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Ausgabe:

1956 Nr. 1

Spalte:

57-59

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Maceina, Antanas

Titel/Untertitel:

Das Geheimnis der Bosheit 1956

Rezensent:

Müller, Ludolf

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57 Theologische Literaturzeitung 1956 Nr. 1 58

druck von dem von W. bearbeiteten umfangreichen Quellenmaterial
vermitteln. Auf Vieles, etwa Halle und die Moskauer
Schulen, können wir hier gar nicht eingehen. Manches muß den
Slavisten zur Beurteilung überlassen bleiben. Es hätte aber die
Bedeutung der Arbeit keineswegs eingeschränkt, wenn ihr Verf.
auch einige andere Vorgänger, als nur Cyzevskij, zitiert hätte.
Im Vorwort oder in der Zusammenfassung hätte man Hinweise
auf oder Auseinandersetzungen mit Arbeiten wie Wotschkes
Pietismus in Moskau, oder Ilmari Salomies: Der hallesche Pietismus
in Rußland zur Zeit Peters des Großen, Helsinki 1936 erwartet
. Ebenso vermißt man E. Benz: August Hermann Frandce
und die deutschen evangelischen Gemeinden in Rußland (Auslandsdeutschtum
und Evangelische Kirchen 1936). Auffallend ist
das Übergehen von A. Mietzschke: Heinrich Milde. Ein Beitrag
zur Geschichte der slavischcn Studien in Halle, Berlin 1941, der
u. a. auf die Bedeutung von Prokopovic und Todorskij hinweist.
Von diesen, nur in Auswahl angegebenen Autoren ist das von
W. zweifellos gründlich bearbeitete Feld in seiner Bedeutung
2. T. bis in Einzelheiten bereits erkannt worden. —

Die Arbeit W.s hat das unbestrittene Verdienst, der Gestalt
Franckes und des Halleschen Pietismus kräftige Konturen
gegeben zu haben. Die heute oft mit viel Elan herausgestellte
..ökumenische Gesinnung" des A. H. Francice-Kreises erhält so
sehr reale Hintergründe. Aber das ist keineswegs so neu, wie es
nach dem Buche scheinen könnte! Den sehr handfesten „Reichs-
gottes-Kapitalismus" der Hallenser hat bereits Hinrichs in seinem
1941 erschienenen 1. Bande der Biographie Friedrich Wilhelms
[, eingehend analysiert. Bei W. wird aber das geistesgeschichtliche
Phänomen des Pietismus auf diese ökonomischen und
gesellschaftlichen Hintergründe eingeschränkt. Dabei muß er
dann zum Schluß kommen: „Nur soweit der Pietismus eine
Funktion im Sinne der Aufklärung hatte, wirkte er anregend.
Als er diese eingebüßt hatte, war auch keine wesentliche Anregung
mehr möglich" (S. 160). So wird denn folgerichtig Skovo-
roda der Aufklärung zugeschrieben, und über Tichon Zadonskij
nur eine Nebenbemerkung verloren (S. 241). Aber der Pietismus
erwies gerade seine Kraft und geistesgeschichtliche Bedeutung,
als er die ökonomischen Grundlagen längst verlassen hatte! Der
von Katharina II. eingesperrte Arsenij Maceevü las Arndts „Wahres
Christentum", worauf Müller hingewiesen hat. Der von Arndt
und Buddeus tief beeinflußte Tichon Zadonskij4 ist von Dosto-
evskij als Vorbild für seinen Bischof Tichon in den „Teufeln" —
und nicht nur allein für diesen! — genommen worden. M. E. ist
das bedeutsamer, als der pietistisch beeinflußte Urgroßvater Pus-
kins, denn es zeigt, daß der Pietismus als geistige Größe seine
eigene Souveränität besitzt.

Hallf/Saale Konrad Onasch

*) Zu Tichon Zadonskij verweise ich außer den bekannten Arbeiten
von Cyzevskij auf [. Smolitsch, a. a. O., S. 516 ff. vgl. ferner L. Müller
: Die Kritik des Protestantismus i. d. russ. Theologie vom 16. bis
18. Jahrhundert, Mainz 1951, Ders.: Russischer Geist u. evangelisches
Christentum. Witten (Ruhr) 1951. ---J

( M a c c i n a,/Antanas: Das Geheimnis der Bosheit. Versuch einer Gc-
' Schichtstheologie des Widersachers Christi als Deutung der „Erzählung
vom Antichrist" Solovjevs. Freiburg: Herder. [1955]. IX, 227 S.
8°. DM 12.80.

Der Verfasser nennt sein Buch eine „Deutung" der Erzählung
Solovjevs. Aber es ist nicht eine Deutung im Sinne einer
Erklärung der Schrift aus den Voraussetzungen, aus denen sie
entstanden ist. aus den theologischen, ideologischen, künstlerischen
Absichten, aus den Gedanken, Gefühlen oder vielleicht
auch aus dem Unterbewußtsein ihres Verfassers. Das Buch M.s
entwirft vielmehr in eigener systematischer Konstruktion eine
• .Geschichtstheologie des Antichrist" und greift dabei zwar häufig
, aber nicht konsequent auf Gedanken oder Bilder aus der Erzählung
Solovjevs zurück.

Sowohl M. wie Solovjev stehen auf dem Standpunkt der
kirchlichen Eschatologie, und deswegen entspricht die Interpretation
der Erzählung Solovjevs durch M. im allgemeinen dem
Geist, in dem Solovjev sie geschrieben hat. Immerhin sind Unterschiede
da. Den theologischen Standpunkt M.s könnte man

als katholischen Existentialismus bezeichnen. M. will die Botschaft
der Kirche neu sagen mit den Ausdrucksmitteln der
Existenzphilosophie. Weicht schon dieser Modernismus der theologischen
Sprache in auffallender Weise von der Ausdrucksweise
Solovjevs ab, so bemerkt M. auf der anderen Seite nicht die
außerkirchlichen, unkatholischen Elemente bei Solovjev, z. B.
dessen Ablehnung der Lehre von der Schöpfung aus dem Nichts.

Aus dieser Spannung zwischen der theologischen Weltanschauung
Solovjevs und derjenigen M.s, über die sich der letztere
nicht kritisch Rechenschaft gibt, entstehen manche Fehl- oder
Überinterpretationen von Gedanken oder Bildern Solovjevs. So
wird etwa auf S. 90 das „zweite Tier" der Offenbarung, das sich
„von der Erde" erhebt (Apk. 13, 11), zwar sehr tiefsinnig gedeutet
, aber diese Deutung verfehlt nicht nur den Sinn der Symbol-
sprachc der Apokalypse, sondern auch die Gedanken Solovjevs.
Denn weder jene noch dieser verstehen hier unter „Erde" „unseren
Daseinsraum", „unser gesamtes Dasein", noch meinen sie
mit dem zweiten Tier überhaupt den Antichrist, sondern seinen
Propheten, wie mindestens Solovjev das in der Einleitung zu den
„Drei Gesprächen" selbst expressis verbis sagt1. — Das seltsame
Datum der Konzilseröffnung am 14. September versteht M. im
Gegensatz zu Stremooukhoff, der es von dem drei Tage später,
also am 17. September, dem Tag der Sophia, erfolgenden Erscheinen
des apokalyptischen Weibes her völlig überzeugend deutet,
von dem auf den 14. September fallenden Fest der Kreuzerhöhung
her. Der Antichrist wolle damit zeigen, daß von nun an
nicht mehr das Kreuz Christi das einigende Band der Konfessionen
sei, sondern er, der Weltherrschcr. Hätte Solovjev so etwas
sagen wollen, so hätte etwa der Karfreitag viel besser gepaßt
als das Fest der Kreuzerhöhung, dessen historische Grundlage
M. übrigens zu übersehen scheint. Wer weiß, welche Bedeutung
die Sophia für Solovjev gehabt hat, wird sicher der Erklärung
Stremooukhoffs den Vorzug geben.

Zu weiteren Einzelheiten sei folgendes bemerkt. Das wegwerfende
Urteil über Strauß und Renan auf S. 56 steht dem Verf. nicht
zu, da er ihre Bücher anscheinend nicht gelesen hat. Weder der eine
noch der andere dachten daran, „die Geschichtlichkeit Jesu hinwegzufegen
". — Die Auffassung von Christus als einem Vorläufer hat Solovjev
nicht „hellseherisch" vorausgeahnt; denn sie ist nicht erst nach
ihm hervorgetreten, sondern war bereits im 18. und 19. Jhdt. gang und
gäbe und findet sich sogar, wie Solovjev an dieser Stelle selbst sagt,
bereits bei Muhammed2. — Zu der Behauptung, Solovjev sei „nicht
nur seiner Gesinnung nach, sondern auch formell ein Katholik" gewesen
, sollte der Verf. nicht nur die Arbeiten von H. Falk und
Wl. Szylkarski zitieren, sondern vielleicht auch, wenn nicht meine —
das wäre zu viel verlangt —, so doch wenigstens die Arbeiten eines
Bernhard Schultze S. J. und des gleichfalls katholischen Henri de
Visscher heranziehen'. — Grotesk mutet es an. wenn M. auf S. 76
nicht nur von Solovjev, sondern auch von Dostojevskij sagt, er zeige
(im „Großinquisitor"), „daß die kirchliche Hierarchie . . . Christus
ebenso untreu werden kann wie ein jeder Christ und daß sie nur dann ^*
Christi Werk in der Gesdiichte fortführt, wenn sie selbst eine existentielle
Ausstrahlung des Papsttums bleibt . . ." Zwar möchte ich glauben
, daß es sich hier nur um eine stilistische Ungeschicklichkeit des
nicht in seiner Muttersprache schreibenden Verf. handelt; dennoch kann
ich angesichts mancher Versuche zu einer katholischen Umdeutung
Dostojevskijs einen solchen Satz nicht unwidersprochen lassen. — Die
Identifizierung der Unzucht mit der Lüge auf S. 77 ist wenig überzeugend
. Mindestens geht sie weit über das hinaus, was Solovjev mit der
Herkunft des Antichrist aus der Unzucht sagen will. — Wenn Solovjev
die Päpste aus Rom verbannt werden läßt, so denkt er dabei wohl
konkret an den Konflikt zwischen dem Papsttum und dem Königreich
Italien nach 1870 (gegen M. S. 105). — Völlig verfehlt ist die Deutung
der in den letzten Tagen der Herrschaft des Antichrist aus der Unterwelt
dringenden Stimmen, die M. S. 193 für ein „Symbol für den Ruf
der Märtyrer zum Lamm" gemäß Apk. 6, 9 f. hält. Diese Deutung ist
überhaupt nur dadurch möglich, daß M. Solovjevs Bemerkung über

l) In meiner Ausgabe der Erzählung Solovjevs (2. Aufl., München,
Verlag Hermann Rinn o. J.) S. 13. Übrigens bedaure ich, daß M. meine
Übersetzung in der 1. und nicht in der 2., an manchen Stellen verbesserten
Auflage benutzt hat.

J) A. a. O. S. 30.

3) Vgl. etwa Bernhard Schultze, Russische Denker, Wien 1950.
S. 290; H. de Visscher in „Russie et la Chrctiente", 1949, S. 17-36;
Ludolf Müller, Solovjev und der Protestantismus, Freiburg 1951; ders.
..War Solovjev katholisch?" in „Evg. Theologie", Juli 1951 (11. Jahrgang
, H. 1).