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Ausgabe:

1956 Nr. 9

Spalte:

556

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Titel/Untertitel:

Fürstenberg, Fürstin Gallitzin und ihr Kreis 1956

Rezensent:

Stupperich, Robert

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555

Theologische Literaturzeitung 1956 Nr. 9

556

vor der Deportation. Der dritte Teil faßt zusammen, ergänzt und
vertieft die Erkenntnisse. Man lernt z. B., welche Macht in einer
Wahnwelt die Illusionierung ist, weil die wenigsten noch zwischen
Trug und Wirklichkeit zu unterscheiden vermögen. Die groteske
Tatsache, daß eine minutiös arbeitende gespenstische Bürokratie
die Illusion eines normalen Lebens aufrecht erhielt, und die Weigerung
der meisten, an die Tatsache der Massenvernichtung zu
glauben, noch unmittelbar vor der eigenen Ermordung, mögen als
Extreme genannt sein. Die Herrschaft der schlechten Macht zieht
die Schlechtesten zur Mitherrschaft heran. „Verbrecher ohne sittliche
Hemmungen werden berufen, um die schändlichsten von der
Ideologie vorgesehenen Handlungen zu vollführen" (630). Am
Ende sinken alle in Nihilismus, die Mächtigen wie die Ohnmächtigen
. „Ganz frei von Schuldverstrickung ist wohl keiner geblieben
" (636). „Dennoch fanden sich stets gefestigte Naturen;"
„Sittlichkeit ist stets dazu berufen, der Unsittlichkeit eines Gegners
zu trotzen" (635). Die meisten Gefangenen seien auf nichts
vorbereitet gewesen außer auf eine Opferrolle, der sie sich wie
hypnotisiert ergeben hätten. „Nur die alte Fähigkeit zum Leid
und die Bereitschaft zum Dulden wirkte noch als stummes Erbgut
nach" (646). Die Ausführungen zur „Typologie des individuellen
Verhaltens" (650 ff.) wie zur „Praktischen Psychologie
des Lagers" (661 ff.) dürften so aufschlußreich sein, daß mir eine
intensive Einwirkung auf die theoretische und praktische Psychologie
wahrscheinlich ist. Für die phrasenlose Nüchternheit des
Verf. noch eine Probe: „Eine Theorie, daß Leid den Menschen
zu läutern vermöge, ist dann abzuweisen, wenn Leid im Übermaß
wirkt. Viel darf gefordert werden, zuviel zerstört. Dann läutert
Leid nicht mehr, und der Mensch irrt ab, verliert sich, verbricht
Unheilvolles, wenn er nicht sterben muß. Wer ohne größeren
Schaden sich in dieser Seelenwüste bewährte, hat Äußerstes vollbracht
" (678).

Zum Schluß fragen wir nach dem weltanschaulichen
Ort des Verf., finden aber nur schwer Antwort, weil er mit Aussagen
hier besonders kargt. Einmal zitiert er zustimmend Kogon,
daß religiöse und humanitäre Zielsetzungen Charakterfestigkeit
verliehen. Die politischen Zielsetzungen, die Kogon auch genannt
hatte, werden von Adler negiert. Nur reine Menschlichkeit
hat nach seiner Auffassung die letzten Belastungsproben bestanden
. Vom Typ des „Helfers" sagt er: der Alltag wurde in seiner
Nähe erträglicher (668). Und über die „Gütigen" lesen wir die
schönen Worte: „Meist wirkten sie in der Stille, kamen unge-
rufen und opferten sich auf. Sie taten, was des Gütigen Art bleibt,
die sich durch keine äußeren Umstände ändert und nur eines —
gütig ist" (668). Religion erwies sich nach Adler als schwach.
Wenige fromme Juden erblickten in dem Verhängnis die Strafe
für die Sünden der Judenheit. Über den assimilierten, liberalen
Juden heißt es: „Theresienstadt hat kaum jemanden zum Judentum
zurückgeführt" (649). Adlers eigene Stellung muß fast erraten
werden. An einer Stelle redet er anklagend von dem Versäumnis
, der satanischen Macht die Lehre einer theokratischen Macht
entgegengesetzt zu haben (649). Kurz vorher redet er von der
„messianischen Totalität", deren schroffste Leugnung die Totalität
Hitlers gewesen wäre. Mit solchen Andeutungen läßt Adler
den Leser allein.

Das erschreckende Pronunziamento der letzten Seite sei auch
hier nicht verchwiegen. Weil auf der Welt „der mechanische Materialismus
mit seinen ideologischen Fratzen" weiterwuchere, sei
die Möglichkeit „Theresienstadt" als eine Bedrohung der gegenwärtigen
oder zukünftigen Menschheit geblieben. „Nicht nur Juden
, die in der allgemeinen Leidensgeschichte der Menschheit so
oft als Vorboten und besonders Ausgelieferte auftreten mußten,
dürften die künftigen Opfer sein. Nicht als Experiment, doch als
Menetekel steht Theresienstadt da, und es verlockt vielmehr, als
noch der Abscheu vor dem Grauen sich eingestehen will" (678).

Was wird die Christenheit der Erde mit diesem erregenden
Buche anfangen? Es zur Kenntnis nehmen und weglegen? Sie möge
das Wort des Juden Franz Baermann Steiner, das dem Geleitwort
Leo Baecks vorangestellt ist, immer wieder überdenken: „Daß
Gott verzeiht, besagt nicht, daß er die verziehene Sünde unschädlich
gemacht hat. Das ist Menschenwerk".

Das Buch erscheint in der Schriftenreihe „Civitas Gentium",
Schriften zur Soziologie und Kulturphilosophie, herausgegeben
von Max Graf zu Solms, Fritz Hodeige, Karl Heinz Pähler.

Rostock O. H oltz

T r u n Zürich: Fürstenberg, Fürstin Callitzin und ihr Kreis. Quellen
und Forschungen, zusammengestellt. Münster: Aschendorff 1955.
IV, 108 S. mit Abb. u. 16 Taf. 4°. Kart. DM 8.-; Lw. DM 9.80.

Neben das Buch von E. Reinhard „Die Münsterische Famiiia
sacra" (vgl. ThLZ 1954, Sp. 622), das erstmalig eine Zusammenschau
des Fürstenbergschen Kreises versuchte, tritt nunmehr die
von Erich Trunz inspirierte Sammlung von Einzelarbeiten über
einige Vertreter dieses Kreises, die zusammengenommen ein
recht einheitliches Bild ergeben. Aufgrund der wiederaufgefundenen
brieflichen Nachlässe von Klopstock, der Fürstin Gallitzin,
Buchholz u. a., die Reinhard nur teilweise zugänglich waren, werden
teils Einzeluntersuchungen, teils Gesamtcharakteristiken vorgelegt
, in denen manche neuen Züge herausgearbeitet werden.
Durch einwandfreie Auswertung des neuen Materials wird das
traditionelle Bild nicht unerheblich verändert. Der Herausgeber
hat mit seiner Behauptung durchaus recht, daß das geistige Leben
Westfalens, das im 15. und 16. Jahrhundert so rege pulsierte,
erst durch diesen Münsterischen Kreis in ganz Deutschland wieder
Beachtung gefunden und eine deutlich wahrnehmbare Wirkung
ausgeübt hat. Man muß Sebastian Merkles Darstellung der
Aufklärung in der katholischen Kirche als Hintergrund hinstellen,
um die Wirkung dieses Kreises auf die kirchliche Umwelt ermessen
zu können. Darüber hinaus behält er seine Bedeutung als
Bindeglied zum Idealismus und zur Romantik. Wie der Herausgeber
in seinem Bericht über das neuzugängliche handschriftliche
Material zeigt, eröffnen sich hier neue Möglichkeiten für die Forschung
. Die Untersuchungen, die seine neun Mitarbeiter in diesem
Heft vorlegen, sind der Anfang einer neuen Publikationsund
Forschungstätigkeit.

Gerade für die religiöse Seite des Fürstenbergschen Kreises
ergeben sich hier neue Aspekte. Daß der Münsterische Minister
den Versuch unternimmt, Klopstock nach Münster zu ziehen,
ist durchaus beachtlich. Die Beiträge über seine und Stolbergs
Beziehungen zum Messias-Dichter entbehren nicht des Interesses.
Wesentlicher ist die Gestalt Hamanns und die Rolle, die er in
Münster zu spielen bestimmt war. Karlfried Gründers Beitrag
„Hamann in Münster" erscheint besonders ertragreich. Für den
Magus selbst wird dieser Aufenthalt nicht weniger bedeutsam
als für die Fürstin, die durch ihn entscheidend beeinflußt wird.
Die gegebene Darstellung ist überzeugend und stellt eine Weiterführung
dar, die für das Verständnis des ganzen Kreises Erhebliches
austrägt. Dieser Beitrag wie auch das ganze Heft sollten
die ihnen zukommende Beachtung finden.

Münster (Westf.) R.Stupperich

LITURGIEWISSEN SCHAFT

Müller, Karl Ferdinand, und Blankenburg; Walter: Leiturgia.
Handbuch des evangelischen Gottesdienstes hrsg. 2. Band: Gestalt
und Formen des evangelischen Gottesdienstes. L Der Hauptgottesdienst
. Kassel: Stauda 1955. 336 S. gr. 8°.

Nach dem ersten Band der Leiturgia (vgl. Besprechung
ThLZ 1954, Sp. 688) liegt nun der erste Teil des 2. Bandes vor,
der sich in zum Teil umfangreichen Beiträgen mit den einzelnen
Bestandteilen des „Hauptgottesdienstes" der evangelischen Kirchen
befaßt, wobei unter Hauptgottesdienst (auch „evangelische
Messe" genannt) der Gemeindegottesdienst mit Predigt und
Abendmahl verstanden ist, wie er in der Regel an Sonn- und
Feiertagen stattfindet. Dieser Band stellt eine „Liturgik" des
Hauptgottesdienstes dar. In seiner Methode ist er dem Werk
Jungmanns über die römische Messe verwandt. Hier wie dort
werden die Hauptstücke des Gottesdienstes einer historischen und
systematischen Untersuchung unterworfen. K. F. Müller behandelt
das sog. „O rdinarium missa e", d. h. die überlieferten
unveränderlichen, vom Kirchenjahr nicht abhängigen Stük-
ke, die die Grundstruktur des Gottesdienstes bestimmen. Nach-