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Ausgabe:

1957

Spalte:

206-207

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Micron, Marten

Titel/Untertitel:

De christlicke Ordinancien den Nederlantscher Ghemeinten te Londen 1957

Rezensent:

Weerda, Jan Remmers

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schwierigsten Aufgaben mit hingebender Opferbereitschaft widmet
. Er stammte aus dem Erfurter Humanistenkreise und war von
dessen Haupt, dem Kanonikus M u t i a n, dem kurfürstlichen
Hofe empfohlen worden. Hier stieg er schnell zu immer höheren
Ämtern empor. Das persönliche Vertrauensverhältnis zu dem
Landesherrn wurde immer inniger, aber auch die alte Freundschaft
mit Mutian erkaltete nie. Es ist eine ergreifende Szene, wie Spa-
latin 1525, während sich in der Ferne schon das dumpfe Grollen
des Bauernaufstandes vernehmen läßt, an das Sterbebett des Kurfürsten
eilt, in der Tasche den eben erst empfangenen Brief Mu-
tians, der in beweglichen Worten den Verfall der Wissenschaften
beklagt, zugleich von seiner persönlichen Not durch das Ausbleiben
aller Einkünfte berichtet und den Kurfürsten um Hilfe anfleht
. Spalatin hält die Hand des sterbenden Fürsten, der sich
lange mit ihm vertraulich unterredet und endlich auf seinen Rat
zum ersten und einzigen Mal sich das Abendmahl in beiderlei
Gestalt reichen läßt.

Die Darstellung des vorliegenden Werkes schließt sich an
Spalatins Lebensgang an. In 18 Kapiteln werden die drei Hauptphasen
seines Lebens behandelt:

1. Jugend und pädagogische Tätigkeit 1484—1516,

2. Vertrauensstellung bei Friedrich dem Weisen 1516—1525,

3. Praktische Arbeit für den Aufbau der neuen Kirche
1525-1545.

Die Darstellung ist gemeinverständlich und flüssig und erhebt
sich auf den Höhepunkten, wo die weltgeschichtlichen Entscheidungen
hineinspielen, zu dramatischer Spannung. In längeren Kapiteln
wird mit gewisser Eintönigkeit die Hauptthese von Spalatins
entscheidendem Einfluß wiederholt, so daß der Eindruck
entstehen kann, als handele es sich um eine Art „Rettung" Spalatins
. Der Leser hätte gern neben dem getreuen Tatsachenbericht
ein stärkeres Hervortreten der Beurteilung an großen Maßstäben,
ein engeres Hineinstellen der Ereignisse in die großen geistigen
Zusammenhänge der Zeit. Zwar fehlt dies nicht ganz, und am
Schluß wird nicht die Bemerkung unterlassen, Spalatin gehöre
nicht zu den schöpferischen Geistern der Reformation. An seiner
Haltung im Bauernaufstand wird kritisiert, daß er sich damit begnügt
habe, jeweils den nächsten Gefahren vorzubeugen, ohne
doch den eigentlichen Gründen des Aufstandes und der Frage
6einer Berechtigung nachzugehen. „Damit erklärte 6ich der Mann,
der zweimal mit innerem Schwung und überzeugter Begeisterung
auf geistigem Gebiete eine Revolution — Humanismus und Reformation
— unterstützt hatte, gegen jede revolutionäre Entwicklung
auf politisch-sozialem Gebiete." S. 429.

Es läge die Frage nahe, ob Humanismus und Reformation
zugleich und mit gleicher Begeisterung zu bejahen möglich 6ei. Es
geht durch Spalatins Leben eine tragische Linie, eine
Tragik, die aus dem Gefühl des Nichtgewachsenseins gegenüber
übergroßen auf ihn eindringenden Bewegungen entsteht. Spalatins
Verdienst um das Gelingen der Reformation Luthers kann
nicht hoch genug angeschlagen werden. Aber der Sieg war mit
bedenklichen Hypotheken belastet. Die Humanisten, die einst begeistert
mitgegangen waren, hatten das Gefühl: victrix res diis
placuit, sed victa Catoni. Luthers herrliche Klarheit in der Lehre
von Glauben und Gnade wird durch allerlei Hilfskonstruktionen
eingeengt: Die Übersteigerung des altkirchlichen christologischen
Dogmas, die wiederum mit seiner massiven Sakramentsauffassung
zusammenhängt, seine pessimistische Anthropologie, die Diffamierung
der Vernunft und die göttliche Sanktion des Gehorsams
gegen die Obrigkeit. Dinge, welche den nachfolgenden Geschlechtern
völlig gleichgültig 6ind, werden behandelt, als hinge Leben
und Seligkeit von ihnen ab. Umgekehrt werden auch tief religiöse
selbständige Denker als „Schwärmer" abgelehnt und grausam bis
aufs Blut verfolgt. Spalatin hatte in den großen Glaubensfragen
doch enge geistige Grenzen, zumal wenn man ihn mit dem ihm
in mancher Hinsicht verwandten Sebastian Franck vergleicht
. Er ließ sich von Luther mitreißen, scheint aber gegen
dessen Paradoxien und Entgleisungen kritiklos gewesen zu sein.
Denn nicht alles, was Luther sagte, war recht; und nicht alles,
was die Schwärmer, Täufer und Humanisten sagten, war unrecht.
Spalatin stand mitten zwischen diesen Gegensätzen, zwischen den
streitenden Parteien, zwischen Kaiser und Kurfürst, Erasmus und

Luther u. s. f. Diese Mittelstellung hat ihn zerrieben und seine
Kräfte früh aufgezehrt, so daß er, der an sich schon von zarter
Konstitution war, oft in schwere seelische Depressionen verfiel.
Er gab des Erasmus Buch über den ewigen Frieden heraus und
stand andererseits zu Luther in den Schrecken des Bauernkrieges.

Es ist wohl das dunkelste Kapitel der Reformationsgeschichte,
wie die unmenschlich unterdrückten Bauern in der Botschaft von
der Freiheit eines Christenmenschen ein hoffnungsvolles Licht
aufblitzen sehen, mit religiöser Inbrunst danach greifen, wenngleich
sich im Mittel vergreifend, um schließlich aber im Namen
Gottes von den siegreichen Fürsten und Adeligen unter grausamsten
Foltern zu Tode gequält zu werden. Spalatin rät seinem
Freunde, Freiherrn von Einsiedel, der aus Gewissensbedenken das
Los seiner Untersassen erleichtern wollte, dringend davon ab,
da man den „Pofel" im Zaum halten müsse.

Es ist wie ein schauerlich symbolischer Epilog zu diesem von
den Dunkelheiten des Daseins umlagerten Lebens, daß Spalatins
Ende von einer wunderlich paradoxen Episode verfinstert wurde.
Er hatte einem Priester, der nach dem Tode seiner ersten Frau
deren Stiefmutter heiraten wollte, den Heiratskonsens erteilt,
worüber Luther, es als Blutschande betrachtend, entsetzt war.
Spalatin brach zusammen, machte sich die bittersten Vorwürfe,
verzweifelte an Gottes Vergebung und sank auf ein Krankenlager
, von dem er sich nicht wieder erheben sollte. Nun griff
Luther ein und tröstete den Verzweifelten, allerdings mit Worten
, die ebenso gewaltig wie grotesk anmuten: Bisher sei er nur
ein „zarter" Sünder gewesen. Nun aber solle er sich einreihen in
die Schar der großen und harten Sünder, damit er Christus nicht
verkleinere. Von allen Seiten bieten nun die Freunde ihre Hilfe
und ihren Trost an. Der Landesherr, Kurfürst Johann Friedrich,
der als Abc-Schütze sein erster Schüler gewesen war, versichert
ihn in einem Handschreiben mit warmen Worten seiner Huld.
Er schickt ihm eilends seinen eigenen Leibarzt, dazu einen Eimer
guten Weins. Es half ihm nicht mehr. Erstarb am 16. Januar 1545,
einen Tag vor seinem 61. Geburtstag, ein Jahr vor dem Hingang
seines großen Freundes, der ihm soviel Glück und Freude wie
Sorgen und Leid bereitet und ihm einst geschrieben hatte: „de
grege nostro non habeo, quem tibi praeferam."

Hamburg Erich Franz

Micron, Marten: De Christlicke ordinancicn der Ncderlantscher
gnemeinten te Londcn (1554). Opnieuw uitg. en van een inleiding
voorzien door Dr. W. F. Dankbaar. 'S-Gravenhage: Nijhoff 1956.
V 157 S. gr. 8° = Kerkhistorische Studien VII. hfl. 7.75.

Die Neuausgabe der Londoner Ordinantien Mikrons gehört
zu den dankenswertesten Veröffentlichungen auf dem Gebiete der
reformierten Liturgie- und Kirchenordnungsgeschichte. Dadurch
wird zuerst die 6chon sehr reiche Reihe von Quellen zur Geschichte
der Londoner Flüchtlingsgemeinde vermehrt, die durch Veröffentlichungen
archivalischer Natur, die wir Hessels, v. Schelven
u- a- verdanken, und durch Lindebooms Darstellung ihrer Geschichte
in seinem Werke „Austin Friars" 1950, wohl zu den bestbekannten
Flüchtlingsgemeinden des europäischen Westens gehört
; aber die Bedeutung der in Deutschland nur durch die Bruchstücke
in Richters Ev. Kirchenordnungen bekannten Kirchenordnung
kann nun erst an dem Originaltext studiert werden; denn
wem war auch nur die deutsche Heidelberger Übersetzung von
1565 zugänglich? Die Geschichte dieser Kirchenordnung bietet
Probleme, die in die Werdegeschichte reformierter Ordnungen in
Europa hineinreichen.

Daß Straßburg eine Rolle spielt, zeigt sich wieder auch an Einzelheiten
dieser Ordnung; Dankbaar weist S. 22 und 26 darauf hin, daß
die Spendeformel bei der Abendmahlsbedienung aus Straßburg kommt.
Ob nicht hier die Persönlichkeit lan Utenhoves eine Vermittlerrolle
gespielt hat, der bereits 1546 von Straßburg aus für niederländische
Flüchtlinge in Frankfurt Unterkunft suchte und später eine Stütze der
Londoner Gemeinde war? Ein noch völlig ungeklärtes Problem steckt
in der Frage, ob in der Londoner KO Emder Erfahrungen und Ordnungseinzelheiten
durch a Lasco zum Ausdruck kommen. Ich verweise auf
meine Arbeit: „Entstehung und Entwicklung der Gottesdienstordnungen
der reformierten Gemeinde zu Emden" in: W. Hollweg. Wir grüßen die
Brüder, Zur Tagung des Ref. Weltbundes ... in Emden, 1956. Charakteristisch
ist das Ineinander von „Verfassungs"elementen und liturgischen
Bestandteilen, daä für die große lateinische Kirchenordnung