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Ausgabe:

1956 Nr. 10

Spalte:

624-625

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Maurer, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Bekenntnisstand und Bekenntnisentwicklung in Hessen 1956

Rezensent:

Adam, Alfred

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Theologische Literaturzeitung 1956 Nr. 10

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„Wunder der Geburtsstunde, seiner Wiedergeburt" (II, 137 ff.)
ein Postulat sein und bleiben. Vermutlich läßt das Modell des
„Turmerlebnisses" oder der „subita conversio" nun eben auch
bei dem dritten Reformator nach einem solchen Ereignis und Erlebnis
suchen. Hier ist moderne Skepsis gegenüber der verpflichtenden
Kraft einer in zunehmendem Maße intellektuell aufgedeckten
Wahrheit am Werke, an deren Stelle eine Überschätzung
des — eben nicht nachweisbaren — besonderen Erlebnisses
tritt. Die helle, kraftvolle Nüchternheit, die für Zwingli
immer wieder so bezeichnend ist, spricht jedoch dafür, daß es
sich bei ihm doch um eine stetige, langsam wachsende Freilegung
des biblischen Wortes handelt.

Auch in diesem Bande tritt neben die Auswertung und Wiedergabe
der bisherigen Forschungsergebnisse Neues hinzu; nach
Lage der Dinge können es z. Zt. nur Randprobleme sein: so
nimmt F. an, daß von den beiden Fassungen des Fabelgedichtes
vom Ochsen die lateinische vor der deutschen bestanden habe.
Beachtlich ist auch, daß F. trotz begründeter Zweifel anderer
der Meinung ist, Z. habe den Zug nach Pavia-Mailand von 1512
selbst mitgemacht, wie mir scheint, mit guten Gründen (II, 92 ff.).
Die meisten Wünsche bleiben bei der Skizze über das Verhältnis
Z.s zu den Kirchenvätern offen. Wieweit diese Wünsche bereits
durch die Untersuchung von Arthur Rieh, Die Anfänge
der Theologie H. Z.s, 1949, erfüllt sind, kann ich z. Zt. nur
durch die Besprechung von Frz. Lau (ThLZ 1952, 618 f.) feststellen
. Das Problem wird auch dadurch interessant, daß der „in-
certus auetor" zu den Paulinen, von dem F. annimmt, daß er
„sich nicht genauer bestimmen läßt" (II, 240) ebenso wie der
Vf. der pseudohieronymianischen Kommentare — Pelagius ist.

Der dritte Band umfaßt die Jahre 1520—1525 unter dem
Obertitel „Seine Verkündigung und ihre ersten Früchte". Das
Bild der Frucht bestimmt dann auch die Untertitel der Hauptabschnitte
: „Der Ackerboden", d.h. „Zürich auf der Schwelle zur
Reformation", „Der Säemann", gemeint ist Z.s Predigttätigkeit,
„Die keimende Saat", d. h. die kirchlichen und politischen Neuanfänge
in Zürich, „Die reifende Frucht", d. h. die Durchsetzung
und Abschirmung dieser Neuanfänge gegenüber den alten und
den radikalen Mächten, sowie „Die fällige Ernte", d. h. die Neugestaltung
der gottesdienstlichen, sozialen und geistigen Ordnung
des Lebens des Züricher Gebietes.

Die bereits im zweiten Bande zutagetretende Neigung,
Einzelthemen monographisch zu behandeln, wirkt sich hier dahingehend
aus, daß der erste Hauptabschnitt, über das Jahr 1525
hinausgreifend, eine Abhandlung über Z. als Prediger überhaupt
ist. (Daher hat es seine Berechtigung, daß die in einer rein biographischen
Darstellung unangebrachte Erörterung über die Quellengrundlage
eines solchen Unternehmens ausführlich dargeboten
wird.) Ähnliches gilt von dem freilich bei weitem nicht so umfangreichen
Schlußabschnitt, in dem die „kulturellen Auswirkungen
" der Reformation in Zürich dargestellt und gewertet werden
: Armenpflege, Ehegerichtsbarkeit und Schulordnung. Dazwischen
stehen die Stationen, durch die diese völlige Neuordnung
dann möglich wurde.

Auch hier ist ein Thema des Bandes inzwischen ja neu erarbeitet
worden: Z.s Gottesdienstreform, u. zw.durch die aufschlußreiche Arbeit
von Fritz Schmidt-Clausing, Z. als Liturgiker, 1952 (vgl. dazu
L. Fendt ThLZ 1953, 293 ff.).

Blickt man auf die bisher erschienenen Teile dieser breit
angelegten Biographie, deren über 1200 Seiten reinen darstellenden
Textes rund 140 Seiten in Köhlers Biographie entsprechen,
dann fragt man sich natürlich, welchen Sinn es haben kann, so
bald neben Köhlers Darstellung eine neue zu setzen. Aufs Ganze
gesehen könnte man das Verhältnis beider Werke zueinander mit
dem Unterschied zwischen einer Photographie und einer Zeichnung
vergleichen: eine Photographie nimmt alles Sichtbare auf,
eine Zeichnung wählt nicht nur aus, sondern sie vermag auch im
Aufgenommenen stärker zu werten, deutet minder Wichtiges
nur an. Aber Vergleiche haben nur begrenzte Ausdruckskraft:
der Nachteil, der in der Ausführlichkeit F.s liegt, wird doch wiederum
aufgehoben durch die Fülle der Originalzitate, vor allem
aber durch deren sorgfältige Nachweisungen, ferner durch die
reichen Literaturhinweise. Die königliche Beherrschung des Stoffes
und der Quellen ließ aus der Hand Köhlers ein Kunstwerk

entstehen, dessen Gerüst und Gußform er verständlicherweise
beseitigte. Bei F. ist dies sozusagen erhalten: so liest er sich vielfach
wie eine Erläuterung zu Köhler, oft in der Art, daß erst
durch F.s Erörterung deutlich wird, was K. mit einer kurzen Bemerkung
meint oder entscheidet. Wer sich in die moderne Zwingli-
Forschung einarbeiten will, muß darum zu beiden greifen: ein
Gesamtbild wird er am ehesten bei Köhler gewinnen, das Detail
bei F. erfahren. Gerade dies wird man als das Spezifische seiner
Arbeit ihm danken müssen.

Greifswaid Ernst Kahler

M a u r e r, Wilhelm: Bekenntnisstand und Bekenntnisentwicklung in
Hessen. Gütersloh: Bertelsmann 1955. 70 S. 8°. Kart. DM 6.50.

Der Verf. hat sich von seiner früheren langjährigen Tätigkeit
in Marburg her die Aufgabe gestellt, den gegenwärtig für
die Landeskirche Kurhessen-Waldeck gültigen Bekenntnisstand
herauszuarbeiten; seine Untersuchung beschränkt sich dabei auf
die althessischen Gebietsteile, läßt also die unierten Gebiete von
Waldeck und von Hanau, die ihrerseits wieder durchaus verschieden
sind, bewußt beiseite. Der Leser, der sich darüber unterrichten
will, muß zu dem Sammelwerk „Die Hanauer Union", hrsg.
von Carl Henß (Hanau 1918) greifen und den Aufsatz von Heinrich
Nebelsieck, Die kirchliche Union in den ehemaligen Fürstentümern
Waldeck und Pyrmont (Zeitschrift f. Kirchengeschichte 62,
1943/44, S. 232-271) zur Hand nehmen.

Für das althessische Gebiet ist die Lage verhältnismäßig klar.
Landgraf Philipp war der erste deutsche Fürst, der die territorialrechtliche
Gültigkeit der Confessio Augustana erklärt hat; das
geschah im Jahre 1532 (S. 18). In welchem Sinne das gemeint
war, geht aus der Tatsache hervor, daß er in der Wittenberger
Konkordie von 1536 „geradezu den Inbegriff seiner kirchenpolitischen
Wirksamkeit" gesehen hat (S. 20). In dem Streit um die
Variata bezogen die hessischen Theologen daher eine vermittelnde
Stellung: die Variata galt als vervollständigende Wiederholung
und Bekräftigung der Invariata. Die politischen Handlungen
nach 1555 mit ihrem Versuch, mit der reformierten Pfälzer
Kirche die Glaubenseinheit aufrecht zu erhalten, spiegeln sich
in der Kirchenordnung von 1566, in der als grundlegender Bekenntnisstand
die CA von 15 30 feierlich aufgestellt und zugleich
im Abschnitt von der Abendmahlslehre die Variata als ihre Auslegung
anerkannt wird. Aufgrund der KO von 1566, die in Geltung
blieb, wurde 1574 eine kürzere Ordnung herausgegeben,
und hier sind in dem Ordinationsformular bei der Bekenntnisverpflichtung
CA und Apologie aufgeführt.

Diese klare Linie eines milden, melanchthonisch bestimmten
Luthertums wurde 1605 durch die Verbesserungspunkte des Landgrafen
Moritz unterbrochen. Der Verf. weist mit vollem Recht
darauf hin, daß nicht Moritz, sondern Johann VI. von Nassau, der
Bruder Wilhelms von Oranien, der planende Kopf war, dessen
Wille die Entwicklung der Dinge damals in dem Vorfeld des dreißigjährigen
Krieges bestimmte (S. 48). Zu den Vorgängen jener
Jahrzehnte ist jetzt die ausgezeichnete Studie von Karl Wolf beizuziehen
: „Zur Einführung des reformierten Bekenntnisses in
Nassau-Dillenburg" (Nassauische Annalen, Jahrbuch des Vereins
f. Nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung 66, Wiesbaden
1955, S. 160—193); wer die gewaltsame Entwicklung in
Kurhessen verstehen will, darf an dieser genauen Darstellung der
gleichartigen Geschehnisse in Nassau-Oranien nicht vorübergehen.
Landgraf Moritz hat 1605 zwar das geltende Bekenntnis formal
unverändert gelassen, mit der Anordnung der reformierten Zeremonien
aber einen Widerspruch gegen dieses Bekenntnis in seine
Kirche hineingebracht. Der Verf. spricht hier (S. 53) davon, daß
„ein verstümmelter Körper" entstanden sei; dieser aus dem Organismus
-Denken herrührende Begriff ist jedoch mißverständlich
und führt allzuleicht zu falschen Folgerungen, sollte also durch
sachentsprechendere Begriffe ersetzt werden, wie etwa: Bruch einer
bestehenden Verpflichung, Zuwiderhandeln, innerer Widerspruch
u. dgl. — Mit der Darstellung der Auswirkung der Verbesserungspunkte
von 1605 hat der Verf. das Hauptthema seiner Schrift
erreicht; er weist den Zwiespalt nach, worin sich seitdem seine
Heimatkirche befunden hat, und umreißt die Möglichkeiten, wie
die ursprüngliche klare Linie wiedergefunden werden kann: indem
auf dem einzigen Continuum der kurhessischen Landeskirche,