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Ausgabe:

1957 Nr. 8

Spalte:

600-602

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Ranke, Friedrich

Titel/Untertitel:

Gott, Welt und Humanität in der deutschen Dichtung des Mittelalters 1957

Rezensent:

Tschirch, Fritz

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Theologische Literaturzeitung 1957 Nr. 8

600

kopialer Überlieferung, sei es in Chartularen des Hoch- und
Spätmittelalters, sei es in Kopien des 17. und 18. Jhdt.s
aus den damals noch vorhandenen Originalen und Kopial-
büchern der bedeutenden Kirchen an der unteren Loire.
Von ihnen seien nur Saint-Martin-de-Tours, Saint-Julien-de-
Tours, Marmoutier, Cormery, Saint-Aubin d'Angers, Saint-Flo-
rent-de-Saumur und Bourgueil als berühmte Beispiele genannt.
(Allein Marmoutier hatte um 1100 über 100 Priorate. Das
Kollegiatstift Saint-Martin-de-Tours war die reichste Grundbesitzerin
aller Kirchen Frankreichs.) Die reiche Ausbeute an Papsturkunden
vermittelt einen Eindruck von der wirtschaftlichen, politischen
und geistigen Bedeutung der Gebiete an der unteren
Loire im 11. und 12. Jahrhundert. Die zeitliche Verteilung der
Stücke läßt erkennen, wie die Päpste erst seit 1060/70 in immer
häufiger werdenden Erlassen, Bestätigungen, Anmahnungen und
Entscheidungen in das Leben der Kirchen Westfrankreichs unmittelbar
eingreifen. Waren es in älterer Zeit meist nur Besitzbestätigungen
von Kirchen, die den zumindest theoretisch wertvollen
päpstlichen Schutz anriefen, so handelt es sich von nun ab um Aktionen
der päpstlichen Gewalt, die in Frankreich am Ende des 11.
und im 12. Jahrhundert zu beherrschendem Einfluß gelangte: Ein
Vorspiel der fiskalischen Nutzung der französischen Kirche durch
die Kurie im 13. und 14. Jahrhundert.

R. erschließt in einem mustergültigen Inventar (S. 10—61,
Nachtrag S. 368) die Papsturkundenbestände der Archive und
Bibliotheken Nordwestfrankreichs, ferner der Bibliotheque Nationale
und der Archives Nationales, soweit sie NW-Frankreich
betreffen. Diese Zusammenstellungen von Archivfonds und Chartularen
sind, ganz abgesehen vom engeren diplomatischen Ziel
des Verf.s, mit ihren kenntnisreichen Bemerkungen für jeden, der
sich mit französischer Geschichte im 11. und 12. Jahrhundert beschäftigt
, von höchstem Wert. Die Schwierigkeit, einerseits die
heutigen Fonds, andererseits die alten Fonds nach Provenienzen
möglichst übersichtlich zusammenzufassen, wird immer wieder
elegant und ohne unnötige Wiederholungen gelöst. Es sei hervorgehoben
, daß R., der schon 1931—34 das nördliche und nordwestliche
Frankreich bereiste, mit seinen damaligen Kopien in Saint-
L6 und Tours Stücke inhaltlich gerettet hat, die im 2. Weltkrieg
vernichtet wurden.

Einige Beispiele sollen den reichen historischen und diplomatischen
Ertrag des Buches beleuchten. Dem Verf. gelingt die Identifizierung
eines Kantors P. von Le Mans als früheren Schreiber der päpstlichen
Kanzlei, der sich in zwei Privaturkunden von 1188 und 1191 als solcher
verrät (S. 8 f.). Bedeutsam ist weiter die klare Zurückweisung (S. 32)
des Fälschungsverdachts gegen J.-L. 3941 (Johann XVIII. für Saint-Flo-
rent-de-Saumur, 1004), den Sache im Inventaire sommaire des Archives
depart. de Maine-et-Loire, Serie H, B. 2, S. 6 ausgesprochen hatte. Der
Rezensent, dem das Urteil des Verf.s wegen der wichtigen Bestimmungen
, die diese Urkunde über die Rechte der Grafen von Blois an der
Abtei Saint-Florent enthält, von hohem Wert ist, bemerkt dazu, daß
Sache in seinem Abdruck der Bulle (a. a, O.) auf besonders unwahrscheinliche
Schnitzer im Text hinwies, offenbar als Argument für
die Unechtheit. Er hätte aber einer älteren Textüberlieferung folgen
können, die in seinem eigenen Inventaire registriert wird und diese verderbten
Lesarten nicht hat, die zudem älter ist als sein Zeitansatz für
die angebliche Fälschung.

Verfälscht ist dagegen das Privileg Silvesters II. (Gerbert v.
Aurillac) an die Gräfin Emma von Poitou, zugunsten der von ihr gegründeten
Abtei Bourgueil (1003, Nr. 248). R. setzt sich S. 346—48
eingehend mit dieser Frage und der Gründung der Abtei auseinander
und führt den Nachweis, daß ein Privileg Silvesters für Bourgueil und
damit ein echter Kern dieser Urkunde existiert haben muß. Er vernachlässigt
jedoch dabei die Bedeutung, die das Haus der Grafen von
Blois-Tours-Chartres für Bourgueil hatte. Der Ort selbst ist alter Besitz
des Hauses Blois und war Emma als Mitgift zugeteilt worden. Sie
bereitete die Gründung in einer Zeit vor, da sie nach schwerem ehelichen
Zerwürfnis von Herzog Wilhelm Fierabras von Aquitanien getrennt
lebte und über ihre Mitgift allein verfügte. Erst nach der Aussöhnung
der Gatten (ca. 988) hat Wilhelm zur Ausstattung von Bourgueil durch
Schenkungen in Poitou beigetragen. Aber Emma ließ sich noch 996 II 12
durch ihren Bruder, Graf Odo I. von Blois, und 997 I/VI durch dessen
Witwe Bertha ihre Stiftung bestätigen. Auf die Initiative des Hauses
Blois deutet auch die Wahl des ersten Abtes. Gausbert ist Verwandter
Odos I.. und von den übrigen Abteien, die er gleichzeitig regiert, liegt
Saint-Julien-de-Tours in Odos Grafschaft und ist Marmoutier gar seine
Hausabtei und Grablege. „Auffallend mag auf den ersten Blick die
Bestimmung erscheinen, daß der neugewählte Abt dem Herzog von

Aquitanien und seinen Söhnen zur Einweisung in sein Amt vorzustellen
ist" (S. 347). R. erklärt dieses Privileg mit der besonderen
Stellung der aquitanischen Herzöge, der Gründer von Cluny, in
der Kirchenreform. Doch scheint es uns bemerkenswert, daß das
Haus Blois den gleichen Anspruch für Bourgueil erhob. In der genannten
Bestätigung der Gräfin Bertha für Bourgueil (Original Brit.
Mus., Addition. Charters n° 1 1225, vgl. Recueil des fac-similes de
l'Ecole des Chartes, n° 283; ed. Lex, Eudes II, S. 129—31 ohne Kenntnis
des Originals) heißt es, daß ein neuer Abt nach der Regel Benedikts
. . eligatur atque . . . presentiae iam dictae comitissae (sc. Ben
thae) filiorumque eius (nämlich Theobald II. und Odo IL, die mit
Bertha diese Urkunde ausstellten) presentatus, absque ullius precii
commercio ordinetur. Als die Verfälschung des Privilegs Silvesters
durchgeführt wurde (nach R: 1065/70), gehörte Bourgueil allerdings
zweifelsfrei zu Poitou/Aquitanien, und die Wendung duci AquitanO'
rum filiisque eius paßt für diese Zeit besser als zur Situation von
1003, als Emma Witwe war.

Nur wenige Ergänzungswünsche sind zu vermerken. S. 30 sollte
kurz erklärt werden, warum sich im Dep. Archiv von Angers (G. 826)
ausgerechnet Papsturkunden-Kopien für die ferne Abtei Tournus (an
der Saöne) finden. Die Abtei Saint-Philibert, in mehreren Stationen im
9. Jhdt. vor den Normannen von Noirmoutier an der Loire-Mündung
bis an die Saöne ausgewichen, besaß aus dieser Zeit noch Cunault (an
der Loire, östlich von Angers), das Priorat von Tournus wurde und
bei Streitigkeiten mit Kirchen von Angers den Abt von Tournus im
11. Jhdt. veranlaßte, die weite Reise nach Angers zu machen. S. 57
hätte zum Regestenwerk von E. Mabille zur „Collection d'Anjou et de
Touraine' des Dom Housseau vermerkt werden sollen, daß es sehr
schledit ist, sowohl in seinen Inhaltsangaben als in seinen Datierungen,
ja, daß es vom Wert der Collection Housseau ein ganz falsches Bild
vermittelt. Der S. 21 zu 1002 genannte Thesaurarius „Heinrich" heißt
richtig Herveus, und ist der berühmte Tresorier Herve, der Saint-Martin
-de-Tours vor 1015 wieder aufbaute, mit König Robert II. gut bekannt
und selbst sehr hoher Abkunft war.

Man darf nun mit Spannung dem fast druckfertigen 6. Bande
entgegensehen, der das Gebiet von Orleans, Chartres, Blois und
Vendöme behandeln wird, ferner dem 7. Band (Ile de France) und
einem 8. Bande, der Nachträge, namentlich zu Südfrankreich, enthalten
soll. Damit nähert sich ein in Jahren entsagungsvoller Arbeit
gestaltetes Werk seinem erfolgreichen Abschluß, ein unschätzbarer
Beitrag deutscher Forschung zur internationalen Mediävistik
und Kirchengeschichtsforschung.

Heidelberg K.F.Werner

Ranke, Friedrich: Gott, Welt und Humanität in der deutschen Dichtung
des Mittelalters. Basel: Schwabe [1952]. 108 S. 8°. Hlw. sfr. 6.-.

Wer sich heute darüber unterrichten will, wie sich der
mittelalterliche Mensch sein Verhältnis zu Gott und zur Welt
dachte, was er dabei theoretisch wie praktisch für entscheidend
hielt, der greift wie selbstverständlich zu den systematischen
Werken der jene Zeit bestimmenden Theologen: zu dem die
mittelalterliche Auffassung des Christentums ein volles Jahrtausend
prägenden Augustin, zu Thomas von Aquins Summa
theologiae, zu Albertus Magnus. Um freilich zu erfahren, wie
dies Verhältnis in der Wirklichkeit des deutschen Alltags, in den
Augen und den Seelen des Kirchenvolks im damaligen Deutschland
sich spiegelte, müßte er vielmehr in die volkssprachliche
Dichtung jener Zeit blicken. Freilich: ihr Verständnis ist ihm
durch das Mittelhochdeutsch ihrer Sprachform verschlossen; befriedigende
oder auch nur zureichende Übersetzungen selbst der
ragenden Werke gibt es kaum. Die gängigen Literaturgeschichten,
an die man sich für gewöhnlich in solchen Fällen zu wenden
pflegt, sind zu umfänglich und zu speziell, als daß sie für diesen
Zweck erfolgreich zu Rate gezogen werden könnten. Die post-
hume Ausgabe dreier Vorträge jedoch, die der bedeutende Basler
Germanist Friedrich Ranke in den letzten Jahren seines Lebens
vor einem anspruchsvoll-interessierten Publikum gehalten hat,
erschließen einen solchen Zugang in ungewöhnlicher und — man
darf wohl sagen — einzigartiger Weise.

Die beiden ersten „Gott und Welt in der deutschen Dichtung
der Stauferzeit" und „Der Humanitätsgedanke in der deutschen
Dichtung des Mittelalters" zeigen, wie das unser Jahrhundert
so stark beschäftigende Problem der Spannung zwischen Gott
und Welt während des ganzen Mittelalters in Deutschland nur
von den zwei Generationen der sog. hochhöfischen Zeit um 1210
gesehen worden ist, wie nur die nun allerdings bedeutendsten