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Ausgabe:

1957 Nr. 8

Spalte:

622-624

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Tillich, Paul

Titel/Untertitel:

Systematische Theologie; Bd. I 1957

Rezensent:

Schmidt, Erik

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Theologische Literaturzeitung 1957 Nr. 8

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nicht zum Ausdruck. Es ist die Einschränkung auf den Katholizismus
. Zwar wird auch sie, von einem Meister der Methode gehandhabt
, ein Element der Konkretion bedeuten. Aber der Katholizismus
ist ja soziologisch eine Besonderheit. Das in ihm
sehr stark ausgeprägte institutionelle Element bringt an sich
lokale Unterschiede wenig zum Ausdruck und umgekehrt kommt
dank des institutionellen Charakters der Religion das religiöse
Leben unmittelbar in einer „Praktik" zum Ausdruck und diese
ist statistisch meßbar. Die „Innerlichkeit" der Protestanten, aber
auch der Jansenisten ist demgegenüber schweigsam und vieldeutig
. Nun hat doch der sich dem Soziologen verhältnismäßig leicht
erschließende Katholizismus auf französischem Boden wieder
seine eigenen Probleme, die sich aus der bewegten Geschichte des
religiösen Gefühles in Frankreich ergeben: Steigerungen, Ver-
innerlichungen und Phasen der Auflehnung bis zur radikalen
Verneinung. Um das zu erfassen, öffnet der Verf. mehrfach die
geschichtliche Dimension für den Blick, stets in lokaler Begrenzung
und unter Aufgebot von Aktenmaterial, das er den Schränken
bischöflicher Archive entnehmen konnte und ebenso mit
historischem Feingefühl wie mit Heiterkeit zu deuten vermag.

Der Titel „Etudes" bedeutet allerdings, daß der Leser eine
gewisse Uneinheitlichkeit des Buches in Kauf nehmen muß. Es
sind nämlich hier Aufsätze der verschiedensten Art und unterschiedlicher
soziologischer Thematik, alle früher schon veröffentlicht
, gesammelt und zu dem schon in den Untertiteln angedeuteten
Gedankengang geordnet. Die Nachteile liegen auf der
Hand. Sie liegen in den unvermeidlichen Wiederholungen beschlossen
, in dem Wiederabdruck älterer und oft sehr zeitgebundener
Arbeiten, z. B. über den Katholizismus in Deutschland,
der die unmittelbare Nachkriegssituation schildert, oder die Betrachtung
über die milieux modernes, die wiederum die soziologischen
Folgen der Umsiedlungen nach dem 2. Weltkrieg schildert
, ohne doch schon ein abschließendes Bild geben zu können,
was auf Jahre hinaus noch nicht möglich sein wird. So stehen
Artikel von grundsätzlicher Bedeutung neben vergleichsweise
ephemeren Betrachtungen, und der 6tets erneute Ansatz der Betrachtung
hat zur Folge, daß viel Programmatisches neben Essais
steht, die nicht zu Ende gebracht sind.

Ich möchte mit dieser Feststellung nicht mißverstanden
werden. Ich rühre mit dem Gesagten gerade an das Reizvolle des
Buches. Die Fülle der Gegenstände wie der Betrachtung ist außerordentlich
. Ich kann hier freilich nur einige Früchte der Lektüre
notieren, um den Inhalt anzudeuten. Im Zusammenhang mit dem
weithin statistischen Verfahren finden sich vorzügliche und geistvolle
Erwägungen über die Ergiebigkeit der Statistik. Einige Diözesen
werden historisch untersucht, wobei jeweils ganz verschiedene
Zeiten herausgegriffen werden: Auxerre unter den Mero-
vingern und unter Louis XIV, Rouen unter dem Episkopat von
Colbert, Chalons s. M. im letzten Jahrhundert des ancien regime
, und Orleans unter dem 2. Kaiserreich. Vorzüglich die Analyse
des religiösen Lebens in der Bretagne, ein Musterbeispiel
für die Entkräftung der idees courantes als „sommaires et
illusoires": „II y a toujours eu en Bretagne coexistence des cro-
yances primitives, du catholicisme orthodoxe, d'oppositions ä
l'Eglise". Wie sehr Frankreich ein Land starker Gegensätze gerade
auf religiösem Gebiete ist, das kommt in dem Werk sehr
anschaulich heraus, gerade weil die Mitwirkung der Epochen der
französischen Geschichte ins Licht tritt. „La III*3 Republique
marque l'etape d'un grand reeul et d'un grand reveil du catholicisme
. Mesurer ces deux puissances d'opposition et d'adhesion,
c'est decouvrir sagement des forces irreductibles de la France"
(S. 301). Ich hebe aus der Fülle anregender Gesichtspunkte heraus
die schon rein methodisch sehr interessanten Beiträge zur
Religionsgeographie, die sich in 2 instruktiven Karten anschaulich
verdichtet haben. Die Gliederung der religiösen Gemeinschaften
, die Beteiligung der Berufsgruppen, besonders aber der
Geschlechter am kirchlichen Leben wird einer interessanten, ja
dank des statistischen Materials geradezu schonungslosen Beleuchtung
unterworfen.

Natürlich bleibt ein sich durch viele Beiträge hindurchziehendes
geheimes Thema die Unkirchlichkeit! Ein Rätsel, gerade
wenn man sich eine Serie naheliegender Motive vergegenwärtigt.

Woher kommt diese Unkirchlichkeit? Wo liegen ihre Wurzeln?
Im Volkscharakter? In der den Menschen umgebenden Natur?
„Un Lozerien transplante sur les doux coteaux du Loir n'aequiert-
il pas une Vision nouvelle des royaumes de Dieux? Dans un pays
de brumes ou de neiges, l'eglise est un refuge; une terre ingrate
et dure peut donner ä l'homme le desir du ciel. Tandis qu'une
belle lumiere, des jardins plantureux, le dispendent mieux des
retraites et des supplications" (S. 370). Auch soziale und politische
Gefühle, nicht zuletzt die Zerstörung guter Traditionen
durch geschichtliche Erschütterungen spielen eine Rolle bei der
Entstehung und Verfestigung der „Irreligion", einer Erscheinung,
die man geradezu auf der Landkarte einzeichnen kann. „Au re-
bours des regions fideles, oü l'on s'efforce d'animer la devotion,
ces regions infideles tendent au non-conformisme saisonnier. Et
elles offrent des fissures, qui s'elargissent, de paganisme integral"
(S. 256). In diesem Zusammenhang verdient die Anregung des
Verf.s hohe Beachtung: „il nous faut une Classification des for-
mes et une 60ciologie de l'irreligion" (S. 814).

So ist es allenthalben gerade die Verflechtung von strenger
wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit und der lockeren Form des
Essai, die Anregung und das Unvollendete, die Verbindung von
Sorgfalt und huschendem Esprit, was diesem großen Werk seinen
Wert und eine ebenso anziehende wie befruchtende Kraft verleiht
. Der Verf., der uns die Fortsetzung seiner Arbeit in einem
3- Bande in Aussicht stellt, kennt seine Arbeit gerade auch in
der geschilderten Hinsicht. Diese Ansätze alle ausgeführt — so
gesteht Le Bras gelegentlich — das würde ein wahres Wunder ergeben
, von dem alle Wissenschaften profitieren würden, besonders
„la Pastorale, dont l'ideal est de transformer l'ßglise militante
en Eglise triomphante: la plus merveilleuse des palin-
genesies que puisse rever un sociologue" (S. 706).

Göttingen W. Trillhaas

DOGMATIH

Tillich, Paul: Systematische Theologie. Bd. I. Stuttgart: Evangelisches
Verlagswerk [1955], 352 S. 8°. DM 19.30; Lw. DM 22.50.

Der vorliegende erste Band der Systematischen Theologie
• Ts. ist die deutsche Übersetzung der amerikanischen Ausgabe
vom Jahre 1951. Er enthält die Einleitung und zwei Teile. Der
zweite Band, der gleichzeitig in England und in Deutschland erscheinen
soll, wird weitere 3 Teile enthalten.

Die Anzeige dieses Werkes ist für den Rez. eine große
rreude. T. krönt hier seine Lebensarbeit mit einem Werk, das
zweifellos zu den bedeutendsten systematischen Arbeiten der
letzten Jahrzehnte überhaupt gehört. Das Buch ist kein Lehrbuch
der Dogmatik, sondern wirklich ein theologisches System.
1 • ist bekannt als ein tief bohrender Dialektiker. Obwohl sein
Stil flüssig, schlicht und klar ist, macht er es dem Leser nicht
leidit, sondern fordert konzentriertes Mitdenken. Obwohl T.
die Probleme und den historischen Stoff oft nur andeutet, breitet
er gerade deshalb vor dem Leser eine Fülle geistigen Gehaltes
aus, die er souverän beherrscht. — In der Einleitung umreißt T.
seinen theologischen Standpunkt, untersucht das Wesen der systematischen
Theologie und ihr Verhältnis zur Philosophie, die
Quellen, die Norm, den Charakter und die Methode seines
Systems. Der erste Teil bietet unter dem Titel „Vernunft und
Offenbarung" die Erkenntnistheorie des Verf. Der zweite Teil
gibt unter dem Titel „Das Sein und Gott" die Lehre vom endlichen
Sein in seinem Verhältnis zur Idee und zur Wirklichkeit
Gottes.

Seinen theologischen Standpunkt kennzeichnet T. als apologetischen
. Er lehnt Biblizismus, Pietismus, alte und neue Orthodoxie
, Liberalismus, Bewußtseinstheologie und kerygmatische
Theologie ab. Der Biblizismus mißachtet die notwendige philosophische
Begriffsbildung (29) und verkennt die Bedeutung der
theologischen Entwicklung (47). Der Pietismus identifiziert die
theologische Existenz mit der Erfahrung der Wiedergeburt (18).
Die Orthodoxie verwechselt die ewige Wahrheit mit ihren zeitlichen
Ausformungen (9), verkennt die Endlichkeit aller theologischen
Aussagen (65), hat daher einen „dämonischen" und „do-