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Ausgabe:

1957 Nr. 7

Spalte:

535-537

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Titel/Untertitel:

Abhandlungen zur systematischen Philosophie 1957

Rezensent:

Menzer, Paul

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Theologische Literaturzeitung 1957 Nr. 7

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PHILOSOPHIE UND RELIGIONSPHILOSOPHIE

Hartmann, Nicolai: Kleinere Schriften. Bd. I: Abhandlungen zur
systematischen Philosophie. Bd. II: Abhandlungen zur Philosophie-
Geschichte. Berlin: de Gruyter 1955/56. VII, 318 S. u. V, 364 S.
gr. 8°. Lw. DM 26.— u. DM 28.—.

Der Stoff ist auf zwei Bände verteilt, von denen der erste
Abhandlungen zur systematischen Philosophie, der zweite Arbeiten
zur Philosophie-Geschichte enthält.

Von entscheidender Bedeutung für das Ganze ist die „Systematische
Selbstdarstellung" (I, Seite 1—51). H. beginnt mit
einer kritischen Beurteilung der Metaphysik alten Stils, „das konstruktive
Denken hat ausgespielt". Drei Momente wirken in ihm
verunklärend: „1. die natürliche Ungeduld, Lösungen um jeden
Preis zu sehen, 2. der instinktive Glaube, Probleme, die man
nicht lösen könne, seien philosophisch unfruchtbar und 3. die Verwechslung
der Problemgehalte mit Problemstellungen und die
Verkennung des objektiven Sinnes unabweisbarer Fragen" (5).
H.s Interesse ist auf die Darstellung der Probleme gerichtet. Dabei
geht er von einer neuen Ontologie aus. Erkenntnis ist das
Erfassen eines An-sich-seienden, eine gegenständliche, aber mit
der Erweiterung: „der Gegenstand der Erkenntnis geht in seinem
Gegenstande nicht auf, seine Seinsweise ist eine übergegenständliche
". Die Ontologie ist die Grundwissenschaft, sie ist eine natürliche
Einstellung. Ihr Ausgangspunkt ist eine Lehre vom Gefüge
des Seins, das in vier ontischen Schichten gegeben ist: die anorganische
Natur, die organische Welt, das Seelenleben, der objektive
Geist. Mit dieser Einteilung ist zugleich die Gesamtgliederung
der Philosophie H.s gegeben, in bezug auf die ich auf
6eine Darstellung im „Philosophischen Lexikon" hinweise.

Für die Entwicklung der Philosophie Hartmanns ist sein
Vortrag auf dem Philosophenkongreß in Garmisch-Partenkirchen
1947, der unter dem Titel „Ziele und Wege der Kategorienanalyse
" erweitert ist, von großer Bedeutung. Es ist selbstverständlich
, daß eine solche Analyse an Kant anknüpfen muß. Zwei Korrekturen
sind an diesem nötig. Die Einschränkung auf 12 Kategorien
, die die von der Urteilstafel abgeleitet sind, muß überwunden
werden. Zweitens ist mit dem Nachweis des Geltens synthetischer
Urteile a priori noch nicht die Beziehung auf den Gegenstand
erwiesen. Es muß unterschieden werden zwischen den
Kategorien des begreifenden Denkens und solchen der Anschauung
und des erlebenden Bewußtseins. Die Aufgabe ist nun die
Beziehung zwischen beiden Arten der Kategorien herzustellen,
ein hypothetischer Einschlag ist dabei nicht zu vermeiden. Als
Beispiele für die Seinskategorien nennt H.: Extension und Dimension
, Realverhältnis, Prozeß, Zustand. Determinationskategorien
sind Kausalität, Naturgesetzlichkeit, dynamisches Gefüge,
Zentral- und GanzheitsdeteTmination. Die Frage ist, wie Bewußtseins
- und Seinskategorien zur Übereinstimmung gebracht werden
können. Hier liegt, wie H. selbst hervorhebt, ein weitreichendes
, wegweisendes Problem vor, das, wie es scheint, auch von
6einen Schülern weiterbearbeitet wird.

Die überall sich geltend machende Kritik an der systematischen
Philosophie legt die Frage nahe, wie sich H. eine Geschichte
der Philosophie gedacht hat. Darüber gibt der im zweiten Band
enthaltene Aufsatz „Der philosophische Gedanke und seine Geschichte
" (1936) Aufschluß (a.a.O. S. 1—48). H. unterscheidet
System- und Problemdenker. Was hat nun die Geschichtsschreibung
der Philosophie geleistet? Drei Vorurteile beherrschen sie.
Man meint, es sei im Grunde alles „gleichwertig", was ein Denker
lehrt. 2. Man meint einfach das Gedankenwerk eines Philosophen
ist der Ausdruck seiner persönlichen Art, seiner Neigungen
, seines Wollens. 3. Man ist geneigt zu meinen, alles Wesentliche
in den Lehrsystemen müßte aus irgendwelchen Quellen
außerhalb der Philosophie herstammen, aus den Lebenstendenzen
der Zeitverhältnisse, den stillschweigenden Voraussetzungen und
Vorurteilen (10 f.). H. erhebt die Forderung einer Geschichtsforschung
. Ist aber eine solche überhaupt möglich, die das Streben
nach Erkenntnis nach seinem Erfolge darstellt? Hier macht sich H.
selbst den Einwand, daß sie ein Wahrheitskriterium voraussetzt,

das aber nicht besteht. So ist das Ziel nur annäherungsweise zu
erreichen. Schließlich ist es das Schicksal aller Wissenschaften,
durch Irrtümer hindurch zu müssen, wobei dann die Kritik, die
sie erfahren, fördernd für die Erkenntnis 6ein dürfte. Die großen
systematischen Philosophen haben außer dem Zweck des Systems
doch auch wegweisende Gedanken ausgesprochen. Das zeigt H.
an Plato, Aristoteles, Kant und Hegel. Man darf doch wohl fragen
, ob nicht in der Geschlossenheit eines Systems denkerische
Kräfte sich feststellen lassen, und ob das Interesse an der persönlichen
Eigenart großer Denker nicht auch für den Historiker
der Philosophie von größter Bedeutung ist.

An einem Beispiel will ich H.s Verfahren noch erhellen, das
zeigt, wie er das Erhaltungswerte und insofern Fruchtbare aus
systematischem Denken darzustellen versucht. Ich meine den Aufsatz
„Hegel und das Problem der Realdialektik" (1935 a.a.O.
S. 123—146). Anspielend auf die Wiedererweckung Hegels und
auf das Geständnis, daß er zwei Jahrzehnte mit dem Problem gerungen
habe, lehnt er zwar die rein begriffliche Dialektik Hegels
ab, so z. B. den Beginn der Logik Sein-Nichts-Werden, er fragt
aber, ob Dialektik nicht eine Verwertung für das wirkliche Sein
geben könne. Er stellt die Frage vom Standpunkt seiner Ontologie
und betont die weiterreichende Bedeutung der Dialektik. Die
Anwendung im gedachten Sinn veranschaulicht er durch zwei Beispiele
: Herr und Diener, Strafe. An die Stelle des Widerspruches
tritt der Widerstreit. „Allgemein wird man die Sachlage in der
Hegeischen Dialektik so formulieren dürfen: je schärfer in ihr
der Widerspruch herausgearbeitet ist, je vollkommener im logischen
Sinne sie läuft, um so geringer dürfte der Anspruch auf
Realgültigkeit in ihr sein. Je mehr in ihr der Widerspruch zurücktritt
, je mehr der logische Duktus in ihr der Beschreibung eines
Phänomens weicht, um so höher einzuschätzen ist ihr Anspruch,
Realdialektik zu 6ein."

Ein besonderes Interesse wird der Leser dem Aufsatz „Sinngebung
und Sinnerfüllung" (1934 a. a. O. Bd. 1 S. 245-279) zuwenden
. In ihm geht H. von der Ansicht aus, daß der Mensch
nur ein kleiner Teil der Welt ist, daß ihm überall Rätsel aufgegeben
sind, denen er einen Sinn zu geben versucht: „Aber der
Mensch kann sein eigenes Wesen nicht fassen ohne einen Sinn
an ihm zu erfassen, auf den alles bezogen ist, was sonst zu ihm
gehört". Wie schon Kant als grundlegenden Satz für seine Geschichtsphilosophie
es formuliert hat: „Die Natur hat gewollt,
daß der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines
tierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringen
und keiner anderen Glückseligkeit oder Vollkommenheit teilhaftig
werde, als die er sich selbst frei von Instinkt, durch eigene
Vernunft verschafft hat" (Akademie-Ausgabe 8. S. 19). Die Frage
nach dem Sinn des Lebens wird von Denkern aller Zeiten verschieden
beantwortet. Es folgt eine historische Übersicht, die von
Plato bis zur idealistischen Philosophie führt.

Diese bleibt aber gebunden an eine Metaphysik, eine neue
Epoche beginnt mit Nietzsches Kritik der Christlichen Ethik und
der in Abhängigkeit von ihm entstandenen modernen Wertphilosophie
. Ihr fehlt aber doch die Sinnerfüllung, eine Untersuchung
über das Verhältnis von Wert und Sein ist zu fordern. Die Antwort
auf die entstehende Frage muß von der Ontologie aus beantwortet
werden. „Sinngebung: liegt ihrem Wesen nach im ontischen
Sekundären... Ist die Welt unvollkommen, ist sie nicht
in den Ursprüngen schon auf Sinn hin angelegt, so ist der Mensch
nicht überflüssig in ihr. Sinngebung fällt ihm als Aufgabe zu, und
die Aufgabe ist selbst sinngebend für sein Dasein in der Welt."

Auf Grund dieser Anschauung kommt H. am Schluß des Aufsatzes
auf geschichtsphilosophische Überlegungen: 1. der Geschichtsprozeß
ist weder ein bloßes Bestimmtwerden des Geistes
von außen her, noch auch bloße Selbstbestimmung des Geistes.
2. die Geschichte ist weder reine Sinnerfüllung noch reine Sinnlosigkeit
. 3. Es gilt schließlich von der Sinngebung in der Geschichte
dasselbe wie von der Sinngebung im Leben des Einzelnen
: der Mensch erhält sie zurück aus der Welt, der er sie gibt.
Die Erfüllung dessen, was er in sie hineinträgt, fällt ihm zu."

Verwandt mit diesem Aufsatz in der Fragestellung ist die
Abhandlung „Vom Wesen sittlicher Forderungen" (1949, 1 S. 279
-318).