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Ausgabe:

1956 Nr. 1

Spalte:

59-62

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Wingren, Gustaf

Titel/Untertitel:

Die Predigt 1956

Rezensent:

Trillhaas, Wolfgang

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Theologische Literaturzeitung 1956 Nr. 1

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diese Stimmen „ne to detskije, ne to d'javol'skije"4 und seine Angabe,
daß sie auf ein beschwichtigendes Wort des Apollonius sofort verstummen
, in völlig willkürlicher Weise unterdrückt. Einer geistreichen Interpretation
wird hier der offenbare Sinn der Erzählung Solovjevs bedenkenlos
geopfert. — Reichlich gekünstelt und wenig überzeugend ist
endlich auch die Deutung der Namen, die Solovjev den Führern der
drei großen Konfessionen (Papst Petrus, Staretz Johannes, Professor
Pauli) gibt (S. 215 ff.).

Neben diesen wenig glücklichen Deutungen finden sich auch
sehr gute. Besonders hervorzuheben ist die schöne Deutung der
Geschenke des Antichrist an die drei Konfessionen, S. 96 ft. Im
allgemeinen aber muß gesagt werden, daß die Lektüre des Buches
das Verständnis der Erzählung Solovjevs nur wenig fördert.
Und der Verf. hätte seine eigentliche Absicht, nämlich eine „Geschichtstheologie
des Widersachers Christi" zu geben, vielleicht
besser erreicht, wenn er auf die Bindung an Solovjev überhaupt
verzichtet und sich stattdessen allgemein auf Bibel und kirchliche
Tradition gestützt hätte.

Kiel Ludolf Müller

4) Ich habe in meiner Übersetzung S. 66 diese knappen Worte
etwas umständlich wiedergeben müssen: „man wußte nicht recht, ob
von Kindern oder von Teufeln".

O n a s c h, Konrad: Die Ikone der Gottesmutter von Vladimir in der
Staatlichen Tret'jakov-Galerie zu Moskau.

Wissenschaftlidie Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-
Wittenberg. Gesellschafts- und sprachwiss. Reihe V, 1955 S. 51—62.
Schultz e, Bernhard: Eucharistie und Kirche in der russischen Theologie
der Gegenwart.

Zeitschrift für katholische Theologie 77, 1955 S. 257—300.
Spul er, Bertold: Die orthodoxen Kirchen. XXXIII.

Internationale Kirchliche Zeitschrift 45, 1955 S. 141—164.

SYSTEMATISCHE THEOLOGIE

W i n g r e n, Gustaf: Die Predigt. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
1955. 286 S. gr. 8° = Theologie der Ökumene Band 1. Lw. DM 15.80.

Es handelt sich hier nicht um einen Beitrag zur Homiletik,
sondern um eine grundlegende systematische Konzeption. Was
die ältere und neuere Homiletik geleistet haben, liegt mit be-
ziehungsvoller Betonung außerhalb des Interessenkreises dieses
Buches. W. hätte auch mit einem anderen Titel zum Ausdruck
bringen können, daß er das Ereignis des Evangeliums, die Verkündigung
des Kerygmas in der Welt so universal wie nur möglich
zu deuten versucht. So viel das Buch auch zur biblischen Hermeneutik
oder etwa zur Lutherinterpretation beiträgt, so ist es
doch in keinem Betracht ein historisches Buch, sondern ein die
gegenwärtige Theologie und Kirche anredendes und in sie dringendes
Buch, ein Buch von eindrucksvoller Geschlossenheit, thesenfreudig
(das Inhaltsverzeichnis liest sich über 6 Seiten lang wie
die Aufforderung zu einer Disputation), polemisch, zu Zustimmung
und Widerspruch reizend, fesselnd auf jeder Seite.

Der Grundgedanke des Buches ist folgender: Der Mensch
ist durdi die Sünde der Gefangene des Satans geworden. Diese
Gefangennahme des Menschen unter dem Gesetz der Sünde
(Rom. 7, 23) ist zugleich eine Störung der Schöpfung Gottes, sie
ist eine Verhinderung des wahren Menschseins, das nur in Freiheit
möglich ist. Nun aber ist durch Christi Tod und Auferstehen
ein entscheidender Sieg über den Satan und eine anhebende Befreiung
des Menschen aus der Gefangenschaft erfolgt. Gott hat
sich zum Menschen bekannt, er ist selbst Mensch geworden, um
uns zu befreien. Die Predigt ist die Verkündigung von diesem
Siege. Das ist aber mehr als nur ein Gedanke oder ein „Hinweis",
es ist eine sich durch die Zeit der Kirche hindurch fortsetzende
Befreiungsaktion. Die kraftvolle Erneuerung der Grundgedanken
Luthers, die W. hier vollzieht, ermöglicht es ihm, den Schöpfungsglauben
von Anfang an bis in die Eschatologie hinein in
engster Verwobenheit mit der Erlösung zur Geltung zu bringen.
Die konsequente Durchführung der Deutung der Sünde als Gefangenschaft
unter den Satan erspart kurzerhand alle Spekulationen
über verlorene und „noch" erhaltene Fähigkeiten und

Kräfte des Menschen nach dem Fall. Kurz, das Buch über die Predigt
weitet sich unversehens nadi allen Seiten aus und steht
schließlich wie ein Abriß der Lehre des Luthertums — in steter
kraftvoller Polemik gegen Barth und seine Schüler — vor uns.

W.s Buch ist in 7 Kapitel eingeteilt. Das 1. Kapitel „Die Situation
der Predigt" grenzt die Position W.s gegen verschiedene in Theorie
und Praxis wirksame Predigtauffassungen ab, so gegen die Untersdiei-
dung von „Predigt" und „Verkündigung", von Kerygma und Didadie,
gegen die falsche Entgegensetzung des Immanenten und Transzendenten
sowie des Subjektiven und des Objektiven. Die stets wiederholte
Warnung vor den Gefahren der heutigen antiliberalen Reaktion in der
Theologie, die zu der verhängnisvollen Entgegensetzung von Gott und
Mensch, von Gotteswort und Menschenwort geführt hat, zieht sich
von hier aus wie ein roter Faden durch das ganze Buch. Das 2. Kapitel
„Der Botschaftscharakter der Bibel" versucht nun, die oben erwähnte
These als das Grundmotiv der ganzen Bibel zu erweisen. Das Kapitel
ist eine die ganze Bibel kraftvoll auf diesen einen Nenner zwingende
biblische Theologie. Beide Testamente haben in Christus ihre Einheit.
Der Kampf Gottes gegen den „Feind", die Sünde, und der Sieg in
Christi Tod und Auferstehung sind das durchgängige Motiv der Heilsgeschichte
, zu der sich W. selbstverständlich und in stark realistischem
Sinne bekennt. Die Bibel bedarf der Fortsetzung des in ihr bezeugten
Geschehens in der Predigt. Das 3. Kapitel „Schöpfung und Sünde" ist
die eine Seite der hier gebotenen Anthropologie, es handelt von dem
„Menschen vor der Predigt". Dies Kapitel ist wichtig, weil hier, wenn
auch vorwiegend im Negativen, jene Zusammenbindung der Schöpfungslehre
mit der Soteriologie erfolgt, durch welche auch die Auffassung
der Predigt selbst einen so „humanen" Zug bekommt: Predigt ist
schöpferisch! Glaube ist Menschlichkeit! Das 4. Kapitel „Christus im
Wort" handelt von der Predigt selbst. Es enthält eine Lehre vom Amte
des Wortes, nicht ohne polemische Zuspitzungen gegen verschiedene
Versuchungen durch eine überspitzte Amtslehre (Wendung gegen die
successio apostolica!). Was freilich W. von dem gepredigten Wort
selbst und von seiner Wirkung sagt, kann an Stärke kaum mehr überboten
werden. Die Predigt ist „ein Mund, durch den der gegenwärtige
Christus uns heute zum Leben ruft". Im Wort werden uns Tod und
Auferstehung zuteil! (S. 139). Eben diese Verkündigung im Wort ist
freilich an die gegenwärtige Phase der Heilsgeschichte gebunden. Wie
der Mensch unterwegs ist, so ist auch das Wort unterwegs, es gibt
ohne den temporalen Aspekt kein Verständnis der Predigt und kein
Verständnis des Glaubens. Das 5. Kapitel „Tod und Auferstehung"
will nun den zentralen Inhalt der Predigt darlegen. Während W. im
Blick auf das Predigtgeschehen von Tod und Auferstehung doch nur
in einem geistlichen oder sakramentalen Sinne zu reden vermag, kämpft
er hier gegen die modernen Exegeten, die er in einer auffallenden
Anonymität anredet, zugunsten der „Faktizität" der Auferstehung
Christi. Natürlich stehen auch Tod und Auferstehung im Zusammenhang
der Theologie des Sieges und der Befreiung. Die Botschaft davon,
das Evangelium, ist das Neue. Aber das Alte, das Gesetz, bleibt doch
um unserer Sünde willen in Kraft. Daß sich die Sakramente in pau-
linischer Sicht leicht in den Rahmen der W.sehen Gesamtschau einfügen,
ist ohne weiteres klar. Das 6. Kapitel „Der wiederaufgerichtete Mensch"
bringt nun einen zweiten Ansatz der Anthropologie; es handelt von
dem Menschen nach der Predigt. Er ist der Mensch des Jüngsten Tages.
Seine Wiederaufrichtung ist begonnen, aber noch nicht abgeschlossen.
Bezeichnend für W. und ganz auf der Linie seines Buches über „Luthers
Lehre vom Beruf" ist es nun, daß der wiederaufgerichtete Mensch
nicht darin charakterisiert ist, daß er sich in einer Bewegung oder in
einer Sekte sammelt oder sonstwie abgrenzt gegen die Welt. Er geht
vielmehr an seinen Ort zurück und findet sich in seinen Beruf. Die
Kirche muß offene Kirche sein, sie muß zur Peripherie hin tendieren
und darf sich nicht gegen die Welt abschließen. Vollends kann sie ja
als Kirche soldier Abschließung keine Mission mehr treiben. Das Stichwort
für diese „offene Kirdie" ist für W. die Ortsgemeinde. Daß hier —
wir würden sagen — die Volkskirche eine neue theologische Deutung
erfährt, hat etwas außerordentlich Bestechendes. Ganz in dieser Richtung
geht dann das 7. Kapitel „Der Text und der lebendige Gott"
weiter zu praktischen Fragen: der temporale Aspekt realisiert sich
gleichsam im Kirchenjahr, die Lehre von Gesetz und Evangelium ist
das Geheimnis der „Teilung des Wortes" durch den Geist. So geht das
Wort, ja, so geht Gott ganz in unsere Menschheit ein. Um dieser Erkenntnis
willen sammelt schließlich W. seinen Widerspruch gegen die
heute weithin herrschende Auffassung, Gott und Mensch seien unendlich
geschieden und widereinander, in einer eindrücklichen, polemisch
gegen Barth gewendeten Erörterung der Lehre von der communicatio
idiomatum. — Ein Bibelstellen- und Namenregister beschließen das Buch.

Im ganzen haben wir hier eine kühne und freie Restitution
des Anliegens der lutherischen Theologie vor uns; der Grundgedanke
zieht sich — ganz abgesehen von kräftigen Wiederholungen
— unübersehbar und von den Literaturbezügen unver-
deckt durch alles hindurch. Dankbar begrüßt man die tempera-