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Ausgabe:

1957 Nr. 8

Spalte:

617-619

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Brunner, August

Titel/Untertitel:

Die Religion 1957

Rezensent:

Paulus, Rudolf

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Theologische Literaturzeitung 1957 Nr. 8

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klare Gliederung derselben erworben hat. W.s Einteilung geschieht
nach systematischen wie historischen Gesichtspunkten.
Ich lasse hier die Gliederung der neuen Ausgabe folgen:
Bd. 1 Vorkritische Schriften bis 1768.
Bd. 2 Kritik der reinen Vernunft.
Bd. 3 Schriften zur Logik und Metaphysik.
Bd. 4 Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie.
Bd. 5 Kritik der Urteilskraft und naturphilosophische

Schriften.
Bd. 6 Schriften zur Anthropologie
Geschichtsphilosophie
Politik und Pädagogik.

Ich muß gestehen, daß ich mich in dieser Einteilung nicht
zurechtfinden kann. Zuerst vermisse ich bei Bd. 1 die Dissertation
vom Jahre 1770. Zu Bd. 3 verstehe ich nicht, in welchem Sinne
Logik und Metaphysik gemeint sind. Der soeben erschienene
Band 4 bringt folgerichtig: Ethik und Religionsphilosophie. Leider
müssen aus Raumgründen einige Schriften an anderen Stellen
untergebracht werden. Die naturphilosophi6chen Schriften
gehören wohl besser zur Anthropologie. Auffallend ist die Aufnahme
der Pädagogik in Bd. 6, da sie nur in der Bearbeitung
eines Schülers vorliegt.

Für eine „Studienausgabe" wäre wohl eine Darstellung der
für die Einteilung der Schriften maßgebenden Gesichtspunkte
notwendig gewesen, da der Anfänger mit der bloßen Aufzählung
derselben sich kaum zurechtfinden wird.

Versprochen ist eine Darstellung der Richtlinien, die der
Textgestaltung zugrunde lagen, ebenso ein Register der Personen
und der wichtigsten Begriffe.

Halle/Saale PauIMenzer

Brunner, August: Die Religion. Eine philosophische Untersuchung
auf geschichtlicher Grundlage. Freiburg: Herder 1956. VII, 390 S.
gr. 8°. Lw. DM 22.—.

Nach einer stattlichen Reihe philosophischer Werke wendet
August Brunner die darin erarbeiteten, sehr weitmaschigen metaphysisch
-anthropologischen Grundgesichtspunkte eines für die
neuzeitlichen wissenschaftlichen Methoden offenen christlichen
Aristotelismus nach seinen allgemeinsten Grundzügen auf die
Haupterscheinungen des religiösen Lebens der Menschheit an.
In den zwei ersten Kapiteln werden die Gedanken einer in der
Freiheit persönlichen Geistes gipfelnden Stufenganzheit des Menschen
aufgenommen und auf das Religionsproblem angewandt.

Im Gegensatz zu den lange Zeit landläufigen positivistischen Abwertungen
wie rationalistisch-idealistischen Angleichungen wird die
heute wieder in den Blick der Forschung getretene Ureigenheit primitiven
wie hochreligiösen Fühlens und Denkens eindrucksvoll herausgearbeitet
: das Gefühl, unter einem geheimnisvollen, nicht unverschuldeten
Verhängnis zu stehen, das Wissen um Gut und Böse, Heil und Unheil
als mehr denn bloß moralische Gegensätze, das Ringen um Versöhnung
mit Schicksal und Schuld, doch audi das Ahnen eines Hingeordnetseins
unseres menschlichen Wesens auf einen wahren Sinn und
Grund der Wirklichkeit. Religion gründet in sich selbst; woraus man
sie ableiten wollte, ist, an ihr gemessen, sekundär. — Ein drittes Kapitel
: „Die in der Religion wirksamen Faktoren" zeigt, entsprechend
der Mehrstufigkeit des Menschenwesens, seine Doppelstellung in und
zu der Welt, ein Hinausstreben und sein Ausgeliefertsein, das Angewiesensein
seiner Geistigkeit auf leiblichem Fundus und Ausdruck, den
..Zwischenbereich des Seelischen" (vgl. Kap. 15,3 S. 327 ff.), äußeres
wie inneres Begrenzt- und Bedrohtsein. All das bedeutet ein Hinausragen
über unser nächstes Dasein, in das wir doch gebannt sind. Gewisse
Phänomene: Entdeckung der eigenen Geistigkeit (Griechen), der
Naturgesetzlichkeit (Neuzeit), primitive und wiederum heutige Wirkung
des Unberechenbren (Tyche-Automaton, vgl. Goethes „Ur-
worte"), werden im Wechsel numinoser Betonung gegeneinandergestellt.
Das auch weiterhin durchgehende Leitwort des „Überstiegs" statt
Transzendenz — die Verdeutschung entlarvt das Schillernde des beliebten
Verlegenheitsau6drucks — sähe man gern auf ein Deum pati als
entscheidendes Richtmaß für seine Dialektik gedeutet.

In dieser positiv-kritischen Eruierung der Vielfalt der Merkmale
in ihren oft seltsamen Verschlingungen erblickt Ref. gerne
eine Stärke des Buches, etwa im Vergleich mit der „Religionsphilosophie
", gleichfalls „auf geschichtlicher Grundlage" Othmar
Spanns (1947) mit seiner gestrafften Systematik, deren starke
religiöse und denkerische Kraft mit einer Zwängung der Erscheinungen
unter einen Gesamtbegriff von „Mystik" erkauft ist (vgl.

Brunner 57 ff.). Der Ertrag neuerer vertiefter Forschung (M. Eli-
ade. Ad. E. Jensen, K. Kerenyi, H. Schrade u. a.) kommt voll
zur Geltung. So bilden die zwölf Kapitel, 4—15, wie das ganze
Buch in anziehend lesbarem Stil von Vorlesungen gehalten, in
einer Reihe von Monographien eine Erscheinungslehre der Religionen
, so daß man versucht sein möchte, den Untertitel umzukehren
; geht doch bei aller Einfühlung der personalistische
Normgedanke entscheidend durch das Ganze hindurch.

Hier muß die Übersicht über Hauptgegenstände und das Herausheben
einiger Besonderheiten genügen. Kap. 4 Einheit und Geistigkeit
des Göttlichen (Hochgötter, Persönlichkeit und Geistigkeit der Götter);
5. Religion und Kultur (Philosophie, Kunst, Sittlichkeit, Kulturschaffen,
Vergöttlichung der menschlichen Geistigkeit); 6. Die vergöttlichte Lebenskraft
; 7. Gestalt, Bild, Archetypen; 8. Der Polytheismus (181 ff.
Wirklichkeit der Götter); 9. Heil und Erlösung; 10. Offenbarung,
Mantik, Wunder; 11. Fest und Kult; 12. Gebet; 13. Opfer; 14. Die
Toten und das Jenseits; 15. Magie (uneigentliche — eigentliche).

Herausgehoben sei einmal die veränderte Deutung und
Wertung des Primitiven; ohne in modischen Primitivismus zu
verfallen, wird sein Weiterwirken heute vorurteilsfreier beurteilt
. Die im Zug der W. Schmidtschen Schule weithin mitgehenden
Analysen des Verfassers dürften wohl auch bei Ablehnung
eines ausgesprochenen Ur-Monotheismus richtige Beobachtungen
enthalten; doch möchte ich lieber sagen: vor der Unterscheidung
von Einheit und Vielheit liegender Sensus Numinis (Zinzendorf,
K-Otto); Erscheinung des Außergewöhnlichen darf mit dem
„Übernatürlichen" nicht verwechselt werden (so richtig S. 34).

Sodann, um hieran anzuknüpfen, fehlen in den einzelnen
Kapiteln nicht Hinweise auf Erscheinungen, die auf die „Offenbarungsreligion
" hin tendieren. So im Kapitelteil „Religion und
Sittlichkeit" (109 ff.) die schöne Ausführung über Sündengefühl,
Reue, Vergebung als „Höhepunkt der Geschichtlichkeit des Menschen
, als Weg zur „neuen Schöpfung" — so der Hinweis auf die
Kultur stiftende Wirkung von Religion, auf die Kunst als erweckten
Sinn für die Bild- und Symbolhaftigkeit des Natürlichen
für das Geistige und Göttliche, den geheimnisvollen „Überstieg",
die allgemeine Bedeutung des Mittler- und Heilbringertums;
vgL schon im Bereich des Primitiven der von anderen erweckte
Mensch, die monotheistischen Tendenzen im alten Ägypten
(84 f.), dann aber: die innere Gelöstheit der Liebe gegenüber
stoisch-pharisäischer Selbsterhöhung des autonomen Moralismus
(Ulf.), hier freilich schon ausgesprochen im Licht christlicher
Haltung.

Der tiefe, ja grundsätzliche Bruch soll damit nicht geleugnet
sein. — Dem „ontischen" Begriff der Unseligkeit im Buddhismus
(204) wird die personenhafte, durch freie Tat entstandene Verlorenheit
des Menschen im Christentum engegengesetzt. —

Hierzu sei gesagt: ein „truneus", „lapis" bleibt, was er ist; Luthers
„magnificare peccatum" hebt das Verlorensein aus einem Neutrum oder
gar bloßem Negativ in ein je ganz persönlich konkretes Ankämpfen
gegen die sich andrängende Gotteswirklichkeit herauf, worin beide Partner
sich auf Tod und Leben begegnen. Liegt nicht hier, hinterher vom
Evangelium aus gesehen, in der „Freude im Himmel" eine ganz andere,
vom Menschen her gesehen verborgene „Möglichkeit" als in irgendeinem
Urstandsre6t? Liegt nicht hier ein anderer Begriff von Gnade
vor als unter dem Schema: Natur und Übernatur? Und kann uns nicht
ein beiderseitiges Verlassen der alten Schemata samt ihren Nachwirkungen
zu einer neuen, personalen Durchleuchtung der Religionsgeschichte
helfen?

Von hier aus freilich liegt eine so ausgesprochen Impersonale
Religions- und Lebenswelt wie der Buddhismus wie Wasser
gegen Öl vor uns, und mit ihm alle Mystik, die sich, mit Luther
zu reden, in den „Abgrund der Gottheit" stürzt oder doch ihm
meditativ sich zu nähern sucht. Im Buddhismus, namentlich in
seinen radikalsten Formen, löst sich alles Personale, ja auch der
Samsara auf in das reine Nihil. Hier ist auch eine „idealistische
Mystik" (Brunner 130) dahinten gelassen, der äußerste Gegenpol
zum Personalismus erreicht. Brunner sucht mit dem Begriff
der „personalen Gemeinschaftsmystik" zu helfen (vgl. Spann!).
Der Hinweis auf die bekannte Anpassung buddhistischer Praxis
(wie auch des Taoismus) an gröbsten Tantrismus hilft darüber
nicht hinweg. In dieser radikalen Polarität, die auf christlichem
Boden auch bei einem Meister Eckart (bei starken Gegengewichten
) sich ankündigt, ist gleichwohl der Personalreligion ein noch