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Ausgabe:

1956 Nr. 2

Spalte:

112-113

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Winter, Eduard

Titel/Untertitel:

Die tschechische und slowakische Emigration in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert 1956

Rezensent:

Spuler, Bertold

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Theologische Literaturzeitung 1956 Nr. 2

112

Geheimnischarakter der Glaubenswahrheiten nicht gerecht zu
werden vermag. Die erasmische „Vieldeutigkeit war seine Form
der Ehrlichkeit" (S. 24). Man sollte Erasmus als einen Mann der
differenzierten Stellungnahme (z. B. zum Anliegen der Reform
innerhalb der Reformation) würdigen und ihm als homo duplex
so gut wie dem homo religiosus und dem homo ludens Gerechtigkeit
zuteil werden lassen. Der Analyse des Endiiridions läßt Auer
eine kurze Charakteristik der Devotio-Moderna vorangehen und
zeigt, wie Erasmus schon durch diese Bewegung im Biblizismus
verwurzelte und die Patristik schätzen lernte. Er übernahm das
personalistische Verständnis des Christlichen, den Moralismus und
auch die weitgehende Vergleichgültigung von Kirche, Dogma und
Sakrament als ein Erbteil der dem Mystizismus zugeneigten Devotio
-Moderna, wenn er auch selbst nicht die mystische Erfahrung
nachvollziehen konnte. Stärker als der ihm nur Form und Glanz
der Sprache repräsentierende Humanismus der Italiener (wird
Vallas sachlicher Einfluß nicht doch unterschätzt?) habe Erasmus
der ihm durch Colet entgegentretende Humanismus der Engländer
beeinflußt, vor allem sei er durch die Wirkung Colets zum Theologen
herangereift. Durch Colet empfing er den Impuls, sich für
den Geist des frühen Christentums einzusetzen. —

Im Endiiridion vereinen sich alle Einflüsse. Hier will er der praktischen
Frömmigkeit einen guten Dienst erweisen. Das Endiiridion zeigt
ein Gesamtbild seiner Theologie überhaupt, die der Spekulation abgeneigt
und der Praxis verbunden ist. Der dem Christen aufgetragene
Kampf mit der Welt ist nur durchführbar, wenn der Mensch über sein
Wesen Klarheit besitzt. Erasmus bringt eine Reihe anthropologischer
Aussagen, die die sorgfältige Analyse Auers richtig auf das platonisch-
dichotomische Schema Leib-Geist zurückführt. Der Christ hat das Grundgesetz
christlicher Frömmigkeit ernstzunehmen. Er ist Fremdling in der
Welt und lebt in der Ausrichtung auf die Ewigkeit. Ein eschatologischer
Grundzug in der erasmischen Frömmigkeit wird damit deutlich. Der besondere
Wert der Darstellung Auers besteht darin, das Grundgesetz in
seinem historischen Ursprung (neuplatonisch, vermittelt durch Hieronymus
und Colet) und seine Bedeutung und Anwendung für das Christenleben
herausgestellt zu haben. Vor allem ist die energische Betonung
der Christozentrik als der Mitte der erasmischen Frömmigkeit und als
der geheime Skopus seiner theologischen Arbeit neu, aber nach den
Darlegungen S. 103 ff. überzeugend. Christus ist nicht nur ethisches
exemplum, sondern er ist der die Nachfolge des Christen ermöglichende
Erlöser. Der Exemplumbegriff hat einen ontologischen Hintergrund.
Christus ist der Logos und als Logos Haupt der geschaffenen Welt, der
alle Heilsgüter von der Menschwerdung bis zur Auferstehung dem Menschen
schenkt und ihn in die (nicht nur moralistische) Nachfolge, in das
Vertrauen und die Hoffnung zu Gott hineinzieht. Die Nachfolge bewährt
sich in der Sittlichkeit, aber Frömmigkeit wird damit nicht einfach
— wie eine verbreitete Meinung behauptet — Sittlichkeit.

Christus ist die Mitte des Lebens, die Mitte der Heiligen Schrift,
er ist Haupt und Subjekt der Kirche. Auer fragt, ob Erasmus mit dieser
Erkenntnis immer radikalen Ernst gemacht habe. Er vermißt nämlich die
umfassende Erkenntnis, daß die Inkarnation sich in den Formen und
Institutionen der Kirche notwendig leibhaft fortsetzt, daß die Institutionen
der Kirche also, ihre Dogmen und Sakramente, die leibhaftige
Vergegenwärtigung des Christuswortes sind, in denen der Logos seine
incarnatio continua vollziehen will.

Erasmus will den Menschen mit Christus in Verbindung bringen.
Er kritisiert die kirchlichen Institutionen, verwirft sie wohl keineswegs,
aber spricht ihnen letztlich zu geringen Wert zu. Das Wesentliche ist
für Erasmus Mysterium, Spiritus nicht Caro. Die Relativierung des kirchlichen
Apparates wird deutlich. Der Katholik wird ihr besonders kri-
tisdi gegenüber stehen müssen. Auer hebt als das Wegweisende des
Endiiridion den Christozentrismus, den biblischen Grundzug, seine Anweisung
zum meditativen und allgemein verbindlichen geistlichen Leben
inmitten der welthaften Existenz hervor. — Hier vermag Erasmus
jedem evangelischen Menschen Helfer zu werden, besonders auch der
praktischen Theologie für die Not des Meditationsproblems Weisung
zu geben. Diese Möglichkeit hat Auer erneut betont.

Das wertvolle und sorgfältig gearbeitete Werk (auf die Fülle
der Anmerkungen sei besonders hingewiesen) verdient Anerkennung
.

Einige Hinweise: Folgende Namen werden falsch geschrieben:
A. Flitner (S. 9 und öfter), Paul Kalkhoff (Anm. 96 S. 217), Barnikol
(Anm. 32, S. 219), Lietzmann (Anm. 257, S. 244). S. 1 5 unten Druckfehler
: Unerbittlichkeit. Ich vermißte unter den sonst vollständigen Literaturhinweisen
die ältere Arbeit von F. Lezius: Zur Charakteristik des
religiösen Standpunktes des Erasmus, Gütersloh 1895, ebenso H. Sdilin-
gensiepen: Erasmus als Exeget ZKG N. F. XI, 1929, S. 16 ff. Bedauerlich
ist das Fehlen der Arbeiten des verdienstvollen P. Kalkhoff,
wie: Erasmus, Luther und Friedrich d. Weise. Eine reformationsgeschichtliche
Studie. Sehr. d. Ver. f. Ref. Gesch., Leipzig 1919. Die Stellung der
deutschen Humanisten zur Reformation in: ZKG VI. Bd., N. F. IX.
1928, S. 2 ff. und: Die Anfänge der Gegenreformation in den Niederlanden
I.Teil, Sehr. d. Ver. f. Ref. Gesch. XXI, Halle 1903/04, II.Teil,
ebda, 1904.

Erlangen _ F. W. Kantzenbach

Roth, Erich: Die unbekannte Urform der Konfession Albrechts von
Preußen.

Zeitschrift für Kirchengeschichte LXVI, 1954/55 S. 272—293.
Stern, Leo: Der große deutsdie Naturforscher und Humanist Geor-
gius Agricola und seine Zeit.

Georgius Agricola. 1494—1555. Zu seinem 400. Todestag 21. November
1555, S. 9—12. Deutsche Akademie der Wissenschaften zu
Berlin.

Thulin, Oscar: L'immagine dell' uomo del Rinascimento e della Ri-
forma.

Protestantisma 10, 1955 S. 50—64.

KIRCHENGESCHICHTE: NEUZEIT

Winter, Eduard: Die tschechische und slowakische Emigration in
Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte d.
hussit. Tradition. Berlin: Akademie-Verlag 1955. VII, 568 S. gr. 8°
= Deutsche Akademie d. Wissenschaften zu Berlin. Veröffentl. d.
Instituts f. Slawistik. Nr. 7. DM 42.—.

Angeregt durch seine Untersuchungen über die weiten Wirkungen
des Hallischen Pietismus und seine Bemühungen, unter
den slawischen und andern Nachbarn Deutschlands Fuß zu fassen,
hat sich W. nun einem Fragenkreise zugewandt, der in theologischer
und sprachlicher Hinsicht (Brüder-Unität bzw. Übersetzer
für pietistische Literatur) eine der Voraussetzungen für die ausgedehnte
Wirkung des Pietismus bildet. Gestützt auf eine große
Anzahl von Urkunden, die überwiegend bisher nicht ausgewertet
worden sind und von denen vieles (wie in früheren Arbeiten W.s)
in einem Anhange zugänglich gemacht wird, beschreibt der Verf.
die einzelnen Einwanderungswellen des 17. und 18. Jhdts. (nach
Tschechen und Slowaken getrennt, was voll den historischen Gegebenheiten
entspricht), ihre Voraussetzungen in der Heimat
und das religiöse und wirtschaftliche Schicksal der Einwanderer.
Da die tschechischen Neuankömmlinge (anders als die Slowaken)
von Hause aus mit dem Luthertum nicht verbunden waren, hatten
sie begreiflicherweise im benachbarten Sachsen, dem ersten
Hauptziele der Wanderung, mit allerlei Schwierigkeiten zu kämpfen
. Daneben spielen Fragen der wirtschaftlichen Einordnung in
ihrer neuen Heimat und sprachliche Schwierigkeiten eine bedeutsame
Rolle.

Aus W.s Darstellung und den beigegebenen Urkunden geht
klar hervor, daß die Aufnahmeländer, d. h. besonders Sachsen
und Preußen, aufs Ganze gesehen den Exulanten wirklich entgegenkamen
und die Ernsthaftigkeit ihrer religiösen Überzeugung
zu würdigen wußten. Freilich verschiebt W. dabei den Akzent
seiner Darstellung zu sehr vom religiösen Anliegen auf wirtschaftliche
und soziale Fragen; in seinem Werke über den Josefinismus
(1942) hatte er diese Verhältnisse (entgegen seiner Bemerkung
S. 257, Anm. l) noch richtiger gesehen. Man kann die
Geisteshaltung vergangener Jahrhunderte nicht zu sehr unter Gesichtspunkten
sehen, die (bis zu einem gewissen Grade) im
20. Jhdt. von Bedeutung sind (vgl. z.B. auch S. 15, 105, 109,
120 f.). Auch die hier gebrauchte Terminologie wird den Gegebenheiten
des 18. Jhdts. nicht immer gerecht. Ob man die Geschichte
des tschechischen Volkes nur in der Tradition des Hussi-
tentums sehen darf und wie man dieses zu beurteilen habe, das
ist eine Frage, die unter den Tschechen selbst (und auch in der
Auseinandersetzung mit den Slowaken!) ganz verschieden beurteilt
wird; auch darf man der tschechischen Geschichtswissenschaft
bis 1945 gewiß nicht vorwerfen, daß sie insgesamt „das Erbe des
Hussitismus vertan" und dagegen Stellung genommen habe (z. B.
S. 6, 120 f.); auch andere slawische Völker (z.B. die Polen) haben
sie eher zuviel als zu wenig von einer hussitischen Geisteshaltung
geprägt gesehen!

Auf die Dauer war es jedenfalls so gut wie ausschließlich das
religiöse und das humanitäre (Comenius) Gebiet, auf dem die