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Ausgabe:

1956 Nr. 2

Spalte:

116

Kategorie:

Liturgiewissenschaft, Kirchenmusik

Titel/Untertitel:

Kirchenmusikalisches Jahrbuch 1956

Rezensent:

Söhngen, Oskar

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115 Theologische Literaturzeitung 1956 Nr. 2 116

slavischen Sprache zum großen Teil auf das genaueste und vielseitigste
untersucht worden sind, wurde den Gesangstexten der
orthodoxen Kirche kaum Aufmerksamkeit gewidmet. Dabei haben
gerade diese Texte wegen ihrer genauen, auf Noten bezogenen
Aufzeichnung allein schon für die Sprachwissenschaft große
Bedeutung; daß ihr eingehendes Studium in musikalischer Hinsicht
von größtem Interesse wäre — würde damit doch ein sehr
wenig bekanntes und dabei entscheidendes Gebiet altrussischer
Kultur erschlossen — unterliegt keinem Zweifel; denn der Gottesdienst
im allgemeinen und der ihn weitgehend beherrschende Gesang
im besonderen war einer der wichtigsten kulturellen Faktoren
, die das Leben fast aller sozialer Schichten im alten Rußland
bestimmten.

Das Ritual der orthodoxen Kirche, bei dem die Gemeinde
so gut wie gar keine Rolle spielt, hatte sich zu einem schwierigen
System symbolischer, von Gesängen begleiteter Handlungen
entwickelt. Das junge christliche Rußland übernahm aus Byzanz
dieses schwierige System; die griechischen Texte wurden übersetzt
, die Melodien der byzantinischen Kirchenkomponisten zum
Teil beibehalten. Es liegen uns in russischen liturgischen Büchern
Melodien, die bis ins 11. Jahrhundert zurückreichen, vor. Innerhalb
der Gesänge hatten sich unterschiedliche Formen herausgebildet
, die je nach dem gottesdienstlichen Anlaß Verwendung
fanden. Die 3 wichtigsten waren die Stichiren, die Kontakien und
die Kanones. Die Kanones hatten alle den gleichen Inhalt: Jeder
Kanon besang in 8 Liedern festgelegte Themen aus dem AT,
während das neunte Lied das Magnificat und Benedictus brachte.
Die neun Lieder bestanden aus Troparien, Strophen, deren Zahl
nicht feststand, die aber innerhalb eines Liedes von gleichem metrischen
Bau und gleicher Melodie sein mußten. Die erste Strophe
eines Liedes war also das formale Muster für die folgenden; sie
hieß Hirmos (eig/iög) — „das Band", und das Hirmologium
enthält die ersten Troparien der neun Lieder verschiedener
Kanones.

Die Ausgabe Koschmieders bringt als Hauptteil zwei Fragmente
eines altrussischen Hirmologiums aus Novgorod aus dem
12. Jahrhundert, dann die Chilandar Hs. No. 378, die griechische
Hs. Cod. Coislin 220 und die Krjuki-Hs. Msc. Slav. 5, Breslau.
Die drei letzten Hss. sind zu Vergleichszwecken herangezogen
und z. T. nicht vollständig abgedruckt.

Während die 1. Lieferung nur die eigentlichen, außerordentlich
sorgfältig und mit erschöpfenden kritischen Anmerkungen
versehenen Texte umfaßt, in deren Vorbereitung zum Druck eine
ungeheure, von höchster Erudition zeugende Arbeit des Herausgebers
steckt, bringt die soeben erschienene 2. Lieferung als Pro-
legomena eine kurze Darstellung des gottesdienstlichen Gesangs
der orthodoxen Kirche und die Beschreibung der veröffentlichten
Hss., an die sich 7 Tafeln mit Fotografien einiger Hs.-Seiten
schließen.

Der erste Abschnitt der Prolegomena: „Die Gesangsübung
in der orthodoxen Kirche" stellt die geschichtliche Entwicklung
des orthodoxen Kirchengesanges in seinen wesentlichen Erscheinungen
von der byzantinischen Zeit bis in das Rußland des
19. Jahrhunderts dar; der 2. Abschnitt behandelt kurz die Probleme
der byzantinischen Notenschrift, deren Übertragung in das
moderne Notensystem noch immer nicht ohne weiteres möglich
ist. Der 3. Abschnitt gibt eine übersichtliche Zusammenstellung
der in der orthodoxen Kirche benutzten gottesdienstlichen Bücher
, der eine tabellarische Aufstellung der russischen kirchlichen
Hierarchie vorangeht. Der 4. Abschnitt ist den bereits vorhandenen
Ausgaben anderer Hirmologien gewidmet, die er kritisch
würdigt, und der letzte endlich spricht über die Anlage der vorliegenden
Ausgabe und über den ihr beigegebenen Apparat. Das
Wörterbuch steht noch aus, wird aber nach der bereits hier gegebenen
Beschreibung zu urteilen, die Ausgabe völlig erschließen.

Die abgedruckten Hss. werden im 2. Teil der Prolegomena
zuerst sprachlich charakterisiert, wobei dem Herausgeber seine
hervorragende Beherrschung der slavischen Sprachwissenschaft zu
Gebote steht. Ein ausführliches Fehlerverzeichnis und der Variantenapparat
der beigefügten griechischen Originale, die erstens
manche dunkle Übersetzung verständlich machen und zweitens
einen Vergleich der Melodien ermöglichen sollen, lassen die Ausgabe
zu einer im Rahmen des Möglichen wirklich erschöpfenden
Interpretation ihres Gegenstandes werden. Sie ist beinah eine
Pionierarbeit, denn die Tatsache, daß zur Bewältigung der Aufgabe
nicht nur eine ausgezeichnete philologische Bildung, sondern
auch gute musikalische Kenntnisse notwendig sind, bedingt es,
daß eine nur geringe Anzahl von Forschern sich ihr widmen kann.
In E. Koschmieder — einem ausgezeichneten Flötisten und Musikkenner
— ist diese Vereinigung gegeben, so daß man seiner
weiteren Arbeit auf diesem vernachlässigten Gebiet mit Spannung
entgegensieht.

Hamburg V. Setschkareff

Jahrbuch, Kirdienmusikalisches. Im Auftr. des Allgemeinen Cäcilien-
vereins für Deutschland, Österreich und die Schweiz in Verbind, mit
der Görres-Gesellschaft hrsg. von K. G. Feilerer. 38. Jahrg. 1954.
Köln: Bachem 109 S. 8°. DM8.—.

Die musikwissenschaftliche Komponente überwiegt auch im
neuen Jahrbuch. Hellmut Hucke kommt aufgrund einer Untersuchung
der Gradualverse des 5. Tons zu dem Ergebnis, daß
sich Anzeichen für eine bis in die Mitte des 8. Jahrhunderts reichende
regulierte Improvisationspraxis mit schulmäßigen Stilisierungsprinzipien
, Formschemen und festbleibenden melodischen
Elementen nachweisen lassen. Lucas Kunz lehnt die Deutung
des Episems in den Neumenhandschriften als rhythmischen bzw.
metrischen Zeichens ab und will es als Vortragszeichen aufgefaßt
wissen. Walter Lipphardt legt in vorbildlich exakter Beweisführung
Alter und Entstehungsort der Handschrift der Berliner
Staatsbibliothek Mus. ms. 40 047, eines der ältesten neu-
mierten Antiphonare des Abendlandes, auf die Jahre zwischen
1018 und 1021 und auf das Frauenstift in Quedlinburg fest und
untersucht anschließend die liturgischen Besonderheiten des Antiphonars
. Hellmut Federhofer steuert eine Studie über
Pietro Antonio Bianco und seine Vorgänger an der Grazer Hofkapelle
bei; Bianco war zugleich Hofkapellmeister, Komponist und
oberster Hofkaplan, und als solcher Beichtvater des späteren Kaisers
Ferdinand II. Aktuelle Fragen der liturgisch-kirchenmusikalischen
Praxis berühren Rudolf Quoika's interessante Darstellung
der Beschlüsse des Prager Provinzialkonzils von 1860
hinsichtlich der Reform der Kirchenmusik, die „ein Baustein für
das Motu proprio" vom Jahre 1903 wurden, Rudolf Walter's
gerade auch für den evangelischen Theologen und Kirchenmusiker
instruktive Studie über ,,Max Rcgers Choralvorspiele in ihrer
Auseinandersetzung mit geschichtlichen Vorbildern" und Johannes
Klassen's sehr gründliche Untersuchung über „Das Parodieverfahren
in der Messe Palestrinas".

Berlin Oskar Solingen

[Moser, H. J.:] Festgabe für Hans Joachim Moser zum 65. Geburtstag
25. Mai 1954. Hrsg. von einem Freundeskreis. Gewidmet von den
Verlagen Bärenreiter-Verlag, Kassel; Breitkopf & Härtel, Wiesbaden;
Cotta, Stuttgart; de Gruyter, Berlin; Hinnenthal, Kassel; Kistner &
Siegel, Lippstadt; Litolff, Frankfurt/M.; Merseburger, Berlin-Darmstadt
; Sikorski, Hamburg; Öst. Bundesverlag, Wien; Peters, Frankfurt
/M.; Nagel, Kassel; Reclam, Stuttgart; Schott, Mainz; Staack-
mann, Bamberg; Tonger, Köln; Wancura, Wien-Stuttgart. Auslief.:
Hinnenthal, Kassel [1954]. 171 S., 1 Bildnis, gr. 8°. DM9.—.

Originell wie der Jubilar, dem sie gilt, ist diese Festgabe.
Denn ihr Inhalt wird nicht, wie das üblich ist, von den Freunden
und Schülern des Gefeierten bestritten, sondern von diesem selbst.
Teils indirekt: mit einer von Heinz W e g e n e r bearbeiteten
Bibliographie Hans Joachim Moser, die auf 82 Seiten nicht weniger
als 123 3 Veröffentlichungen aufführt, — stupender Beweis
einer barocken Fruchtbarkeit, wie sie in der heutigen Musikwissenschaft
ohne Vergleich dasteht. Teils aber auch direkt: mit
einem von Moser auf Bitten seiner Freunde niedergeschriebenen,
47 Seiten langen „Selbstbericht des Forschers und Schriftstellers"
(Veröffentlichung Nr. 1234!) und einer Abhandlung „Über den
Sinn der Musikforschung" (Veröffentlichung Nr. 1235!). Gerade
auch die Kirchenmusik ist dem Jubilar zu bleibendem Dank verpflichtet
. Nicht nur, weil ihr unverkennbar sein Herz gehört, sondern
auch, weil er die kirchenmusikalische Forschung durch grundlegende
Einzeluntersuchungen und zusammenfassende Standardwerke
, durch immer neue Impulse und Mitarbeit an praktischen
Gestaltungsaufgaben, bis hin in die Einzelheiten der Notierung