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Ausgabe:

1957

Spalte:

226-227

Kategorie:

Referate und Mitteilungen über theologische Dissertationen und Habilitationen in Maschinenschrift

Autor/Hrsg.:

Kehnscherper, Günther

Titel/Untertitel:

Das Wesen der Kirche nach Theodor Kliefoth 1957

Rezensent:

Kehnscherper, Günther

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hin zu untersuchen und gegebenenfalls nach ihrem Zusammenhang mit
Israels Traditionen zu fragen. Da institutionell gebundene Überlieferungen
für uns eher greifbar sind, wird die Untersuchung vor allem im
Hinblick auf d i e Traditionen durchgeführt, deren kultischer Sitz im
Leben wahrscheinlich gemacht werden kann.

Das I. Kap. der Arbeit (32 S.) sucht die Frage zu beantworten,
in welcher Bedeutung der Name „I s rae 1" in Michas Verkündigung
verwendet ist. Die Beantwortung dieser Frage ist, traditionsgeschichtlich
gesehen, aufschlußreich: Nur an einer Stelle (Mi. 1,2—7) gebraucht
Micha den Namen „Israel" in seiner staatsrechtlichen Bedeutung als Bezeichnung
für das Nordreich. An allen übrigen Stellen ist aber mit
..Israel" das nach dem Untergang des Nordreichs allein noch verbliebene
judäisch-jerusalemische Staatsgebilde gemeint. Micha belehnt dieses
nicht mit dem staatsrechtlichen Terminus, sondern geht hier zurück
auf die alte, ursprüngliche Bedeutung des Namens als Bezeichnung und
Inbegriff der vorstaatlichen sakralen israelitischen Amphiktyonie, die
ihm in Juda-Jerusalem pars pro toto immer noch repräsentiert ist. Der
Prophet kann auf diese ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Israel
zurückgreifen, weil der Name in diesem Sinn die Jahrhunderte der Königszeit
hindurch eben in seiner Bindung an die Institution der israelitischen
Amphiktyonie lebendig geblieben war. Dieser sakrale israelitische
Zwölfstämmebund (in seiner davidischen Modifizierung, vgl.
Mi. 5, 1 ff.) bildet allenthalben den Hintergrund der prophetischen Verkündigung
Michas. Um die Wahrnehmung und Wiederaufrichtung der
mit dem sakralen Namen „Israel" gemeinten Ordnung geht es dem
Propheten, Denn in ihr erkennt er die einzig tragfähige Existenzgrundlage
für das judäisch-jerusalemische Volk. An ihr orientiert sich seine
Kritik. In ihr gründet seine Hoffnung in schwerer Zeit. Und ihre
Traditionen sind es demgemäß, die der Prophet in seiner Verkündigung
aktiviert: die Tradition vom Sinaibund (Kap. II), die Tradition vom
Auszug und der Landnahme (Kap. III) und die seit David im amphi-
ktyonischen Kult gleichfalls beheimatete Tradition vom Davidsbund
(Kap. IV).

Das IL Kap. (63 S.) zeigt in einem 1. Abschnitt, wie tiefgreifend
die Sinaitheophanietradition in ihrer ganzen kultischen
Komplexität den Spruch Mi. 1,2—7 geprägt hat. Nach ihm sollen im
Gericht über Samaria die von der Überlieferung bezeugten Begleiterscheinungen
der göttlichen Epiphanie wirklich und gegenwartsmächtig
werden. So ist es z. B. das Beben der Theophanie, das Samaria zum
Trümmerhaufen macht und seine Schnitzbilder zerschlägt. Grundgedanken
und Vorstellungen, ja verschiedentlich sogar die Diktion des Prophetenwortes
sind von der Theophanietradition bestimmt. — In einem
besonders großen Umfang ist Michas Verkündigung von der Sinaiüberlieferung
des Amphiktyonenrechts geprägt (2. Abschnitt).
Sie ist Voraussetzung, Maßstab und Leitbild der prophetischen Klage
und Kritik. Ob der Prophet die führenden Kreise Israels an ihre Verantwortung
für das Bundesrecht gemahnt, ob er Rechtsbeugung tadelt
oder einzelne Rechtsverletzungen kritisiert, immer bezieht er sich auf
alte Satzungen des Amphiktyonenredits, die er in einer neuen geschichtlichen
Situation mit der Vollmadit des Gottesboten aktiviert.

Das III. Kap. (17 S.) zeigt Michas Bezugnahme auf die heilsgeschichtliche
Tradition vom Auszug und der Landnahme
(vgl. Mi. 6, 4 f.). Er erinnert an sie nur mit kurzen Stichworten, die
den Zusammenhang als bekannt voraussetzen und die ihrerseits schon
unübersehbar die Terminologie dieser Überlieferung widerspiegeln.
Der Prophet verweist nicht anders auf Jahwes gütige Bundestreue, als
daß er an diese Kultüberlieferung erinnert.

Das IV. Kap. (19 S.) weist schließlich nach, daß Michas eschatolo-
gische Erwartung (vgl. Mi. 5, 1 ff.) bis hinein ins Detail von der Tradition
vom Davidsbund geprägt ist. Was sie seit je verheißen hat,
erfüllt sich nun im angekündigten Herrscher aus Davids Geschlecht: die
Ewigkeit seiner Herrschaft, das Friedensregiment, der große Name, die
Weltherrschaft, die Wiederherstellung Israels.

Das V. Kap. (18 S.) faßt den Ertrag der Einzeluntersuchungen zusammen
und wertet ihn in 14 Abschnitten aus. So werden im 5. Abschnitt
Rückschlüsse gezogen aus den in Michas Verkündigung festgestellten
Auswirkungen der Traditionen Israels auf deren Wesen, ihren
Sitz im Leben und auf die Art und Weise ihrer Übermittlung. Jene Auswirkungen
sind verschiedentlich nur verständlich bei der Annahme
einer auch noch zu Michas Zeit lebendigen, im Kultakt gegenwartsmächtig
werdenden Tradition. Ihr ambivalenter Charakter von Anspruch
und Zuspruch, von Drohung und Verheißung offenbart eine innere Spannkraft
, die ebenfalls nur bei einer noch nicht zur Literatur erstarrten,
kultisch lebendigen Überlieferung erklärbar ist. — Der 6. Abschnitt definiert
den Begriff der Tradition und das Verhältnis des Propheten zu
ihr. Der 7. Abschnitt fragt nach dem Verhältnis von Tradition und
Vollmacht im Prophetsein Michas, der 8. nach der Bedeutung der geschichtlichen
Situation, der 9. nach dem Schwerpunkt seiner Botschaft.
Der 10. Abschnitt erklärt den Gegensatz zwischen Micha und seinen
Gegnern aus ihrem gegensätzlichen Verständnis des Bundes, seines Kultes
und seiner Traditionen. Der 11. Abschnitt erörtert die Frage, ob

auf eine institutionelle Gebundenheit Michas zu schließen ist. Der 12.
Abschnitt fragt nach dem Ausmaß der prophetischen Kritik am Kult,
und der 14. schließlich besinnt sich auf den theologischen Grund der
festgestellten Traditionsbezogenheit der Verkündigung Michas

Kehnscherper, Günther: Das Wesen der Kirche nach Theodor
Kliefoth. Diss. Leipzig 1953, 172 S.

Es sind zwei Motive, die es rechtfertigen, sich heute mit Kliefoth
näher zu beschäftigen: Einmal ist das Gedankengut der lutherischen Erneuerungsbewegung
, die sich um die Mitte des vorigen Jahrhunderts
auf kirchlichem und theologischem Gebiet vollzog, keineswegs ausgeschöpft
. Wichtige Fragen, die damals aufgeworfen wurden und zu neuen
Erkenntnissen besonders bezüglich des Wesens der Kirche und des Amtes
führten, konnten infolge der Ungunst der Zeit sich nicht entfalten
und kirchlich wirksam werden. Sie sind heute bei aller notwendigen
Kritik erstaunlich aktuell geworden. Und sodann: Unter den in Frage
kommenden Theologen und Kirchenmännern steht KL, was die Beachtung
und Behandlung betrifft, wohl am meisten zurück. Die Arbeit
hat es zur Aufgabe, die Lehre Kliefoths von der Kirche unter Berücksichtigung
der damaligen Auseinandersetzungen neu zu durchdenken
und angesichts des keineswegs einheitlichen und weithin verzerrt gezeichneten
Bildes Kliefoths zu einer gerechteren Würdigung diese»
Mannes zu kommen.

Die Arbeit geht zunächst davon aus, welche Bedeutung für Kliefoth
die dogmengeschichtliche Grundlage für alle theologische Besinnung
hat, sucht dann Kliefoths Verhältnis zur geistesgeschichtlichen Lage,
besonders zu Hegel und Schleiermacher, zu bestimmen und zeigt auf,
wie Kliefoth unter dem Eindruck der Not der Kirche zum Vertreter
eines bekenntnistreuen Luthertums wird.

Um die eigentümlichen Hauptmomente von Kliefoths Kirchenverständnis
zu entfalten, erfolgte die inhaltliche Darstellung des Wesens
der Kirche unter vier Gesichtspunkten:

1- „Die Kirche als Phase des Reiches Gottes". Im Anschluß an
. Darstellung der Kliefoth eigentümlichen Lehre von den Reichen

wird bei der Behandlung des Gnadenreiches besonders auf das Verhältnis
der Kirche zum Reiche Gottes eingegangen, indem die Kirche
als das Reich Gottes in einer bestimmten Zeit, Phase und Gestalt beschrieben
wird. Es wird dann deutlich, daß die Kirche auf das Gnadenhandeln
Gottes selbst zurückzuführen ist.

2- E'n Gesichtspunkt, der für Kliefoth besonders bedeutsam ist,
fTA "Kircile als Heilsanstalt". Die Objektivität des Heilsgutes, die
• v jCine Personliche, gläubige Aneignung voraussetzt, steht hier
d" p erSrund- Diese Objektivität zeigt sich vor allem in der Gabe
der Gnadenmittel, wobei allerdings zu bedenken ist, daß unsere Aus-
,.'y e -objektiv' und .subjektiv' heute durch ein naturwissenschaftliches
Denken geprägt sind, das Kliefoth noch fremd war.

, i^011 daher ergeben sich auch die Grenzen der Kirche, die von der
Ausbreitung der Gnadenmittel her bestimmt werden. Innerhalb dieser
grenzen ist das Heil faßbar und gegenwärtig.

, ,^'e Persönliche Zueignung des in Christus geoffenbarten und geschehenen
Heils führt zu dem für Kliefoth charakteristischen Problem
der döatg und hp/nc, sowie zu der Erörterung des Amtes, das als

unadenmittelamt und als bestimmten Personen aufgetragen verstanden
wird.

... 3- Die Kirche als „Gemeinde des Herrn" schließt das Problem der
glaubigen Aneignung in sich und sucht dem Verhältnis von coetus vere
credentium und coetus vocatorum gerecht zu werden, das wiederum von
Bedeutung ist für die Bestimmung des Verhältnisses von ecclesia visi-
b"is und invisibilis.

Hier ist auch der Ort, an dem Kliefoths Gedanken über das allgemeine
Priestertum, seine Gabe und Aufgabe, zur Sprache kommen,
sowie das Verhältnis des allgemeinen Priestertums zum Amt dargelegt
wird.

*• Die „Kirche als Organismus". Dieser für Kliefoth besonders
wichtige Gedanke bringt die in Kirchenordnungen, Kirchenregiment
u"d regierter Kirche bestehende Ordnung der Kirche zum Ausdruck,
schließt aber auch ihre durch die wirkenden Gnadenmittel als Lebensquell
verbürgte Lebendigkeit und Mannigfaltigkeit ein.

Der Darstellung der Gedanken Kliefoths über die Kirche schließt
sich eine Beurteilung an. Sie gibt eine Abgrenzung der Theologie
Kliefoths gegenüber Hegel. Kliefoth ist nicht von Hegels spekulativem
Denken her, sondern aus seinen eigenen persönlichen und kirchlichen
Erfahrungen heraus zu verstehen. Der tiefe Eindruck von der Not der
Kirche und ihrer inneren Aushöhlung ist die verborgene Leidenschaft
seines Denkens und Handelns.

Die Gegenüberstellung der Lehre Kliefoths mit den Aussagen der
Schrift und der Bekenntnisschriften erweist, daß für Kliefoth die Kirche
nur als „Fortsetzung des Daseins, Lebens und Wirkens Jesu Christi"