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Ausgabe:

1956 Nr. 9

Spalte:

559-561

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Martini, Fritz

Titel/Untertitel:

Das Wagnis der Sprache 1956

Rezensent:

Emmel, Hildegard

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Theologische Literaturzeitung 1956 Nr. 9

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geradezu als Kennzeichen der wahrhaft katholischen Sitte gegenüber
der protestantischen Geburtstagsfeier angesehen wird, wirklich
zu Recht erfolgt. Der Verf. zeigt, daß die früh-mittelalterliche
Kirche ein weitverbreitetes Meßformular zum Geburtstag gehabt
hat, das freilich schon im Spätmittelalter verschwindet. Aber erst
seit der Gegenreformation beginnt langsam eine kirchliche Pflege
der „Namenstage". Dabei bricht sich die Vorstellung Bahn, als
sei die Namengebung bei der Taufe so etwas wie ein kirchlicher
Akt, in welchem der Täufling einen „christlichen", d. h. möglichst
nach einem Heiligen gewählten Namen empfinge. Der Verf.
bringt einen überzeugenden Nachweis, daß weder die Abwertung
der Geburtstagsfeier noch die heutige Interpretation des Namenstages
der katholischen Tradition entspricht.

Die Schrift ist für die geschichtliche Wandlung des römischen
Katholizismus instruktiv.

Düsseldorf J. Beckmann

LITERATURGESCHICHTE

Martini, Fritz: Das Wagnis der Sprache. Interpretationen deutscher
Prosa von Nietzsche bis Benn. Stuttgart: Klett [1954]. VI, 529 S. 8°.
Lw. DM 27.80.

Mit dem Titel seines Buches „Das Wagnis der Sprache" weist
Fritz Martini auf die Kernfrage der deutschen Literatur des 20.
Jahrhunderts hin, auf die Sprachnot, deren sich führende deutsche
Dichter um die Jahrhundertwende bewußt wurden. Hofmannns-
thal umschreibt sie im Brief des Lord Chandos von 1902: die
Worte „zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze". Die Erkenntnis
, daß die überkommene Sprache versage, daß sie für die
neuen Erfahrungen nicht mehr ausreiche, kündigte sich schon
Jahre vorher an und wirkt sich in der Gegenwart im gesamten
Bereich deutscher Sprache aus.

Martini weist sie nach an 12 Prosatexten, Ausschnitten aus
repräsentativen Dichtungen, die er interpretiert und jeweils in
das Lebenswerk ihres Autors eingliedert. Die ausgewählten Texte
sind alle thematisch und stilistisch beispielhaft; sie sind charakteristische
Einzelleistungen und spiegeln zugleich die Besonderheit
des Zeitalters. Es ergibt sich ein Bild der mannigfaltigen, unterschiedlichen
und zugleich typischen literarischen Bestrebungen
und Leistungen eines Zeitraums von rund 65 Jahren. Es soll zeigen
, daß Zerfall und Auflösung der noch im 19. Jahrhundert lebendigen
Tradition die Voraussetzungen sind für bedeutende
künstlerische Entdeckungen und Neuschöpfungen, für einen Weg,
dessen Ende noch nicht abzusehen ist.

Die Namen Nietzsche und Benn, die der Untertitel des Buches
nennt, bezeichnen Anfang und Ende der Linie, die Martini
aufzeigt, und verdeutlichen zugleich seine Wegrichtung. Die artistische
Rhetorik Nietzsches wird an Hand des Abschnittes
„Von den Erhabenen" aus Nietzsches „Also sprach Zarathustra"
als Eigenheit einer Sprache erkannt, die Verwirklichung des Lebens
im unmittelbaren Akt des Sprechens sein will. Keine gesicherte
Welt, keine Wahrheit wird dargestellt. Es geht in dieser
Sprache weder um Mitteilungen noch um Wiedergabe einer Wirklichkeit
, sondern um Schöpfung, die aus der rastlosen Bewegung
eines Lebensstroms ständig, neu und vital aufsteigt und sich wieder
auflöst, ohne Gestalt zu werden. Beginnen mit Nietzsche Wort
und Form als künstlerischer Ausdruck sich selbst 2um Thema und
Problem zu werden, so ist für Gottfried Benn Artistik „der
Versuch der Kunst, innerhalb des allgemeinen Verfalls der Inhalte
sich selbst als Inhalt zu erleben". Der Ausschnitt aus „Der
Ptolemäer, Berliner Novelle, 1947", den Martini seinem letzten
Kapitel zugrunde legt, verdeutlicht, daß hier keine objektive Welt
mehr vorhanden ist. Es werden Aussagen gemacht, die sich lediglich
vom Sprechenden her und nicht mehr aus der Begegnung mit
einer Sache verstehen.

Wird hier kein Gegenstand mehr sichtbar, weil es in der
allgemeinen Auflösunng keine Gegenstände als solche mehr
gibt, so geht es bei andern Vertretern des Zeitraums um die Stellung
des Menschen innerhalb des Kreises der Gegenstände, die
den Raum seines Daseins bezeichnen. Während die Erzähler des
19. Jahrhunderts, obwohl bei einzelnen der Glaube an die Sinneinheit
der Welt schon erschüttert war, den Menschen noch immer
eingeordnet sahen in die Ganzheit eines Weltgefüges, steht
der Mensch in der deutschen Literatur seit Nietzsche einsam und
fremd in der Welt. Die „novellistische Studie" „Bahnwärter
Thiel", aus der Martini eine Probe nimmt, zeigt, wie Gerhart
Hauptmann, dem es darum zu tun ist, das Leben zu beobachten
und zu erkennen, das Unfaßbare, nicht zu Enträtselnde
einer Wahrheit erfährt, die er in seinem Werk mit der Gefangenschaft
des Menschen in seinem räumlichen und gesellschaftlichen
Daseinskreis ausdrückt. Die gegenständliche Welt, die den Bahnwärter
in Hauptmanns Novelle umgibt und die dem Leser klar

| und eindeutig vor Augen steht, ist Symbol eines ausweglosen,
auferlegten Loses. Auch in Arno H o 1 z's „Papa Hamlet" ist der
Mensch so verlassen, daß niemand und nichts mehr ihm helfen
kann. Zugleich ist er die Beute seiner eigenen schwachen, an Laster
und Verbrechen preisgegebenen Natur. Von dieser inneren
Wahrheit der Wirklichkeit will Arno Holz den Leser mit den Mitteln
der Wirklichkeit überzeugen. Da nach seiner Ansicht die
Sprache der Kunst weniger zu geben vermag als die Natur (seine
Formel: „Kunst = Natur —x"), zieht er alle Möglichkeiten heran
, die durch Nachahmung der Natur die negativen Wirkungen
der dichterischen Sprache aufheben. Das Elend des verkommenen
Komödianten zeigt er sowohl an den kleinen Utensilien und öden
Geräuschen seiner Dachkammer, die er sachlich berichtend bringt,
wie in einer Dialogführung, die alles Hörbare einbezieht. Das
Stammeln von Worten, die Wiederholung charakteristischer Wendungen
mit allen Nebenlauten, Jargon und Stumpfsinnsäußerungen
drücken nicht ein Geistiges aus, sondern sind sinnlich-mimische
Form triebhafter Regungen. Folgerichtig sind Grammatik und Syntax
aufgelöst, weil es gilt, Halbbewußtes zu Gehör zu bringen,
Vorgänge, die sich im trüben gestaltlosen Bereich dumpf wühlender
Vitalität abspielen. Arno Holz hat mit seiner neuen, für sein
Jahrzehnt, die 80er Jahre des 19. Jahrhunderts, überraschenden Erzähltechnik
, die zugleich Lebensinterpretation ist, Möglichkeiten
der Sprache entdeckt, die sich im 20. Jahrhundert noch intensiver
verwirklichen sollten. Alfred D ö b 1 i n s „Berlin Alexanderplatz
", erschienen 1929 und deshalb von Martini erst an späterer
Stelle seines Buches behandelt, schließt sich hier an. Döblin verzichtet
auf das Schöne, entliterarisiert Sprache, Syntax, Wortwahl,
Rhythmus und läßt dafür eine Menschenart in ihrer Sprache leiblich
zur Wirklichkeit des Romans werden. Die berlinische Großstadtsprache
, in allen hörbaren Einzelheiten wörtlich gebracht,
ist nicht Mittel der Darstellung, sondern betätigt eine schöpferisch
zeugende Kraft, indem sie durch ihre klangliche Wirkung den
seinen Trieben, Affekten und Willensregungen unterworfenen
Proletarier als Gestalt erstehen läßt. Die Erkenntnis, daß Sprache

I eine Welt erzeugen und damit aus sich heraus schöpferisch sein
kann, bestätigt sich mit Döblins Werk. Seine Aufnahme in die
Auswahl Martinis, die zunächst überrascht, rechtfertigt sich durch
die Interpretation. Das Gleiche gilt für den Ausschnitt aus „Die
Sektion" von Georg H e y m. Die Erfahrung von der Disharmonie
des Lebens spricht sich hier in der Darstellung eines desillu-
sionierenden Vorgangs aus, der im Widerspruch zu jedem idealisierenden
Glauben steht.

Die hohen Möglichkeiten, die der Kunst der Prosa im 20.
Jahrhundert gegeben sind, zeigen sich an den Texten der Meister
ihres Zeitalters: Rainer Maria Rilke, Thomas Mann, Hugo von
Hofmannsthal, Franz Kafka. Das Bewußtsein von Einsamkeit,
Verlorenheit, Ausgeliefertsein ist ihnen allen gemeinsam. Der
Abschnitt aus Rilkes „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids
Brigge", der als Beispiel dient, verdeutlicht, in welcher Weise Rilke
die Frage nach der Möglichkeit, in einer aufgelösten, unfaßbar
gewordenen Welt zu leben, mit der ihm eigenen sprachlichen Führung
, Suggestionskraft und sich steigernder Bildlichkeit von Vorgängen
erstehen läßt. Wenn für Rilke, wie für Nietzsche und
Hermann Broch, Dichtung und Erkenntnis miteinander verwoben
sind, so zeichnet Rilke die Ehrfurcht vor dem Eigenleben der
Dinge aus, die er sichtbar macht, ohne sie sich zu unterwerfen.
Durch ihre hintergründigen Bezüge behalten sie ihr Geheimnis.
Nur die sich um sie bemühende Sprache kann sich ihrem Wesen
nähern. Die tänzerische Leichtigkeit der Sprache, die Thomas
M a n n s Besonderheit ist und die für die deutsche Literatur etwas
Neues darstellte, vergegenständlicht in der Novelle „Der Tod