verfallen und behindern
natürlich, da sie weitgehend sogar die persönliche Freiheit
und das Recht des einzelnen, eigene Überzeugungen zu haben,
beschneiden, die von B. erhobene Forderung nach .Wiederbelebung
eines emotionalen Klimas und einer geistigen Wertorientierung
' (S. 63); denn „das Problem der Liebe hängt in der abendländischen
Welt in seinen letzten Voraussetzungen von der Bedeutung
und Würde ab, die dem Individuum zugestanden werden
". Auch der Historiker wird m. E. an dieser Formulierung Anstoß
nehmen müssen, denn 1) wozu und weshalb die leidige Einengung
auf die abendländische Welt mit ihren in jeder Hinsicht
zweifelhaften Grenzen? 2) Wie verträgt sich diese Feststellung
(und Forderung!) des christlich orientierten Verfassers (er ist
selbst als Professor für Psychiatrie an der Theologischen Fakultät
der Universität Boston tätig) mit den Forderungen Christi
selbst? Hier bleiben mindestens Fragen offen, die der an ein so
umfangreiches Thema gebundene Forscher ausführlicher hätte zu
klären suchen müssen. Es ergibt sich auch von da aus, m. E. sogar
zwingend, eine Kritik an der Themastellung als solcher. Denn
wieso eigentlich Zeitalter der Lieblosigkeit? Ich gehe gewiß nicht
an den sehr packenden und weitgehend gut fundierten Analysen
unserer Zeit vorbei, die B. gibt und weitgehend gewissermaßen
zu einer .psychischen Zeitgeschichte' ausbaut. Im einzelnen muß
man ihm wohl fast immer folgen, es gibt Beispiele für jeden der
aufgeführten Komplexe, Abnormitäten usw.

Damit aber ist die Häufigkeit oder gar .Allgemeinheit' dieser
Erscheinungen noch nicht bewiesen. Vor allem aber taucht die
Frage auf, ob nicht auch frühere Zeitalter solche der .Lieblosigkeit
' gewesen sind? Für den .heidnischen' Teil der Weltgeschichte
wird man die Frage doch auf jeden Fall bejahen müssen und hätte
dabei jedenfalls den Rückhalt an solchen .Kronzeugen' wie
Euripides, Thukydides, Sallust oder Tacitus — um nur eine kleine
Auswahl zu nennen; aber selbst für die .christlichen' Perioden
wird man das häufige Überwiegen der .Lieblosigkeit' nicht übersehen
können. So bringt auch nicht erst das 19. und 20. Jahrhundert
, wie B. offenkundig glaubt, die schwerwiegende Entwertung
der Persönlichkeit, von der für ihn offenbar alles abhängt.
Im Grunde ist eine solche entwertende Tendenz seit jeher vorhanden
, wenn sie heute auch durch die von B. scharf erfaßten
Antriebe stärker zur Geltung kommen mag als früher: die Vermassung
und der Zwang totalitärer Bestrebungen sind natürlich
nicht zu übersehen. Daß unter diesen Antrieben sämtliche echten
zwischenmenschlichen Beziehungen und Möglichkeiten — die B.
in gründlicher Auseinandersetzung mit Freud der vereinseitigenden
sexualpsychologischen Betrachtungsweise entreißt — leiden,
ist verständlich. Doch auch früher wurden, teilweise unter anderen
Einflüssen, die natürlichen Lebensgemeinschaften und -be-
ziehungen immer wieder gestört, und es kam offenbar häufig zu
ähnlichen psychischen Reaktionen wie heute; das damalige Fehlen
entsprechender Untersuchungsmethoden nur verwehrt uns im
wesentlichen die Einblicke in die Ähnlichkeit der Zustände und
Verhältnisse.

Zuzugeben ist B. allerdings wohl, daß bestimmte Phänomene
und Beziehungsforme'n wie Vereinzelung, Rivalität, Rekordsucht
realiter, auch kraft des häufigeren Auftauchens, eine größere
Rolle spielen als früher; vielleicht auch, daß bestimmte psychische
und soziale Typen wie ,der Verstörte' oder ,der Störenfried',
ganz zu schweigen von dem oft in führenden Positionen antreffbaren
.Gefühlsblinden' (S. 90), mehr hervortreten. Aus diesen
vielfach richtig erkannten Einzelzügen speziell für die Jetztzeit
als besonderes Charakteristikum einen .positiven Zustand der
Gefühlskälte, Rücksichtslosigkeit, Feindseligkeit und des Argwohns
' (S. 328) herauszulesen, scheint mir aber zu weit zu gehen
, so richtunggebend der abschließende Hinweis des Verfassers
auf die .ewigen' Werte gerade für uns Menschen des Atomzeitalters
sein muß. —

Halle/Saale Hans-Joachim D ics ne r

Herme link, Jan: Die Kirche innerhalb der gegenwärtigen Weltlage
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