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Ausgabe:

1957 Nr. 9

Spalte:

698-699

Kategorie:

Kirchenfragen der Gegenwart

Autor/Hrsg.:

Fuchs, Emil

Titel/Untertitel:

Marxismus und Christentum 1957

Rezensent:

Jenssen, Erich

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697

Theologische Literaturzeitung 1957 Nr. 9

698

Ein System vorzulegen lehnt Marcel ab, weil es dem Wesen
existentiellen Denkens zuwider sei. Die dem Darsteller daraus
erwachsenden Schwierigkeiten erfordern ein großes Maß an weiterführendem
Mitdenken, an dem es Hoefeld nicht fehlen ließ.

Das zentrale Verständnis Marcels erschließt 6ich am schnellsten
von seiner Feindschaft gegen die Vernunft her, gegen alles
abstrakte Denken, das nicht das Leben, sondern nur dessen Hülsen
erfassen könne. Über die Ratio hinweg ginge der Weg zum
prälogischen Denken, das statt von der Vernunft von Emotionen
geleitet sei und zurPartizipation amLeben in Gott in Glaube, Liebe,
Hoffnung führe. Gott als die Tiefe der Wirklichkeit wird in der
Hingabe erfaßt, der das Ergriffenwerden korrespondiert. Auf dem
Grunde dieser Philosophie, die — wie Hoefeld mit Recht betont —
mit Theologie identisch ist, ruht die Mystik, wie — theologiegeschichtlich
gesehen — diese Existenzphilosophie eine erneuerte
Form der Erweckungstheologie ist. Die Objektivität der Glaubensaussagen
wird verneint und als Versuchung der Christenheit abgewehrt
, die Subjektivität der gläubigen Existenz leidenschaftlich
vertreten. Soweit von einer denkerischen Funktion geredet wird,
wird sie als prophetische Funktion bezeichnet.

Zur existentialen Ontologie, die aus dem prälogischen Partizipieren
am Sein folgt, wird die Bemerkung Hoefelds interessieren
, daß sie mit Anschauungen des prälogischen Menschen
zusammenginge; Marcel bediene sich bewußt oder unbewußt der
gleichen Begriffe wie Levy-Bruel (Partizipation = mystische Teilhabe
; Inkarnation = Situation der fundamentalen Gebundenheit
an den Körper u. a.). Marcel hat auch gelegentlich den Gedanken
geäußert, daß durch die Struktur des Subjekts, wie sie sich in der
Intersubjektivität zeige, auch sogenannte okkulte Erfahrungen
6ich erklärten.

Die Kritik Hoefelds an Marcel richtet sich zunächst auf die
Bedeutung des Denkens, das nicht in der Subjektivität aufginge,
sondern einen objektiven Erkenntnisanspruch stelle; das Ergreifen
der Wirklichkeit geschähe im Zusammenwirken von emotionalen
und kognitiven Funktionen; die Ratio begleite vorgängig,
nebengängig und rückgängig die Erlebnisse. Theologisch müsse
betont werden, daß Marcel nicht vermöge, der historischen Gestalt
Jesu, der Bibel als Kanon und der dogmatischen Aussage
gerecht zu werden. Da der Weg nie zu einer starren Orthodoxie
zurückführen darf, da andererseits Schwärmertum abzuweisen ist,
umkreisen die letzten Seiten sinnvoller Weise das Problem der
Schriftauslegung. „Was die Offenbarung vermitteln will, ist nicht
vor allem ein Wissen, sondern eine Begegnung mit der offenbar
gewordenen Wirklichkeit Gottes" (165). Fruchtbare Hinweise auf
Repetitiound Imitatio — auch im Kultus! — als Mittel der Vergegenwärtigung
des Offenbarungsgeschehens runden hier die
Gedanken ab.

Noch ein Wort zum Katholiken Marcel! Die auffallend
vielen Konversionen im Renouveau catholique kamen — soweit
wir sehen können — in erster Linie unter dem Einfluß des erneuerten
Thomismus zustande (Rai6sa Maritain, Die großen
Freundschaften, 1945). Man wird sagen müssen, daß Marcel ein
Antipode des Thomismus sei. Durch welche Fäden wird seine Konversion
mit der seiner ungleichen Brüder verbunden sein? Wir
möchten sie aus einem Wort Claudels an Gide verstehen (Paul
Claudel - Andre Gide, Briefwechsel, 1952, S. 220): „Das Evangelium
ist die Erinnerung an einen Toten, die Kirche ist die Wohnung
eines Lebenden, der fortfährt an allem teilzunehmen, was
uns im Leben widerfährt. Sie blicken zurück zu einem historischen
Christus, und wir atmen einen ununterbrochenen Christus." Das
interkonfessionelle Gespräch müßte sich demnach der Lehre von
der Trinität zuwenden, um den Einseitigkeiten der Geistanschauung
zu begegnen, die aus der katholischen Kirchenlehre neutho-
mistischer Observanz wie aus der christlichen Existenzphilosophie
Marcels drohen.

Das Buch Hoefelds ist mit großer Klarheit und Anschaulichkeit
geschrieben, 60 daß der Leser von jeder Seite gefesselt wird.
Wie der Verf. im Vorwort bekennt, weiß er sich der Marburger
theologischen Fakultät besonders verpflichtet, in ihr am meisten
Theodor Siegfried.

Rostode G. Hol tz

Fuchs, Emil: Marxismus und Christentum. Leipzig: Koehler & Arne-
lang 1952. 215 S. kl. 8°. DM 4.50.

— Christliche und marxistische Ethik, Lebenshaltung und Lebensverantwortung
des Christen im Zeitalter des werdenden Sozialismus. I.
Leipzig: Koehler & Amelang 1956. 186 S. kl. 8°. Hlw. DM 4.80,

Das erste der beiden Bücher hat bereits die dritte Auflage
erlebt (doch hat dem Rezensenten nur die erste vorgelegen), ein
Beweis dafür, daß die Arbeit weithin Interesse gefunden hat. Auch
an Kritik hat es dem Werke nicht gefehlt; das wird ja wohl immer
so sein, wenn ein Verfasser wirklich etwas zu sagen hat. Es
könnte nun so scheinen, als ob nach so viel Anerkennung und
so viel Kritik eine Besprechung nicht mehr recht am Platze sei,
aber das Erscheinen des zweiten Werkes, der christlichen und marxistischen
Ethik, fordert doch dazu heraus, beide Bücher zugleich
ins Auge zu fassen, ergänzen 6ie sich doch in wirkungsvoller
Weise.

Für die Anlage beider Bücher gilt, was der Verfasser im Vorwort
der „Ethik" sagt: „So stehen wissenschaftliche Untersuchung
und Auseinandersetzung wohl hinter diesem Buche. Aber nicht
diese will es geben. Es erstrebt auch nicht Beweisführung. Die
Einzelheiten, die angeführt werden, sollen nicht beweisen. Sie
sollen das Gesamtbild deutlich erscheinen lassen. Das Aufleuchten
der Ganzheit soll die Wahrheit zeigen" (Seite 8).

In beiden Werken findet sich ein Rückblick auf die Geschichte
des Christentums; er will aus dem Werden das Wesen darlegen.
Im ersten beginnt dieser Rückblick mit Luther und hebt mit be-
S0°deK[ Liebe die Gestalten Johann Hinrich Wicherns und Fried-
W manns hervor; im zweiten faßt der Autor den gesamten
fi as ^Cr Gemeinde Jesu Christi" ins Auge. In dieser Rückschau
finden sich meisterliche kleine Kabinett-Stücke historischer Schilderung
. Als Beispiel seien hier angeführt die wenigen trefflichen
feilen, in denen Lehre und Haltung Epikurs umrissen werden.
Der Rezensent erinnert sich nicht, je eine so meisterhafte Skizze
dieser oft verkannten Lebens-Anschauung gefunden zu haben.
„Epikur wollte dem einzelnen zeigen, wie er seinem Leben einen
reinen, zarten, beglückenden Sinn geben könne, wenn er sich von
allem Forderndem und Verpflichtendem abwende und diese weite,
wilde Gemeinschaft des Menschseins sich selbst überlasse. In seinem
individuellen Leben sollte der Mensch alles zusammensuchen
und gestaltend zusammenfügen, was schön, angenehm, gütig, entzuckend
ist; er sollte sich darin zu einer tiefen genießenden Ruhe
erziehen und so eine Lebens-Geschlossenheit finden, die den Tod
hinnehmen kann als das Notwendige ..."

Derartige Kabinett-Stücke historischer Kunst finden sich des
°^eren; selbstverständlich wird ein Leser mit anderer geschichtlicher
Sicht den historischen Darlegungen in beiden Büchern nicht
immer zustimmen mögen, immer aber wird er seine Freude haben
an der geschickten Darstellung.

Der geschichtliche Überblick über den Weg der Gemeinde
schließt mit der Feststellung, daß das evangelische Glaubensleben,
die evangelische Theologie und die evangelischen Kirchen in ihrer
Eigenschaft als Landeskirche sich allzu eng mit den Ansprüchen
der bürgerlichen Gesellschaft verknüpft hätten und heute, da
na<h Ansicht des Verfassers die bürgerliche Welt in Zerfall sei,
sich nur schwer in die neue Welt des Sozialismus einfügen könnten
.

Der Marxismus wird geschildert nach den Schriften seiner
beiden Klassiker: Marx und Engels. Auch hier bewundert man
Kürze und Klarheit der Darstellung. Die Brücke nun, die Christenglauben
und Marxismus verbindet, sieht Fuchs darin, daß beide
mit Nachdruck die Forderung stellen, dem Mitmenschen, dem
Nächsten, zunächst gerecht zu werden, darüber hinaus ihm gütiges
Verstehen zu schenken und schließlich seine Last mitzutragen
. Die „Ethik" bringt darüber hinaus eine ergreifende Schilderung
der Vermassung, die über die Menschheit gekommen ist,
und weist darauf hin, daß „evangelischer Glaube Inseln geschaffen
hat in einem Meer von Vermassung" (Ethik, Seite 146).

Dabei ist der Verfasser nicht blind dafür, daß die durch den
Marxismus ausgelöste Bewegung sich von vornherein von schwerer
Schuld nicht frei gehalten hat. In „Marxismus und Christentum
" heißt es (1. Auflage, Seite 122/123): „Wir müssen auch wissen
, daß oft sehr bitteres Unrecht getan und sehr viel Leiden ver-