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Ausgabe:

1956 Nr. 10

Spalte:

585-590

Autor/Hrsg.:

Käsemann, Ernst

Titel/Untertitel:

Christus, das All und die Kirche 1956

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Theologische Literaturzeitung 1956 Nr. 10

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Briefliteratur in den konkreten Alltag der Gemeinden. Hier sind
nämlich Heiland und Erlösung Geschichte und nicht Idee, genau
wie in dem prophetischen Zeugnis die Offenbarung des Verlorenseins
Geschichte und nicht Idee ist. Und Geschichte ist hier aufzufassen
als eine Geschichte, für die das „Historische" nicht herabsinkt
zu einem bloßen Vorbild oder Inzitament, wie es in
einem Begriff der „Geschichtlichkeit" geschieht, der der modernen
Existenzphilosophie entlehnt ist.

in.

Wenn die systematische Theologie angesichts des Problems
der Bibelauslegung in erster Linie nach der Ganzheit und Einheit
der Bibel mit Hilfe der prophetischen und apostolischen Kategorie
zu suchen hat, geschieht dies, weil allein mit Hilfe dieser Kategorien
die Offenbarungsgeschichte, die war (und deswegen
„Historie" — nicht nur „Geschichte" ist), und die Offenbarungsgeschichte
, die ist (die Geschichte ist, aber nicht Historie), in
der Verkündung sich einander völlig decken können. Durch die
Kategorien des Prophetischen und Apostolischen wird die Geschichte
der Vergangenheit zu Geschichte dergestalt, daß diese,
und nicht eine beliebige Reproduktion oder Imitation von ihr
in unserem religiösen Erleben oder „Existenz", eo ipso die gegenwärtige
Geschichte i s t. Der Christus der Vergangenheit, aufer-
erstanden und lebendig für uns und b e i uns in Wort und
Sakrament, nicht seine Existenzform i n uns reproduziert, ist
die gegenwärtige Offenbarungsgeschichte. Daß diese dann als ihre
Frucht auch eine Reproduktion in uns vom Tode und der Auferstehung
, ein „Mitsterben" und „Mitauferstehen" in uns einschließt
, ist etwas für sich. Wird hier eine Trennung vorgenommen
, werden historisches Verständnis der Bibeltexte und deren
systematische Auslegung im Dienst der Verkündigung niemals
einander finden können. Die „Geschichte" wird irrelevant, und die
„Existenz" folgt ihrem eigenen Gesetz, die der „Geschichte"

nur bedarf, um „Bilder" auf Grund deren eigener Strukturen zu
zeichnen. „Christus" wird zu einer Dublette der echten Existenz
des Glaubens. Und um dies zu werden, braucht er nicht „Kristos
kata sarka" zu sein, sondern nur „der Christus der Verkündigung
", dessen Auferstehung nicht ein „historisches Geschehen"
ist, nicht „ein zu beglaubigendes Mirakel", sondern nur ein „Zustandekommen
des Auferstehungs g 1 a u b e n s".

Wir enden also in einem Dualismus, der sehr lange Theologie
und Kirche bedroht hat, — schon Ernst Troeltsch sah ihn und
warnte vor ihm von ganz anderen Voraussetzungen aus als wir —
indem die „historische" Deutung der Schriften zu einer reinen
Vergangenheitsreligion führt, die heute nur museales Interesse
besitzt, während die „existentielle" Auffassung des „Kerygma"
frisch-fröhlich herumspringt mit einer grundsätzlich a-historischen,
wenn nicht a-geschichtlichen Existenzdeutung, die in keinerlei
reellen Verbindung steht mit den tatsächlich historischen Worten
von Propheten und Aposteln.

Ein solch unvermeidlicher Dualismus zwischen historischer
und systematischer Bibelauslegung muß meiner Meinung nach
nicht nur die Selbstauflösung der systematischen Theologie, sondern
auch die der kirchlichen Verkündigung herbeiführen. Der
Versuch, exegetische Forschung und systematisches Denken zugleich
mit Existenzphilosophie zu durchdringen, hat diese Gefahr
nicht verringert, sondern diese im Gegenteil in ungeheurem Maße
verstärkt.

Wenn die systematische Theologie sidi nicht kopfüber in
diese Selbstvernichtung hineinstürzen will, bleibt ihr wohl nichts
anderes übrig, als durch eine erneute Aneignung der Kategorien
des Prophetischen und Apostolischen als dem Schlüssel zu allem
systematischen Schriftverständnis zusammen mit der stringente-
sten „historischen" Bibelauslegung entschlossen Front zu machen
gegen alle Versuche, die Relevanz des Historischen preiszugeben
zu Gunsten „existentialer Interpretation".

Es hat seinen eigenen Reiz, einem in protestantischer Literatur
wohl bewanderten und häufig ihre Argumente aufgreifenden
Katholiken1 gegenüber jene Erkenntnisse verteidigen zu
müssen, welche Schliers Weg zum Katholizismus entscheidend
mitbestimmt haben. Doch sind die Deuteropaulinen ja das fruchtbarste
interkonfessionelle Gesprächsobjekt im NT, und die vom
Verf. in seinem Werk aufs Korn genommene „gnostische" Interpretation
des Eph. durch die „Bultmannschule" hat wesentlich
dazu beigetragen. Die zuweilen etwas gereizte Polemik hätte darum
vielleicht ein wenig milder gestaltet werden können. Immerhin
ist sie unparteiisch, insofern sie auch V. Warnach gegenüber
geübt wird, und es ist ein unbestreitbarer Vorzug dieses Buches,
daß es auf wirkliche Klärung der Sachfrage bedacht bleibt, die Möglichkeit
einer „gnostischen Interpretation" des Eph. ernstnimmt
und mit Akribie, präzis und konsequent deren Ablehnung begründet
. Vielleicht darf ich als von der Kritik erheblich Mitbetroffener
auch gleich bemerken, daß ich in den 25 Jahren seit Veröffentlichung
meiner Dissertation „Leib und Leib Christi" selber
einiges dazugelernt habe und nun nicht mehr so unbekümmert
in unbekanntes Gelände vorstoßen würde. Im Theologischen
würde ich mich kaum mehr mit Schlier treffen. Doch wird davon
die religionsgeschichtliche Frage, um welche die Kontroverse geht,
gerade nicht entscheidend tangiert. Denn historische Analyse und
Interpretation ist noch nicht dasselbe. Es wäre schön, wenn ich
wenigstens davon den Verf. überzeugen könnte, der mir hier
gar zu schnell auch seinerseits eine Einheit zu konstatieren scheint.

Die Themen der Kosmologie, Christologie und besonders
ausführlich der Ekklesiologie des Briefes sind zweckdienlich und

') Mussner, Franz, Prof. Dr. theol., Lic. bibl.: Christus, das AH
und die Kirche. Studien zur Theologie des Epheserbriefes. Trier: Paulinus
-Verlag 1955 XV, 175 S. gr. 8° = Trierer Theol. Studien 5.
DM 17.80.

Christus, das AH und die Kirche

Zur Theologie des Epheserbriefes

Von Ernst Käsemann, Göttingen

übersichtlich noch stark untergegliedert. Weder notwendig noch
glücklich empfinde ich die Einleitung, welche die Forderung der
Textanalyse gegen motivgeschichtliche Methodik ausspielt und
die letzte mit der willkürlich Einzelheiten aus einem Traditionszusammenhang
isolierenden Exegese der Gnostiker vergleicht.
Selbst der Verf. verzichtet ja nicht völlig auf Klärung der Motive
, und normalerweise fragt solche exegetisch doch nicht erst
von uns erfundene Arbeitsweise nach Milieu und Struktur einer
Terminologie, um der Textanalyse und Interpretation den Weg
zu bereiten. Auf dem Boden historischer Kritik kann jedenfalls
nicht das Recht der Methode, sondern einzig die Güte des jeweiligen
Ergebnisses bezweifelt werden. Daß die Situation derer verkannt
wird, welche Individualismus und Liberalismus gegenüber
ein Verständnis des nt.lichen Zeugnisses von der Kirche wiederzufinden
sich bemühten, resultiert wohl aus einer Optik von heute
, die solches Bemühen selbst bei Protestanten nicht mehr für
nötig hält.

Der erste Teil beweist die Möglichkeit weitgehender Übereinstimmung
. Hellenistisch-jüdischeT Volksglaube prägt das Weltbild
des Eph. und sieht Gottes Transzendenz durch die Himmel
und den Luftbereich der kosmisch-dämonischen Mächte von der
Erde als unterster Region des Alls geschieden. Der sorgfältigen
Untersuchung der kosmologischen und dämonologischen Terminologie
des Briefes ist im allgemeinen zuzustimmen. Letzte Ge--
wißheit über ein personales Verständnis des Aeon-BegriffeS Xili
sich tatsächlich kaum gewinnen, obgleich der Übergang von raumzeitlichen
Gebilden zu persönlichen Wesen in der Antike gleitend
ist. Nicht annehmbar erscheint mir dagegen die Interpretation
der ursprünglich stoischen rd nävza-Formel durch die Rede
von der All-Einheit der Schöpfung. Denn die Formel beschreibt
ja nicht das Wesen der Schöpfung als solcher, sondern wenigstens
im Brief deren Gegenüber zum Schöpfer. Auch ich würde von da