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Ausgabe:

1957 Nr. 5

Spalte:

382

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Titel/Untertitel:

Zeitschrift für evangelische Ethik, 1 1957

Rezensent:

Holtz, Gottfried

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381

Theologische Literaturzeitung 1957 Nr. 5

382

liehe Fundamentalethik, z. B. der Begriff des Gewissens, entwik-
kelt wird, 2. die Verbindung der missionarischen Perspektive
und Denkweise mit der Methode, alle Fragen letztlich auf ein
einfaches Entweder-Oder hinauszuführen, die Entscheidung für
oder gegen Christus, 3. deT durchgehende eschatologische Grundzug
, die Erwartung des Sieges Christi und der Heraufführung der
neuen Weltform, durch welche die gegenwärtige, unreine Weltform
abgelöst werden wird, welche aus dem Urfall entstanden
ißt, da dieser die gesamte Schöpfung betroffen und in Mitleidenschaft
gezogen hat. Darum geht das biblische Ethos aus von
.,dem offenen Eingeständnis der ethischen Ratlosigkeit des natürlichen
Menschen und des gefallenen Zustandes der Schöpfung
(62). Durch diesen eschatologischen Grundzug wie überhaupt
durch die ständige Anknüpfung an das biblische Zeugnis hebt
sich die Ethik Karl Heims von anderen gleichzeitigen Entwürfen
christlicher Ethik besonders deutlich ab. „Wir stehen im dynamischen
Dualismus zweier Weltzeitalter" (91). 4. Die Voraussetzung
der christlichen Ethik ist für Heim, daß der lebendige
Christus durch seinen Geist seine Gemeinde führt. Man kann daher
die christliche Ethik nicht direkt aus den „Schöpfungsordnungen
" ableiten: „Ohne Führung Jesu vermögen wir nicht zu
sehen, welches in der Schöpfung die Tendenzen sind, auf denen
das Ja des Schöpfers liegt" (183). So ist Christus nicht nur der Gnadenbringer
, sondern nimmt zugleich die Stelle dessen ein, der
über die ganze bisherige Ethik entscheidet. Von der Herrschaft
Christi aus erkennen wir den Sinn der Schöpfung. 5. Die Gemeinde
lebt als der Leib Christi schon jetzt aus den Kräften der
Weltvollendung, und insofern kann sie, unter dem Gebote
Christi der Welt dienend, die kommende Weltvollendung vorbereiten
helfen. Der Herrschaftsanspruch Christi, auf welchem
die christliche Sozialethik beruht, macht die Gemeinde für die
Welt verantwortlich. Die „spätlutherische Isolierung des persönlichen
Heilsweges unter Ausschaltung der Verantwortlichkeit für
die Welt" (166) lehnt H. ab, er nimmt vielmehr das Erbe der
christlich-sozialen Bewegung in sein Denken auf. Die Kirche muß
mit eingreifen in den Kampf um soziale Reformen (221). Mit
Recht wendet sich H. gegen die „patriarchalische Passivität" und
ßetzt ihr die These entgegen, daß die „wirtschaftliche Lage, in
der wir leben,. .. eine seelsorgerliche Frage geworden" ist, —
ein Satz, der gerade heute wieder gültig ist, in westlichen und
östlichen Gesellschaftssystemen. Im Zusammenhange der Auseinandersetzung
mit dem „lutherischen Dualismus" stellt er die
bemerkenswerte Frage, ob die Christenheit nicht zu rasch vor
dem modernen Hochkapitalismus kapituliert hat (240). Die Dämonie
dieses Wirtschaftsprozesses wird scharf herausgearbeitet. —

Problematisch ist es, wenn H. glaubt, in der Sozialethik,
welche die zweite Hälfte dieser Vorlesungen füllt, immer von
den biologischen Grundlagen, d. h. von den Funktionen des Organismus
wie Fortpflanzung, Ernährung, Aufbau der organischen
Ordnung der Teile und Verteidigung (denn er ist eine Kampfeinheit
) ausgehen zu müssen (167 f., 205 f. u. ö.). Allzusehr liegt
hier die Gefahr nahe, diese Grundlagen doch wieder mit der
Schöpfungsordnung in eins zu 6etzen, ganz abgesehen davon, daß
die Geschichtlichkeit der menschlich-gesellschaftlichen Institutionen
auf diese Weise nicht erfaßt werden kann. Andererseits
werden wir einräumen müssen, daß H., sichtlich auch hier von
seiner großen Auseinandersetzung mit der modernen Naturwissenschaft
beeinflußt, an Realitäten erinnert, die von der theologischen
Ethik allzu leicht übersprungen werden, besonders wenn
sie dem Existenzialismus huldigt. Ob man aber sagen darf, daß
der „Daseinskampf die gottgewollte Form des jetzigen Aeons"
sei (259), wie H. in seiner politischen Ethik behauptet, das ist
die Frage; jedenfalls dürfte „gottgewollt" hier nicht im Sinne
des ursprünglichen Schöpferwillens gebraucht werden, wie dies
auch aus der anderen Feststellung hervorzugehen scheint, daß
7ri^S m ,einer "^individuellen Gesamtschuld, im Urfall be-
grunaet sei (264). R sucht nach einem synthetischen Prinzip,
um „Christentum und Politik", „Machtgewissen und Privatgewissen
vereinigen zu können, aber es wäre zu fragen, ob es
eine derart.ge Synthese in einer eschatologischen Ethik, die von
dem Ineinandergeschobensein entgegengesetzter Aeonen ausgeht,
überhaupt geben kann? An anderer Stelle geht denn H. auch auf
den Hl. Geist zurück, der uns zwischen Scylla und Charybdis

hindurchsteuern könne, wenn die entgegengesetzten Forderungen
aufeinanderprallen, z. B. das Gebot „Du sollst nicht töten"
und die Notwendigkeit der Gewaltanwendung um eines anvertrauten
Lebens willen. H. entschärft solche Konflikte nicht, aber
Formeln wie „Töten aus Samariterliebe" verraten noch den starken
Einfluß der traditionell lutherischen Lösung. —

Der Herausgeber ist seiner Aufgabe nicht gerecht geworden.
Er verschweigt uns das Semester, in dem diese Vorlesungen gehalten
wurden. Nur der kundige Leser kann erraten, daß der
Grundstock der Vorlesungen aus den 20er Jahren stammen dürfte;
einzelne Abschnitte, in denen z. B. der Nationalsozialismus auftaucht
, führen in den Anfang der 30er Jahre hinein. Die Grundkonzeption
stimmt, wie wir 6ahen, mit den Büchern „Jesus der
Herr," „Jesus der Weltvollender" durchaus überein. Allzu zeitbedingte
Abschnitte hätte der Herausgeber streichen können, 60
denjenigen über das Wirtschaftsprogramm des Nationalsozialisten
G. Feder, das weder ideologisch noch praktisch je eine bemerkenswerte
Rolle gespielt hat. Neben seiner eigenen Nachschrift
hat der Herausgeber noch zwei weitere benutzen können, aber
wiederum fehlt die Zeitangabe, die für den Vergleich mit anderen
Ethiken nicht unwesentlich wäre, vor allem aber dem Laien,
dem denkenden Christen, für den diese Vorlesungen bestimmt
sein sollen, über die Situation aufklären könnte, in welcher sie
einst gehalten worden sind. Ebenso hätten die hier und da vorkommenden
Zahlenangaben kommentiert oder auf den heutigen
Stand der Dinge gebracht werden müssen. Denn die geschichtliche
, geistige Gesamtsituation hat bekanntlich für das dialogische
, antwortende Denken K. Heims eine so große Bedeutung,
daß 6ie für den unkundigen Leser hätte gekennzeichnet werden
sollen. Das wäre wichtiger gewesen als die mehrfach eingefügten
Rückblicke des Herausgebers auf die nationalsozialistische Ära.

Münster/W. Heinz-Dietrich Wendland

Zeitschrift für evangelische Ethik. Studien, Kommentare, Dokumente.
Hrsg. v. K. von Bismarck, E. Karrenberg, H. van Oyen, W. Sdiweit-
zer, H. Thielicke, H. D. Wendland. 1957, Heft 1. Gütersloh: Bertelsmann
. 48 S. 8°. DM 3—.

Die neue Zweimonatsschrift beginnt mit einer kurzen programmatischen
Erklärung: gegen die Zersplitterung ethischen
Denkens im Protestantismus, der durch Rückgang auf die biblische
Grundlage und die Theologie der Reformatoren in ökumenischer
Wdte begegnet, und gegen die Lebensferne, der durch die Beteiligung
vieler führender Wissenschaftler und Praktiker, „die
an den Brennpunkten ethischen Handelns stehen", gewehrt werden
soll. — Die Aufgliederung: wissenschaftliche Aufsätze, Kommentare
und Dokumente (bleibend Bedeutsames betreffend), Bi-
b'jographie (nach Sachgruppen geordnet, international). — Mitarbeiter
: Vertreter aller Fakultäten aus aller Welt. — Ausgangsott
und wohl weithin Urbild: das Ev. Soziallexikon, dessen wichtige
Arbeit laufend vertieft werden wird. Zum Inhalt des ersten
Heftes: von den drei Hauptartikeln gelten zwei soziologischen
Themen: Klaus von Bismarck, Kirche und Gemeinde in soziologischer
Sicht, führt an westfälischem Material die kleinbürgerliche
Versandung des parochialen Gemeindelebens vor und erörtert
einige Folgerungen für Kirche und Gemeinde; U. Scheuner,
Der Staat und die intermediären Kräfte, bestimmt den soziologischen
Ort der Gewerkschaften, Berufsorganisationen u. Ae.
Also: der größere Teil gilt Fragen, wie sie im Ev. Soziallexikon
angegriffen sind, und verteilt wie dieses die Gewichte des Sachlichen
und Ethischen. Der einleitende Aufsatz (H. v. Oyen, Gibt
es eine ev. Ethik der Grenzfälle?) dagegen gehört nicht in den
soziologischen Komplex; erbringt eine tiefgreifende ethische Besinnung
zum Selbstmord, zur Todesstrafe und zur Schwangerschaftsunterbrechung
, in beachtlicher Auseinandersetzung mit
K. Barth (KD III, 4, 1951). Allen Aufsätzen ist die seelsorgerliche
Bedeutung nachzurühmen. Der Kommentar gilt dem Rasseproblem
in Amerika (Reinhold Niebuhr). — Vergleicht man den
Inhalt mit dem Programm, so wird man den reichen sachlichen
Bezug zur modernen Gesellschaft und zu ökumenischen Fragen
und den theologischen Bezug auf die Schrift konstatieren. Der
Start ist also gelungen.

Rostock O. Holtz