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Ausgabe:

1957 Nr. 7

Spalte:

520-521

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Gerdes, Hayo

Titel/Untertitel:

Luthers Streit mit den Schwärmern um das rechte Verständnis des Gesetzes Mose 1957

Rezensent:

Kantzenbach, Friedrich Wilhelm

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Theologische Literaturzeitung 1957 Nr. 7

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Verf. meint, daß zwischen Luther und den Schwärmern nicht
nur ein Gegensatz, sondern auch ein ursprünglich Gemeinsames
festzustellen ist, nämlich der Spiritualismus. Steck weiß
um die schwer zu fassende Vieldeutigkeit dieses von ihm benutzten
Begriffs und interpretiert ihn dadurch, daß er im Zusammenhang
mit R. Prenters Studien (Spiritus Creator) von Luthers
pneumatischem Realismus spricht, den man auch als realistischen
Spiritualismus bezeichnen könne, weil Luther ständig bei allem
Wissen um die Gegenwart des Geistes die Identität zwischen dem
gegenwärtigen Christus und seinem Wort als wesentlich
voraussetzt. Steck führt verschiedene extrem spirituelle Randsätze
als Zeugnisse für Luthers „Spiritualität" an, die uns den ursprünglichen
Maßstab, mit welchem Gottes Geist und Wirken zu
messen sind, zeigen. Es stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob
man nicht neben derartigen Selbstzeugnissen Luthers auch einige
andere anklingen lassen sollte, die weniger als Zeugnisse für
seine Spiritualität gelten können. Sehr nachdenkenswert ist Stecks
These, daß Luthers Spiritualismus zum Grundelement seiner ganzen
Theologie gehört. Die Frage nach Geist und Wort sei damit
als Folgefrage zu erkennen und einzuordnen. Das bedeutet, daß
Luther im Grundanliegen mit den Schwärmern einig war: den
Zugang zur wirklichen Gegenwart Christi zu finden. Nur in der
Frage, w i e man den Zugang zu dieser Gegenwart Christi findet,
ergibt sich zwischen den Schwärmern und Luther ein entscheidender
Dissensus. Ob aber Grundanliegen und Weg zur Verwirklichung
(konkret: Luthers Lehre von Wort und Sakrament als
„instrumenta") wirklich auch nur einen Augenblick von einander
— und wenn auch nur theoretisch — unterschieden werden
dürfen? Bilden beide Faktoren nicht ein in sich bewegtes Ganzes?
Man sollte sich mit der Feststellung begnügen, daß der Sachverhalt
für Luther beweglich bleibt (Steck S. 20, Anm. 35). Abgewogen
sind die Ausführungen über Luthers „Dualismus", wobei sich
hier wieder fragen ließe, ob dieser Begriff überhaupt verwendet
werden sollte, auch wenn er dann wie vorher der Begriff „Spiritualismus
" interpretiert wird. Steck wendet besonders Luthers
Regimentenlehre seine Aufmerksamkeit zu und distanziert sich
von der These Törnvalls, daß Luther mit ihr der Schöpfung einen
zentralen Platz im Gottesverhältnis habe bereiten wollen. Steck
bezeichnet das Verhältnis des Glaubens zur Schöpfung als geistlich
bestimmt und als kein irgendwie direktes Verhältnis. Es legt
sich nahe, daß die Regimentenlehre überhaupt, recht verstanden,
keine allgemein zugängliche Lehre ist, sondern ein Stück seiner
Predigt und Unterweisung. Steck weist die Vielschichtigkeit in
Luthers Aussagen auf, meint aber doch feststellen zu sollen, daß
Luther Geistliches und Weltliches nicht nur theoretisch unterscheidet
, sondern faktisch immer wieder bis zur Unvereinbarkeit
trennt, auch wo er es eigentlich nicht will. Das ergibt
sich aus Luthers Gegenüber zum römisch-katholischen System,
denn bei näherem Hinsehen ergeben sich für Luther doch noch
andere Feststellungen. Luther hat von zwei Regimenten des
einen Gottes gepredigt, so daß der Mensch nur scheinbar einmal
als Weltperson, einmal als Christperson angeredet wird. In Wirklichkeit
wird der durch die Predigt des Wortes Gottes in Gesetz
und Evangelium angeredete Mensch als ganzheitliche Person und
nicht als schizophrenes Wesen angeredet. Im Gebet hat der Christ
auch für sein weltliches Tun die Hilfe Gottes zu erbitten. Nichts
gehört einer neutralen Sphäre an, weder sein soziales noch sein
politisches Wirken. — Die denkbare Möglichkeit, daß der Christ
sich im Sinne der Schwärmer und Bauern aktiv für eine Änderung
der Verhältnisse einsetzen müsse, hat Luther allerdings
wegen seines „Positivismus" abgelehnt. Er hielt sich aus einer
eschatologischen Betrachtungsweise heraus an die bestehenden
Formen des weltlichen Regiments. Es stellt sich die Frage, ob
Luthers Autorität an diesem Punkte zu folgen ist; kann sie feste
Gründe für sich in Anspruch nehmen, oder ist sie ein zufälliges
Produkt einer patriarchalischen Zeit? Hier wird Stecks Untersuchung
ganz unmittelbar drängend gegenwartsbezogen.
Steck statuiert, daß der Weg des Luthertums in der späteren Zeit
bis hin in die bitteren Erfahrungen der Gegenwart ein Fehlweg
war, der schließlich in die Katastrophe führte. Selbstrechtfertigungen
des Luthertums tragen nicht viel aus, vielmehr müsse
gefragt werden, ob nicht Luthers Autorität erdrückend gewirkt
habe und ob sie sich nicht brüderlich, sondern richterlich —

den täuferischen Schwärmern gegenüber — in bedauerlicher Weise
geschichtswirksam gezeigt habe, indem Luthers Positionen tradiert
und in steriler Weise übernommen wurden. Von der Schrift
her müßten Luthers Positionen vor allem hinsichtlich der Lehre
von den zwei Regimenten überprüft werden. Auf die Arbeiten
von H. Gollwitzer, E. Wolf und H. J. Iwand weist Steck in diesem
Zusammenhang hin. Die Frage nach der Bedeutung des
erhöhten Christus würde bei einer weiteren Besinnung
wohl an die erste Stelle treten. — Ob es ganz glücklich war, diese
vielfältige Anfragen an Luther gerade in einer mit „Luther und
die Schwärmer" betitelten Schrift auszusprechen, sei dahingestellt,
wenn sich auch nicht bestreiten läßt, daß Luthers Gegenüber zu
den Schwärmern beim Studium seiner theologischen Positionen
sehr zu beachten ist. Sein Standpunkt verschärfte sich ohne Frage
in der Situation kämpferischer Auseinandersetzung, 60 daß Gemeinsamkeiten
zurücktreten und Spitzenformulierungen nicht
ungefährlicher Art hüben und drüben Zustandekommen konnten,
die dem Geiste brüderlicher Kommunikation Gewalt antaten und
der sachlichen theologischen Arbeit schadeten. Stecks Ausführungen
ergänzen jedenfalls K.Holls (Gs. Aufs. I, 420 ff.) und
Wilhelm Maurers Arbeiten (letztere 1952) zum gleichen Thema
in mancher Hinsicht, machen die Notwendigkeit weiterer Arbeiten
aber doch sehr deutlich. Vielleicht ergibt sich dann ein
Ergebnis zwischen und über Stecks und Maurers Positionen. Die
Arbeit von H. Gerdes (195 5) hat St. leider nicht mehr würdigen
und verarbeiten können.

Neuendettelsou F.W. Kantzenbarh

Ceti es, Hayo, Dr. theol.: Luthers Streit mit den Schwärmern um das
rechte Verständnis des Gesetzes Mose. Göttingen: Göttinger Verlagsanstalt
[1955]. 130 S. 8°. DM 6.80.

Luther geriet in seiner Auseinandersetzung mit den Schwärmern
mit diesen in einen sachlichen Gegensatz vor allem in dem
Verständnis des Zusammenhanges von Wort und Geist und im
Verständnis des Gesetzes. Die Schwärmer halten sich an die konkreten
Weisungen des AT., während Luther für Glauben und
Handeln allein die Freiheit eines Christenmenschen zum Ausgangspunkt
nehmen kann, so daß sich die Frage stellt, was er mit den
zum großen Teil uneinsichtigen Geboten des AT. anfangen will,
wie er 6ie mit „der freien Sachlichkeit eines sittlichen Handelns
im Dienst de6 Nächsten" zu vereinen gedenkt. Das ist das Problem
dieser von Hirsch und Gogarten geförderten bzw. angeregten
Untersuchung, deren Vorteile in kluger Quellenverwertung
und sprachlicher Klarheit bestehen. — In Kap. I. zeigt Verf., wie
Luther gegenüber der vom Geiste der Gläubigen vorgenommenen
Schriftauslegung eines Karlstadt mehr und mehr zum Zungensinn
(W A VII, 650), zur buchstäblichen Interpretation der Schrift
geführt wurde. In Kap. II. wird die Frage untersucht, wie sich
Luther mit dem buchstäblichen alttestamentlichen Gesetz theologisch
auseinandersetzte, das Karlstadt mit Hilfe seiner Geistlehre
subjektiv-phantastisch aktualisierte. Luthers Lösung besteht darin
, daß er zwischen verbum dei und verbum dei unterscheidet.
Dem Christen gilt das Gotteswort von der Freiheit in Christo;
deshalb ist für ihn all das, was für Abraham, Abel und Noah
seine feste Geltung hatte, abgetan. Das Mosegesetz, bes. den
Dekalog, verstehe Luther als lex civilis für das jüdische Volk.
Eine besondere Bedeutung neben dem natürlichen Gesetz werde
dem Mosegesetz von Luther abgesprochen, ja das Mosegesetz in
Form des Dekalogs gelte nur soweit, als es ein „besonders gut
geratenes Beispiel für die lex naturae" sei, „dafür, daß jedes Volk,
jeder Mensch, so oder so unter dem sich mit unbedingter Gewalt
in Herz und Gewissen bezeugenden Gesetz steht und nichts weiter
". Das Mosegesetz als Ganzes wird bezeichnet als der Juden
Sachsenspiegel und kann keineswegs als Gottesoffenbarung verbindlich
gemacht werden. In Kap. III. legt G. umfassend dar, daß
Luther sich das Alte Testament als die von Gott gegebene lex
civilis des jüdischen Volkes denkt. Das Gesetz ist eine göttliche
Gnadengabe gewesen für ein Volk in einer bestimmten Zeit. Den
Christen ist es überlassen, ob sie das Mose-Gesetz oder andere
Gesetze brauchen wollen. Sie sind aus der Schule Mosi entlassen.
Gerade in Kap. I bis III wird deutlich, daß Verf. nie seine bei
Gogarten gewonnenen theologischen Einsichten verleugnet (besonders
in dem oft diskutierten Fragenkomplex „Gesetz"). Ge-