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Ausgabe:

1957 Nr. 8

Spalte:

619-620

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hessen, Johannes

Titel/Untertitel:

Der Sinn des Lebens 1957

Rezensent:

Hupfeld, Renatus

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619

Theologische Literaturzeitung 1957 Nr. 8

620

ungelöstes Problem aufgegeben. Vielleicht ist es das Gefühl
dafür, daß die Welt der Mystik bei Brunner merkwürdig kurz
wegkommt. - Und doch weiß auch das Neue Testament von dem
<pcö<; djiQÖaaov des ftsds äÖQcnos zu sagen.

In den beiden Schlußkapiteln 16. 17 verdichtet sich die
Systematik zu einer Kritik aller Religion, die gerade an den
Höhenlagen und Höchsterscheinungen ein letztes Versagen zeigt,
in den mittleren Lagen jene Anfälligkeit gegen dämonische Verzerrungen
, mindestens eine Neigung zur Entpersonalisierung und
Naturalisierung aufweist, ein Aufgeschlossensein für alles Neue,
numinos Reizende, wie zugleich eine Verehrung für Altüberkommenes
fraglicher Art — Überlieferung sonst ein Wesensmoment
aller Frömmigkeit, ohne das die Neuentdecker (bei primitiven
wie Hochreligionen) keinen Boden hätten — doch nun fehlt
die Kraft des Abstoßens. Doch gibt es (359) auch eine gute,
fruchtbare Kraft der Inklusive („guten" (?) gegen „schlechten"
Synkretismus).

Kap. 16: Die Wahrheit der Gotteserkenntnis. Bedeutsam
ist hier, daß nicht die „Gottesbeweise" Träger des Schlußsteins
sind (sie können höchstens ein „Mindestmaß" sichern — so (57)
schon Bonaventura: Gott bedarf keines Beweises). Als Träger der
Gotteserkenntnis hat vielmehr der G 1 a u b e zu gelten, der schon
dem Mitmenschen gegenüber die persönliche Begegnung vermittelt
(konkret-synthetisches Denken gegen griechische wie modernnaturwissenschaftliche
Analytik). Die systematische Grundlage
hiefür ist der „theologisch - philosophischen" Darlegung „Glaube
und Erkenntnis" entnommen (München, Kösel 1951). Wie dem
Mitmenschen, so ist Gott gegenüber personales Erkennen nicht
ohne das Moment der Anerkennung möglich (dort 126 f. 157),
die hier zu völliger Auslieferung an sein Herr-Sein führen muß.
das in Christus sich als vollkommene Treue enthüllt — hier werden
alle metaphysischen Begriffe von Gott (vgl. Rel. 103 zu Sche-
ler) zu personalen umgewandelt (Rel. 364). Kann hier — alle
vor ihm seit Augustin in hohen Ehren — ein Luther unerwähnt
bleiben? (Vgl. auch Rel. 103. 110 f. 381 ff. zu Gesetz und Gnade.)

Ein „theologisches Nachwort" Kap. 17: „Das entstellte Antlitz
der Liebe" führt an und über die Grenze des Philosophischen
zu einem Lobpreis des Geheimnisses der innergöttlich-trinitari-
6chen Liebe, die im Sichopfern ihr Geheimnis offenbart, die Vielheit
der geschöpflichen Dinge zur Einheit der Liebe, die ganze
Schöpfung mit Einschluß alles Leiblichen und Stofflichen zur ewigen
Kultfeier der Geheimen Offenbarung vollendet, wovon die
Gemeinschaft I. Joh. 4, 7 f.; Matth. 25, 40 — gegen 45 — der
volle Heilsbesitz jetzt schon 6ein darf.

Corrigendum: S. 281. Z. 11 v.o.: Staat 6tatt: Symposion. Zur
Lit.: G. van der Lecuw, Phänomenologie der Religion. 2., erweiterte
Auflage 19 56.

Kilchberg über Tübingen R.Paulus

Hessen, Johannes, Prof. D. Dr.: Der Sinn des Lebens. 4. Aufl.
Münster: Aschendorff [1955]. 158 S. 89. Kart. DM 6.-; Lw. 7.50.

Man könnte meinen, daß eine Besprechung eines Buches,
das, ursprünglich 1932 erschienen, jetzt in 4. Auflage herausgebracht
wird, und das in mehrere Fremdsprachen übersetzt ist,
überflüssig ist. Es scheint durchaus den heutigen Erfordernissen
zu entsprechen und hat sich ja offensichtlich seine Leserschaft erworben
. Ohne Zweifel kann man auch sagen, daß es ein schönes
und reiches Buch ist, für das man seinem Verfasser nur dankbar
6ein kann: es steht sehr viel darin, wovon man nur wünschen
möchte, daß es nicht nur gelesen, sondern gelebt würde.

Trotzdem kann ich einige Bemerkungen nicht unterdrücken.
Mir scheint doch zweifelhaft zu sein, ob man ein vor dem zweiten
Weltkrieg geschriebenes Buch heute noch unverändert abdrucken
kann. Auch schon damals hätte man allen Grund gehabt,
dem merkwürdig optimistisch gearteten christlichen Idealismus
des Verfassers zu opponieren. Ich meine aber, jetzt sei dieser
Fortschrittsglaube, dieser Glaube an den so leicht zu „vergeistigenden
" Menschen nicht mehr „glaubhaft". Die Gedanken des
Verfassers können ihren platonisch-neuplatonisch-katholisch-mystischen
Ursprung nicht verleugnen. Zu einem Aufstieg vom Natürlichen
zum Geistigen, zum Sittlichen, zum Werthaften, zum
Göttlichen möchte der Verfasser den Leser ermuntern, wobei die

Fähigkeit, aus den unversehrten Kräften des Willens sich frei zur
Geistigkeit, zum Guten zu bestimmen, als dem Menschen geblieben
vorausgesetzt wird. Das alles vollzieht sich relativ glatt und
einfach; sehr viele Kapitel des Buches schließen mit einem Imperativ
: „Werde ein wertvoller Mensch, ein im ethischen Sinn
des Worts wertvoller Mensch, ein in der heiligen Tiefe des Lebens
wurzelnder gottverbundener und gotterfüllter Mensch."
Freilich verschließt sich der Verfasser nicht die Augen vor der
Dämonisierung des Lebens dadurch, daß der Mensch sich auf
Lust, auf Geld oder Genuß etc. festlegt. Die Beschäftigung mit
Augustin vor allem hat dem Verfasser die Augen für die Tiefen
der Sünde geöffnet. Aber Reue und Gebet, Einübung der Tugenden
der Ehrfurcht, Demut und Liebe können doch des Menschen
Seele in die Höhe wachsen lassen, wobei auf dem Gebiet des leiblichen
Lebens auch fleischlose Nahrung und Alkoholabstinenz
wirksame Hilfen sind. Von da aus wird auch in sympathischer,
aber viele heute uns bedrängende Fragen ausklammernder Weise
über die Probleme des geschlechtlichen Lebens gesprochen, und
auch sehr positiv zum Sozialismus und Pazifismus Stellung bezogen
. Im Lichte der Frohbotschaft Jesu betrachtet, wird das so
zustandekommende neue Menschentum als „Gotteskindschaft"
bezeichnet, wobei es deutlich wird, daß eben jener Aufschwung
der Seele im Gebet darin zum Abschluß kommt, daß man ahnt,
daß die Welt von der ewigen Liebe Gottes umschlossen ist. Bezeichnend
ist, daß das Buch in einem Wort Goethes ausklingt:
„Ich glaube, daß wir einen Funken jenes ewigen Lichtes in uns
tragen, das im Grunde alles Seins leuchten muß und welches unsere
schwachen Sinne nur von ferne ahnen können. Diesen Funken
zur Flamme werden zu lassen und das Göttliche in uns zu
verwirklichen, ist unsere höchste Pflicht."

Es ist deutlich, daß jene mystisch - idealisierende Linie,
die in Plato einsetzt, im Neuplatonismus und der deutschen Mystik
sich fortspinnt und in den deutschen Idealismus und die deutschen
Klassiker ausmündet, d. h. in Kant und Goethe, hier Pate
gestanden hat: Aufschwung der Seele zum Göttlichen, Vergeistigung
, heiliger Eros, — das ist sicherlich auch heute noch für viele
„Gebildete" unserer Tage eine vertraute Sprache, sehr ähnlich
der „Geheimreligion der Gebildeten", von der man vor dem ersten
Weltkrieg viel redete.

Aber wird man damit der heutigen Problemlage gerecht?
„Sinn des Lebens" — welche vom Verfasser gar nicht angerührten
bedrängenden Probleme werden bei diesem Wort heute wach!
Angesichts dessen, daß sich der Mensch selbst als im höchsten
Maße Werte zerstörendes Wesen geoffenbart hat, das sich gerade
eben nicht als fähig erweist, mit den Kräften, die es in sich trägt,
wirklich ein sinnvolles Leben zu gestalten, müßte doch die Frage
zumindest aufgeworfen werden: ist vielleicht der Mensch gerade
durch den optimistischen Idealismus, mit dem er an sich selbst
und seine Güte glaubte, für sich selbst und für die Wirklichkeit
der Welt blind geworden? Freilich müßte dann wohl auch ganz:
anders nicht nur vom Menschen, sondern auch von Gott und von
Christus gesprochen werden! Die Welt ist doch eben sehr viel
beunruhigender geworden. Deshalb müssen vielleicht auch beunruhigendere
Bücher geschrieben werden, um den Blick für diese
Welt zu öffnen und Wege zu ihrer Bewältigung zu ertasten.

Heidelberg R. Hup fei d

RELIGIONSSOZIOLOGIE

Le B r a s, Gabriel, Prof.: Etudes de Sociologie religieuse. I.: Socio-
logie de la Pratique religieuse dans los campagnes Francai6es. II.:
De la morphologic ä la typologie. Paris: Presses univereitaires de
France 1955/56. XIX, 819 S. gr. 8° = Bibliotheque de Sociologie
contemporaine. Je ffr. 1.500.

Der Verfasser ist Professor der Religionssoziologie an der
Ecole pratique des Hautes Krudes in Paris. Der Titel wenigstens
des I. Bandes läßt eine wichtige Beschränkung der Zielsetzung erkennen
: die Beschränkung auf Frankreich und hier wieder wesentlich
auf die ländlichen Bezirke. Jede Annäherung an das Konkrete
, die mit einer solchen sachlichen Bescheidung Hand in
Hand geht, läßt sofort einen Gewinn für den Leser erhoffen. Eine
zweite Beschränkung der Zielsetzung freilich kommt im Titel