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Ausgabe:

1957 Nr. 6

Spalte:

467-469

Kategorie:

Psychologie, Religionspsychologie

Autor/Hrsg.:

Tiling, Magdalene von

Titel/Untertitel:

Wir und unsere Kinder 1957

Rezensent:

Ziegner, Oskar

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Theologische Literaturzeitung 1957 Nr. 6

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1948; Homo sapiens, 1950), unter dem Eindruck der Existenzphilosophie
stehend, hat im Gegensatz zu Freud und Adler und
über Jung hinausgehend eine „Logotherapie" entwickelt und
zur Diskussion gestellt. Auch Lersch (Aufbau der Person, 6. Aufl.,
1954, S. 567) ist in die Richtung vorgestoßen, die Frankl ansteuert
. Von anderen minder wichtigen Äußerungen mag hier
abgesehen werden. Mußten sie nicht von Seifert diskutiert werden
? Gerät nun nicht sein Buch in den Verdacht des Gestrigen?
Rostock O. H o 11 z

T i 1 i n g, Magdalene von, D.: Wir und unsere Kinder. Eine Pädagogik
der Altersstufen für evangelische Erzieher in Familie, Heim und
Schule. Stuttgart: Steinkopf [1955]. 217 S. 8°. Kart. DM 10.— ;
Lw. DM 12.-.

Der völlig neue Ansatz zur Pädagogik wird schon durch den
Untertitel deutlich: Pädagogik der Altersstufen. Mag der Begriff
Altersstufe aus der Biologie und Psychologie herkommen, so ist
aber hier seine Verwendung anders gedacht. Das zeigt der Buchtitel
, der nicht einfach vom Kinde spricht, sondern von unsern
Kindern. „Unser" heißt, der Erwachsenen Kinder. Frau von Tiling
kommt es auf das Verhältnis der Erwachsenen zu den ihnen anvertrauten
Kindern an, und sie 6ieht die Lösung der pädagogischen
Aufgabe darin, daß der Erwachsene im Kinde auch wirklich
ein Kind sieht, das sich dann zum Jugendlichen entwickelt, um
eret in der vierten Altersstufe (die Altersstufe ist auf je sieben
Jahre angesetzt) zum Erwachsenen heranzureifen.

Wir haben genug Bücher, die als Thema eine sogenannte
christliche Erziehung behandeln. Dabei wird eine christliche Erziehung
einer weltlichen oder weltanschaulichen gegenübergestellt.
Aus dieser falschen Gegenüberstellung muß ein Weg heraus gesucht
und gefunden werden. Er wird aber nicht gefunden werden,
solange man unter christlichem Glauben eine christliche Weltanschauung
versteht. Diese ist immer von einem systematischen
Gedanken bestimmt. Der dem Glauben übergeordnete Gedanke
gibt dann an, was unter Glaube zu verstehen sei. Je nach dem,
was das für ein Gedanke ist und aus welcher Philosophie er entstammt
, fällt das Ergebnis aus, das man christlichen Glauben und
christliche Erziehung nennt.

Frau von T. weist in ihrem Vorwort zu dem Buche darauf
hin, daß es erwachsen sei aus ihrem 1950 erschienenen Buche
„Der Mensch vor Gott" (Lettner Verlag, Berlin). Wir müssen
hinzufügen: aus ihrem ganzen Schrifttum und ihrer über fünf
Jahrzehnte hin sich erstreckenden pädagogischen vielseitigen Arbeit
. Sie faßt (kurz vor ihrem 80. Lebensjahre) systematisch zusammen
, was sie uns gewissermaßen als Testament hinterlassen
will.

Das pädagogische Denken der Verfasserin geht immer davon
aus, daß ein Kind in seinem Sein auf Gott, den Mitmenschen
und die Welt ausgerichtet ist. Wer einem Kinde hilft, daß es in
dieser dreifachen Bezogenheit leben kann, handelt in echter Art
pädagogisch. Dies ist eine These, die zunächst einmal klare Abgrenzungen
vornimmt, und zwar gegen eine Verchristlichung der
Pädagogik, aber auch gegen alle Versuche der Hilfswissenschaften
wie Biologie, Psychoanalyse u. a. mehr, die Pädagogik zu bestimmen
. Zum andern besagt die These, daß wir vom christlichen
Glauben her nur dann darin weiter kommen, in der Pädagogik
wieder die Wirklichkeit des Kindes zu treffen, wenn wir uns auf
die reformatorische Grundlage besinnen.

Woran bisher alles pädagogische Denken krankte, war oder,
wir können auch 6agen, ist, daß man in der Kirche Aussagen des
christlichen Glaubens über pädagogische Fragen macht, ohne sich
dabei Rechenschaft zu geben, was die Wirklichkeit des Kindes
überhaupt ist. Infolgedessen überträgt man einfach Glaubensaussagen
in die Pädagogik und meint dadurch zu einer christlichen
Pädagogik gekommen zu sein. Dabei gehen also pädagogische
Gedanken und Glaubensgedanken entweder parallel, oder sie geraten
in Widersprüche. Frau von T. sagt in einer Selbstanzeige
ihres Buches (Zeitschrift für Pastoraltheologie 195 5, Heft 10),
daß das ihre ganze Arbeit begleitende Problem aus der Grundanschauung
erwachsen sei, daß beides Denken niemals auseinanderfallen
dürfte. Sie fährt dann fort und schreibt: „Wo immer
das heute noch geschieht, da ist der Grund wohl darin zu

suchen, daß die pädagogischen Erkenntnisse des 19. und weithin
auch des 20. Jahrhunderts so stark mit der idealistischen Anschauung
vom Menschen als freier Persönlichkeit verquickt 6ind."

Das große Anliegen der Pädagogik der Altersstufen ist
theologisch gesehen das Bemühen, Gottes Offenbarung als ein
gegenwärtiges Geschehen zu bekennen und damit zu sagen, daß
wir Menschen vor diesem Gott uns und die Welt zu verantworten
haben, und daß wir uns ebenso vor unsern Mitmenschen verantworten
müssen, weil sie uns und wir ihnen anvertraut sind.
Hier wird unser Leben nicht aufgeteilt in ein höheres und ein
niederes, in ein übergeschichtliches und ein geschichtliches, sondern
es wird als das uns von Gott heute geschenkte erkannt, und
es wird anerkannt, daß hier und jetzt entweder alle6 geschieht in
Wirklichkeit oder alles in Unwirklichkeit verrinnt.

Wenn wir unser Leben vor Gott als uns von Gott geschenkt
erkennen, wäre solche Erkenntnis auf reformatorischer Grundlage
gewonnen, also Rechtfertigungsglaube. Und ebenso ist es reformatorische
Grundlage, wenn Frau von T. von Luther übernommen
hat, daß ein Kind wirklich als ein Kind und nicht als ein kleiner
Erwachsener verstanden werden will.

Der erste Teil des Buches heißt „Grundfragen pädagogischen
Denkens" und entwickelt die Voraussetzungen und Folgerungen
des neuen Ansatzes. Die einzelnen Kapitel dieses Teiles tragen
folgende Überschriften:

Vom Menschsein des Menschen. Unsere irdisch-menschliche Wirklichkeit
. Die Verschiedenheit der Geschlechter. Der Erwachsene und da»
Kind in ihrer Unterschiedenheit und ihrem Bezogensein aufeinander.
Die Verschiedenheit der Altersstufen. Der Mensch innerhalb der Lebensgemeinschaften
. Grundbegriffe der Pädagogik.

In dem neuen Bild vom Kind wird dessen Sein als vom Sein
des Erwachsenen umschlossen erkannt. So hat e6 der Schöpferwille
Gottes geordnet. Gott gibt der Mutter das Kind in ganze Obhut.
Das Kind ist vor Gott eine volle Person. Was es in seinem Personsein
ist, das bleibt uns Geheimnis, das nicht erforschbar ist.
Darum wird auch niemand ein Kind als ein von Gott geschaffenes
Kind erkennen, der es nicht mit seinem eigenen Sein umfängt und
es bei sich Geborgenheit finden läßt. Damit ist nun freilich eine
tiefe und ernste Abgrenzung gegen alle wissenschaftlichen Versuche
der Biologie und verschiedenster Psychologie vollzogen.
Diese Wissenschaften können nur Beobachtungen über die Reaktionen
oder Gegenreaktionen der Seele und des Intellekts machen,
sie registrieren und zur Beachtung empfehlen. Sie kommen aber
mit keiner noch so speziellen Methode jemals an das Geheimnis
heran, das Gott mit dem Personsein des Kindes schafft.
Frau von T. 6agt dazu noch in ihrem Vorwort, um Mißverständnisse
abzuwehren, als achte 6ie diese Wissenschaften nicht: „Die
Tatsache, daß jede .Lehre vom Erziehen' die Erkenntnisse anderer
Wissenschaften — vor allem die der Biologie und der Psychologie
, für den evangelischen Christen auch die Theologie —
voraussetzt, wird dadurch nicht berührt."

Alles in dem Buche, das man ein einfaches Ablesen der
Wirklichkeit des Kindes, des Jugendlichen und Erwachsenen
nennen möchte, fällt heutigem kirchlichen Denken schwer. Dazu
gehört, daß Gott diese Entwicklung des Kindes zur Reife bestimmt
hat, daß wir „dem Kinde helfen können, sein Menschsein
in der Bindung an Gott und den Mitmenschen zu entfalten",
daß sich die Altersstufen durch unser ganzes Leben hinziehen,
daß in den Altersstufen jeder dem in anderer Altersstufe Stehenden
zur „Werdehilfe" werden kann und soll und noch manches
andere. Was in allem bisherigen Schrifttum der Frau von T. Anstoß
erregt hat und weiter erregen wird, bleibt also dieses Ablesen
unserer Wirklichkeit, ohne daß dabei erst beteuert wird,
daß man in christlichem Glauben spreche. Darf man sich denn
nicht in Freudigkeit zu Gottes Güte und Barmherzigkeit bekennen
, wenn man erkennt, daß Gott uns unser Sein als Mann und
Frau, als Vater und Sohn, als Bruder und Schwester gibt und uns
in allen Altersstufen erhält und führt, die niemals ausgewechselt
werden können? Darf man das nicht in Ehrfurcht einfach hinnehmen
und Gott dafür danken?

In den Teilen 2 bis 6, die 200 Seiten umfassen, wird eine
ganz ausführliche Altersstufenlehre entwickelt, Teil 2 und 3 sind
überschrieben mit: Das Kind in der ersten und zweiten Alters-