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Ausgabe:

1956 Nr. 9

Spalte:

564-566

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Freudenthal, Herbert

Titel/Untertitel:

Die Wissenschaftstheorie der deutschen Volkskunde 1956

Rezensent:

Holtz, Gottfried

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Theologische Literaturzeitung 1956 Nr. 9

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Kirche an der Welt fordert die Eigenständigkeit und den geistlichen
Charakter ihrer Ordnung". 3. „Die Heiligung des Christen ist die Bildung
des ganzen Menschen nach dem Bilde Christi".

Darum ist geistige und rechtliche Unabhängigkeit der Kirche zu fordern
. Weil die Kirche heilig ist, darum sind ihre Glieder heilig. Die Heiligkeit
hat sich am ganzen Menschen als Abkehr von widergöttlichen
Mächten (Askese) und als Exercitium, als Einübung in das Christentum
zu erweisen, ebenso in der Einbeziehung von Raum, Zeit, Farbe, Licht
und Ton in das gottesdienstliche Handeln.

V. Githolicam S. 27 ff. — 1. „Die Katholizität meint den ganzen
Menschen und das Ganze der Welt." 2. Sie fordert Ganzheit der Kirchenverfassung
. 3. „Wer evangelisch sein will, muß zugleich mit ganzem
Ernst katholisch sein wollen."

Darum nicht nur Innerlichkeit, sondern Leibhaftigkeit, Verpflichtung
zu einem christlichen Weltbild unter Einbeziehung aller Bereiche
der Wirklichkeit, sowie Fülle und Ganzheit der Lehre. Vor allem gehört
dazu eine katholische Ordnung, die alle wesentlichen Elemente kirchlichen
Lebens sinngemäß vereinigt.

VI. Apostolicam S. 29 ff. — 1. Apostolizität, Tradition und der
ganze Kanon, auch wo er nicht „protestantisch" ist, gehören zusammen.

2. „Apostolizität der Kirchenordnung fordert die Ausgliederung des
geistlichen Amtes statt des Monopolanspruchs des Predigtamtes".

3. „Mit der apostolischen Kirche leben heißt, sich ihre ganze Geschichte
gegenwärtig halten."

Darum dürfen wir die Tradition nicht verachten und bedürfen der
Übertragung der den Aposteln gegebenen Vollmacht. Jedenfalls muß
die „Alleinigkeit" des Predigtamtes überwunden werden.

VII- Sanctorum communionem S. 32 ff. — 1. „Die Gemeinschaft am
Heiligen begründet die Gemeinschaft der Heiligen." 2. „Das allgemeine
Priestertum hebt das besondere nicht auf. Die Ordination ist die Weitergabe
der apostolischen Amtsvollmacht." 3. „Die Teilhabe am Heiligen
ist das Prinzip alles geistlidien Lebens."

Dies kurze Referat hat jede kritische Bemerkung unterdrückt.
Jeder Satz der Denkschrift fordert die Kritik aller theologischen
Disziplinen heraus. Ich möchte nur auf das das Ganze bestimmende
Leitbild von Kirche hinweisen, das dem Wortlaut der
Denkschrift nach wichtiger ist als alles andere. Der Begriff der
Kirche wird zwar nicht geklärt. Dafür steht eine geradezu hypo-
stasierte Kirche vor Augen, die nur „nicht im gleichen Sinn der
Gegenstand der Hingabe und Verehrung sein kann wie Gott
selbst" (16). Es ist die Urkirche, die alte Kirche, die Kirche der
ersten Jahrhunderte, mit dem Zentrum der Eucharistie, der Tradition
und der apostolischen Sukzession, der Weitergabe der
Amtsvollmacht, eine geistlich-rechtliche Institution mit der Repräsentation
des Heilsgeschehens in der Mitte, ein sakrales Vorbild
. Von hier aus kann das NT nur noch im Zusammenhang einer
werdenden liturgischen Tradition (30) gesehen werden.

Werden wir durch ein auf solchem Leitbild statt auf Gottes
Wort beruhendes Erneuerungsprogramm zu guter Letzt nicht doch
vor die Frage gestellt: Reform oder Reformation, Kirche oder
Sekte? Man kann nur hoffen, daß zunächst die Mitglieder der
Michaelsbruderschaft selbst zu dieser Schrift sich erklären.

Die Kirche ist Kreatur des Wortes Gottes, Schöpfung des
Heiligen Geistes. So meinte die Reformation. Damit lehnt die
Reformation das skizzierte Leitbild von Kirche als Norm ab, Reformation
ruft unter das Wort Gottes. Die Kirche unter dem
Wort ist dieser Reformation immer bedürftig. Wohin solch ein
reformerisches Leitbild führt, zeigt der 3. Teil: Von der Idee der
pneumatischen Rechtsordnung der alten Kirche her ist „die Rechtmäßigkeit
unseres souveränen Landeskirchentums in Frage" zu
stellen (59). Und als tatsächlicher Skopus des ganzen Heftes
heißt es S. 72: „Die Wiederherstellung der Apostolizität der
evangelischen Kirchen geht deshalb nur über die Herstellung
ihrer Katholizität (sc. bischöfliche Gemeinschaft im Sinne des
Kanons IV von Nicäa)..., die den bischöflichen Kirchen unverletzter
kanonischer Ordnung, als welche wir in erster Linie Orthodoxie
, Anglikaner, nordische Lutheraner zu erkennen vermögen
, die geistliche Anerkennung solcher Kirchen ermöglichen
würde." Ist das noch die Kirche, die wir als Kirche der Reformation
glauben? Wahrhaftig, wir brauchen eine Reformation, damit
wir endlich wieder mit dem Nachdruck des reformatorischen Allein
aufs Wort achten lernen und lehren. Von da aus könnte man
über manchen praktischen Vorschlag der „Denkschrift" reden.

Rostock Heinrich Benckert

RELIGIÖSE VOLKSKUNDE

Freudenthal, Herbert: Die Wissenschaftstheorie der deutschen
Volkskunde- Hannover: Niedersädis. Heimatbund 1955. VI, 241 S.
gr. 8° = Veröff. d. Niedersädis. Amtes für Landesplanung u. Statistik
, hrsg. v. K.Brüning. Reihe A: Forschungen zur Landes- und
Volkskunde. II. Volkstum und Kultur (Schriften des Niedersächs.
Heimatbundes e. V.) N. F. Bd. 2 5. DM7.—.

Nachdem die Volkskunde wegen ihrer Ammendienste am
Nationalsozialismus der Ächtung verfallen schien, ist sie über
Nacht in Ost und West neu zu Ehren gekommen. Um so verständlicher
ihr Wunsch, sich vor sich selbst zu rechtfertigen und
ihren wissenschaftlichen Ort neu zu bestimmen. Das ist auch das
Anliegen Freudenthals. Er holt weit aus und reproduziert das
ganze wissenschaftliche Gespräch seit Riehl. Von dem Umfang
der Diskussion mag die Zahl 1589 eine Vorstellung geben, — soviel
Anmerkungen, und das heißt: soviel Diskussionsbeiträge
bringt die Arbeit, bei einem Umfang von 207 Seiten Text, eine
Füll«, die bisweilen die klare Sicht behindert! Da die Schrift apologetische
Tendenz hat, müht sie sich um den Nachweis echter
Kontinuität in der Geschichte der Volkskunde auch in ihren kritischen
Situationen. Weithin um den Ausgleich der Gegensätze
bemüht, werden auch Männer von gestern ins Gespräch gezogen,
denen man mit mehr als gemischten Gefühlen begegnet. Gewiß,
Freudenthal übt an ihnen Kritik, aber sie fällt so milde aus, daß
man stutzt und scharf auf die eigene Position des Verfassers
achtet.

Wir meinen, seine Zielsetzung leidet am Mangel realer, nüchterner
Begrenzung: Volkheit, zu erkennen als ideale geistige
Größe von fast mythischer Wesenheit; von ihr durch die Medien
der körperlich-seelischen Anlagen, des Siedlungsraumes und
der Geschichte das Leben der Volksgemeinschaft unsichtbar gesteuert
; der volksverbundene Mensch psychologisch zu erfassen
in seinen eigenständigen Lebensordnungen und dem dazugehörigen
Weltbild mit der entsprechenden Gesittung! — „Volkheit
charakterologisch auf letzte Formeln zu bringen" (203), kann die
Psychologie, die herbeigerufen wird, wenn überhaupt jemals so
in absehbarer Zeit nicht leisten. Wie bescheiden denkt die Erb-
charakterologie heute von sich selbst — im Vergleich zu den olympischen
Aufgaben, die Freudenthal ihr setzt. Bei unrealer Zielsetzung
aber droht das unsichere Spiel der Intuitionen, gewiß unter
dem Eindruck psychologischer Teilerkenntnisse, weit mehr
aber unter dem Zwang weltanschaulicher Postulate, die, weil sie
nach der Anschauung des Verfs. wandelbar sind, das Unstäte in
die Geschichte der Volkskunde von Riehl bis Ziegler gebracht haben
. Es wird als legitim angesehen, daß die Grundlagen der
Volkskunde „verankert sind in der allgemeinen Wissenschaftstheorie
wie im kulturpolitischen Geschehen der Zeit" (195). Darum
ist auch der Methodenstreit eines halben Jahrhunderts „dem
Wandel des zeitgenössischen Weltbildes" gefolgt (201). Danach
wäre die weltanschauliche Abhängigkeit als Schicksal der wissenschaftlichen
Volkskunde hinzunehmen, und Grabert, Ziegler u. a.
sind nicht nur entschuldigt, sondern gerechtfertigt. Mit der
Schlinge des weltanschaulichen Relativismus um den Hals wird
Freudenthal die Volkskunde als „Grundwissenschaft" nicht zu
begründen vermögen.

Um es kurz zu sagen: wir vermögen nicht zu erkennen, daß
die Volkskunde in der Sicht Freudenthals vom gefürchteten „politisierenden
Betrieb" sich befreit, vielmehr bleibt sie ihm ausgeliefert
, und die „tief verworrene Lage", über die Neukirch
klagte, bleibt bestehen.

Was soll denn aber mit der Volkskunde werden? Sie soll
bleiben — als bescheiden dienende Magd! Georg Koch hat gut gesagt
, der Sinn der Volkskunde läge nicht im Entdecken eines Landes
, sondern im Gewinnen eines neuen Auges, nicht im Gegenstand
, sondern in der Betrachtungsweise. Man tut wohl klug daran
, sich solcher Erkenntnis anzuschließen. Nüchtern gestehe man
sich aber ein, daß uns zu Kontemplationen keine Zeit gelassen
werden wird; vielmehr wird gefordert, die volkstümlichen Werte
als nationale Erziehungs- und Bildungsgüter einzusetzen, und das
wird in der kulturpolitischen Lage der Gegenwart und der nahen
Zukunft nicht der Volkskunde als Aufgabe übergeben werden.