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Ausgabe:

1957 Nr. 1

Spalte:

11-22

Autor/Hrsg.:

Gloege, Gerhard

Titel/Untertitel:

Deutung des Daseins 1957

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Theologische Literaturzeitung 1957 Nr. 1

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über die gesellschaftlichen Bindungen der Antike, denen Paulus noch
zugehörte, hinausgreifen.

Indem Thielicke im Stil einer Modellfall-Ethik arbeitet,
treibt er nicht nur aktuelle, sondern besser gesagt existentielle
Ethik und führt den Christen in die Einzelentscheidung hinein
und läßt ihn hier zur Selbstentscheidung selber reif werden. Und
daß das gerade heute für die Gemeinde wichtig ist, wird niemand
bestreiten können. Gewiß sind nicht alle Probleme in dieser Ethik

bewältigt und in den Grundlagenfragen, die wir an diese Ethik
zu stellen hatten, bleibt noch vieles zu klären und zu bereinigen,
aber daß mit diesem Werk einer christlichen Ethik ein bedeutsamer
Weg und Dienst offenbar wird, wird niemand bestreiten
können. Thielicke hat mit diesem Werk sein für uns heute eigentliches
theologisches Anliegen ausgesprochen und sein ihm wesensgemäßes
theologisches Gesicht gewonnen und geprägt. —

Deulung des Daseins

Zur neueren Literatur über katholisches Welt- und Selbstverständnis

Von Gerhard G 1 o e g e, Jena

Der Deutung des Daseins sind drei katholische Werke ge- j die Welt 2U herrschen, die Werte als „Urphänomene" des Seienden,
widmet, die mit je verschiedener Methode in je verschiedener seine Eigentlichkeit zu verwirklichen.

Hinsicht die Phänomene des Lebens in Kirche und Welt in den ! 2 Das Phänomen der Freiheit „mündet aus" in das der G n a d e.

Blick bringen. „Drei Kapitel zur Deutung des Daseins" nennt
Romano Guardini sein gehaltvolles Buch „Freiheit,
Gnade, Schicksal"1, in dem er, gegenüber dem neuzeitlichen
Verlust an Daseinsbewußtsein, mit dem Blick Augustins
„aus dem Ganzen heraus das Ganze zu denken" (12) versucht.
Wer Guardinis Schriften in ihrer eigentümlichen Atmosphäre und
ihrer edlen Gestalt kennt, wird kaum erwarten, daß man sie einer
zunftgerechten „Kritik" unterwirft. Nur der große Gedankenbogen
kann sichtbar gemacht werden, der bereits im Titel die
drei Wirklichkeiten oder „Sinngefüge" spannungsvoll verbindet
und sie so einander zuordnet, daß ihr Gegründetsein in den „natürlichen
" Vorstufen und ihr Entwurf auf das „übernatürliche"
Sein hin erkennbar wird.

1) Zunächst wird das Phänomen der Freiheit, dessen Problematik
mit der Frage: „Wie lebe ich?" anhebt, durch die verschiedenen
Bereiche differenzierten Daseins verfolgt. Der Charakter der freien
Handlung als der wesenhaften Form, „wie ich mein Ich, mein Personsein
" vollziehe, wird ontologisch interpretiert: „Das Ich betätigt sich
in der freien Handlung, es entsteht aber nicht erst durch sie und be-

Denn dem Dasein als solchem eignet ein gnadenartiges Element: „eine
Großmut des Daseins gleichsam, die auf die Großmut seines Schöpfers
hinweist" (125). Die Schöpfung ist, von der „reinen Vorbehaltenheit
Gottes" her, auf Offenbarung hingeordnet, dergestalt, „daß sich überall
in der Welt Erwartungsstellen, Entsprechungserscheinungen, Vorentwürfe
auf die eigentliche Gnade hin finden" (126). Dies elementar Gnadenhafte
findet sich etwa in den Autoritätsbeziehungen (Staat, gesellschaftliche
Schichtung); in schöpferischer Eingebung und im Gelingen;
in Begegnung und Fügung; in der Euphorie (der unerzwinglichen „reinen
Stunde") und im Vollendeten. Nur in einer Welt, „die so gebaut
wäre, wie die mechanistische Naturwissenschaft sie denkt" (142), hat
das Element des Gnadenhaften keinen Platz, weil jene den „Ursprung"
leugnet. Das Gnadenhafte im Dasein löst als das Nicht-Selbstverständliche
Verwunderung, Dank, Antwort aus. — Für das „Religiöse" aber
ist Gnade grundlegend. So wird Gnade im christlichen Sinne aussagbar:
hinsichtlich der Erschaffung der Welt, einem Schaffen, das kein „Wirken
", sondern ein „Tun" ist, von Gott vollzogen in absoluter Freiheit.
Von daher trägt die Welt letztlich nicht den Charakter der „Natur",
sondern der „Geschichte" (154). In der christlichen Existenz wirkt freie
Huld „nach dem scheinbar paradoxen Sinngesetz, daß der Mensch sich
nur dann gewinnt, wenn er von sich selbst weg und in das ihm Entsteht
auch nicht nur in'ihr." Gegenüber dem Aktualismus gilt: „Das gegentretende hinübergeht" (157) „Gnade ist das einfachhin Nicht-

Erste ist.. . nicht die Tat, sondern das Sein" (20). Ihre beiden Grundformen
sind Erhebung „über" und Eindringen „in" die Situation und
das eigene Sein. Sie erweisen, daß das Leben des Menschen unter letzten
überpersönlichen Bedingungen steht. Aufgabe der Freiheit ist die
„Aktuierung des Personseins" (26). Inhaltlich ruht ihre Struktur
in zwei „Seinszentren": in der Freiheit des Aktes und in seinem Gegenstand
. Nicht irgendetwas, sondern das Richtige zu tun, ist der Sinn
des freien Aktes. Im unmittelbaren Gefühl; im Naturerleben; im Verhältnis
zur Sache und zum eigenen Körper läßt er sich auf den „niederen
" Stufen bestimmen. Auf den „höheren": in der Verwirklichung
der Werte (Erkenntnis; Kunst; Recht; Erziehung; Heilkunst usw.); in
der personalen Beziehung des auf Begegnung angelegten Menschen (Gemeinschaft
, Einsamkeit), die sich nur „vor Gott" verwirklichen läßt;
in der sittlichen Freiheitserfahrung mit ihren verschiedenen Sinnschichten
(Gewissen; Pflicht; das Gute als Grundelement des menschlichen
Bewußtseins); in der Freiheit im „Religiösen" (das Heilige, im Gegensatz
zum Pantheistischen, die „Zweideutigkeit" des Menschen im „Zwielicht
der Zeitlichkeit" aufdeckend). Der eigentliche Träger der Freiheit
aber ist „der Geist", „konkret-individueller Geist als in sich stehende
Wirklichkeit" (77), „vollständig" gesagt: der Mensch als „Körper im
Geist". — Diese in unmittelbarer menschlicher Erfahrung ruhende und
daher der Zweideutigkeit preisgegebene Freiheit wird durch die christliche
Freiheit überhöht, wie sie im Gnadenerlebnis, etwa des Paulus
offenbar wird: in Christus, der leibhaftigen Epiphanie Gottes. Als Freiheit
neuer und endgültiger Art besteht sie „darin, daß der Mensch in
das rechte Verhältnis zum Seienden tritt, die Wahrheitskraft seiner
Wesensgestalt erfährt, der Scinsmacht seines Wertes gerecht wird, ihm
Raum im eigenen Leben gibt" (86). Durch Gottes Initiative wird sie
des Menschen „ganz frei und mächtig". Beide, Gottes Gnade und tathafte
Verantwortung des Menschen, wirken „ineinander in der unlös

Selbstverständliche und doch zugleich Letzt-Erfüllende" (164). Ihr endgültiger
Maßstab bildet die Person Christi, so daß die „christliche"
Gnade vom „Gnadenhaften als Weltelement" als „etwas wesenhaft
anderes" unterschieden werden kann (167 ff.). Dennoch ist eine positive
Beziehung zur Welt in Form der „christlichen Kultur", wie sie
das Mittelalter darstellt und sie das Barock, ja noch das späte 19. Jahrhundert
(Bruckner) widerspiegelt, möglich (172 ff.) I Mit der Renaissance
freilich liefert sich der Mensch einer Aktivität aus, die, steuerlos
und dämonisch, das Schaffen als solches vergötzt und mit geradezu
religiöser Unbedingtheit „die Kultur" zum Inhalt seines Daseins macht.
Hingegen: „Die Gnade im eigentlichen Sinne ernüchtert den Menschen.
Jesu Wort Mt. 16, 26 bricht den „Absolutheitsanspruch des Schaffensimpulses
" (178 f.).

3) Ist die Frage nach Freiheit und Gnade als höchst komplexen
Sinngefügen nicht leicht, so ist die nach dem Schicksal noch
schwerer. Zu den Elementen der Schicksalsfrage gehört: die „Notwendigkeit
", die unser Dasein trägt und ordnet (194 ff.); sodann die „Tatsache
", die alles das ist, was aus Freiheit hervorgeht (199 ff.); speziell
der „Zufall" (204 ff.); schließlich der Mensch selbst, aus dem das Schicksal
kommt und der im Schicksalhaften lebt (206 ff.). Alle seine Verhaltungsweisen
werden „durch eine innere Gestalt, eine Entelechie bestimmt
". „Diese Geschehnisgestalt bin ich selbst; sie ist die Entelechie
meines konkreten Seins" (225). — Das Schicksal wird schließlich „religiös
" erfahren: als „Fremdes", „Numinoses", als mit geheimnishafter
Energie geladene Macht (219 ff.). „Schicksalsbewußtsein ruht auf der
Erfahrung einer letztgültigen Ordnung und Weisheit — aber auch einer
entgegengesetzten Haltung, worin das Schicksal willkürlich, neidisch,
blind und sinnlos erscheint" (221). Bewältigen kann der Mensch das
Schicksal: indem er sich entweder vom Schicksal getragen weiß, oder
mit ihm kämpft, oder aber es in der Tiefe seines Ursprungs zu beliehen
Einheit eines einzigen existentiellen Vorganges" (94). Zu Gott einflössen versucht (Magie). FateÜsmui stoische Haltung, Humor bekommend
„finde ich in Ihm mich selbst. . ., weil ich, gehorchend, mei- I *» verschiedene Weisen dem Schicksal zu begegnen. Erst durch den
nem wahren Wesen gemäß handle, also, richtig verstanden, Gott ge- j Glauben erfährt die Schicksalserfahrung eine Veränderung: im Räume
horchend recht eigentlich in mir selbst stehe" (101). Gegenüber dem j der Offenbarung gibt es ein Schicksal, als „das Es »AleAthin nicht
„Autonomismus" der Neuzeit und seinem „Postulat der Empörung" j (237 ff.). Das zeigt Jesu Dasein, insbesondere seine „ethische Haltung .
(der „sich selbst genügenden Welt") wird die Urwahrheit aufgerufen, I In seinem Verna ltms zum Vater verschwindet £•!V£

daß der Mensch als Gottes Ebenbild fähig ist, im Gottesgehorsam über

*) Guardini, Romano: Freiheit, Gnade, Schicksal. Drei Kapitel
zur Deutung des Daseins. München: Kösel-Verlag 1949. 320 S. 8°.
DM 11.80.

gewaltigende. Alles wird vertraut; wird zur Verwirklichungsform von
Liebe" (252). Jesus überwindet den Satan, indem er ihn zwingt, ans
Licht zu treten. Schicksal wird als Schuld- und Strafzusammenhang sichtbar
. „Sobald der Mensch an Christus glaubt, wird in seiner Daseinsführung
aus dem Schicksalsbezug der der Vorsehung." An der Stelle
seiner ungreifbaren, es-haften Macht erscheint die Person des Vaters.