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Ausgabe:

1956

Spalte:

467-469

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Ramm, Thilo

Titel/Untertitel:

Die großen Sozialisten als Rechts- und Sozialphilosophen 1956

Rezensent:

Fuchs, Emil

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Theologische Literaturzeitung 1956 Nr. 7/8

468

Ramm, Thilo, Doz.: Die großen Sozialisten als Rechts- und Sozialphilosophen
. Li Die Vorläufer. Die Theoretiker des Endstadiums
Stuttgart: Fischer 1955. XV, 313 S. gr. 8°. DM26.-.

Nicht eine nationalökonomische Arbeit will der Verfasser
dieses Werkes liefern. Er sagt: „so liegt der eigentliche Schwerpunkt
der Arbeit auf einem andern Gebiete: auf dem der Rechtsphilosophie
. Die Arbeit will ein Beitrag zu einer neuen Grundlegung
des rechtswissenschaftlichen Denkens liefern und damit
die Lösung dieses brennenden Problems fördern" (S. 29/30). Das
Problem ist brennend nach Ansicht des Verfassers, denn „Keine
der vergangenen juristischen Denkformen übt heute mehr eine
Anziehungskraft aus. Sowohl die Herrschaft der historischen
Schule als auch die des Positivismus ist zu Ende, und dem Rufe
nach einem neuen Naturrecht wird die Gebundenheit der Naturrechtsidee
an den Liberalismus oder an das Bürgertum entgegengestellt
oder ihm entgegengehalten, daß jede Gewaltherrschaft
den Glauben an ein überpositives Recht zur Folge habe. Eine
einfache Wiederanknüpfung an diese Denkformen erweist sich als
unmöglich, sie alle haben ihren Zauber verloren. So hat eine
neue Zeit des Suchens begonnen" (S. 30).

Dies ist ein Ausgangspunkt der Untersuchung, der sofort
große Erwartungen erweckt. Es kommt noch dazu, daß der Verfasser
eine sehr deutliche Erkenntnis von der Abhängigkeit des
Menschen von seiner gesellschaftlichen Lage hat: „Den Grad der
Verhaftung des Denkens in der Wirklichkeit zeigt mit besonderer
Deutlichkeit das Urteil des Historikers über Staats- und Gesellschaftstheorien
, die die bestehende Ordnung grundlegend zu
verändern trachten" (S. 20). Er weiß, daß es einer besonderen Gewissenhaftigkeit
bedarf, um dieser Gefahr entgegenzuwirken, die
nie völlig überwunden werden kann.

Umgekehrt weiß er auch in Bezug auf die Rufer zum Neuen,
deren Gedanken er untersucht, welche Gefahr der Verhärtung
hier vorliegt:

„Der Mensch, der sich aus den Klammern einer noch ungebrochenen
oder erst im Stadium der Zerstörung begriffenen Seinsordnung löst, verliert
damit seinen ursprünglichen Halt und ist gezwungen, sich einen
neuen zu suchen. Er findet ihn in seiner Weltanschauung, die er sich erkämpfen
und in steter Verteidigung gegen Angriffe von allen Seiten
behaupten muß. Und diese Verbindung von Persönlichkeit und Theorie,
diese neue, diesmal auf individueller Basis vollzogene Verschmelzung
von Denken und Sein, vermag er nicht mehr zu lösen" (S. 22).

Das ist eine Bemerkung von so tiefem Verstehen, daß man
nur wünschen kann, sie würde gerade auch in den gegenwärtigen
Auseinandersetzungen öfter beachtet.

Gerade der Heftigkeit und Unklarheit gegenwärtiger Auseinandersetzungen
will der Verfasser entgegenarbeiten. Er will
zur „Versachlichung des politischen Gespräches" beitragen, indem
er etwas leistet, was, — wie er mit Recht betont — bis jetzt sehr
unvollkommen geleistet ist, nämlich die Geschichte der Rechtgedanken
darstellt, die für die Entstehung des Sozialismus wichtig
geworden sind. Er meint, daß wir in einer großen Unklarheit
selbst der Begriffsbestimmungen von Sozialismus, Kommunismus,
Marxismus, Leninismus und aller andern Begriffe stehen, weil
wir kedne Darstellung haben, die sie in ihrem Werden und Sein
zu begreifen sucht.

Dann aber meint er — und das ist die eigentliche letzte Zielsetzung
seiner Arbeit — daß in der Geschichte dieser Vorstellungen
gerade das sehr deutlich aufleuchtet, was an den Beziehungen
den einzelnen Lebensgebiete zueinander in der menschlichen Gesellschaft
vorhanden ist oder geordnet werden muß, daß also
hier ein sachliches Urteil über das Notwendige zu gewinnen ist:

„Das nächste Forschungsziel ist somit auf die Herausarbeitung der
Gesetzmäßigkeiten bei der Regelung menschlichen Zusammenlebens beschränkt
, wobei allerdings zu fragen ist, ob nicht die Verwendung neuer
Arbeitsmethoden auf geistesgeschiditlichem Gebiete notwendig ist, um
es zu erreichen. Die wichtigste Etappe zu diesem Teilziel bildet die Ana
lyse einer größern Anzahl geistesgeschichtlich bedeutsamer revolutionärer
Theorien. Sie ist leichter als eine LIntersuchung von Seinsordnungen
, da die revolutionären Neuerungsvorschläge die Beziehungen zwischen
den einzelnen Lebensgebieten mit aller Deutlichkeit aufzeigen und
damit auf die Verbindungslinien aufmerksam machen, die sonst als
selbstverständlich übersehen werden. Die allgemeine Problemstellung
wird klar herausgearbeitet und dadurch der Blick für die Analyse der
Seinsordnungen geschärft" (S. 30).

Von diesen Voraussetzungen aus kann man wohl mit einiger
Spannung das Weitergehen der Arbeit erwarten, deren Ziel
gezeigt ist: „Den Abschluß der Darstellung der Systeme der großen
Sozialisten bildet daher der Versuch, die gewonnenen Ergebnisse
zusammenzufassen und von ihnen ausgehend zu den logisch
überhaupt denkbaren Lösungen der Einzelprobleme, der Herrschaft
über die Sachen, dem geschichtlichen Zusammenleben, der
Erziehung der Kinder usw. zu gelangen" (S. 31).

Wie weit dies Ziel erreicht wird, kann erst beurteilt werden
, wenn die Untersuchung wirklich abgeschlossen vorliegt. Für
den Halbband, der jetzt zu besprechen ist, kann nur die Frage in
Betracht kommen, ob die Darstellung der einzelnen Denker so
gewissenhaft und tiefgehend gestaltet ist, wie es zu fordern ist,
wenn sie Grundlage einer solch hochgesteckten Zielsetzung sein
soll. „Der Hauptteil der Arbeit will somit nur eine zuverlässige,
genaue Darstellung der Systeme der „Großen Sozialisten" sein.
Sie beschränkt sich dabei allerdings nicht auf eine einfache Wiedergabe
derselben, so sehr auch im Interesse jederzeitiger Nachprüfbarkeit
darauf gesehen wurde, die Denker selbst zu Worte
kommen zu lassen. Die Darstellung bemüht sich vielmehr, die
jeweiligen geistigen Kernpositionen zu erfassen und sich in die
Gedankenwelt der einzelnen Theoretiker hineinzuversetzen und
gegebenenfalls auch ihre Stellungnahme zu möglichen Einwendungen
gegen die Konzeption aus ihrer Theorie abzuleiten. Darüber
hinaus sucht sie die Grenzen der einzelnen Theorien aufzuzeigen
, ohne dabei allerdings den Bereich der immanenten Kritik
zu verlassen" (S. 28).

Man kann wohl zuversichtlich sagen, daß dieser Vorsatz
ausgeführt ist. Mit großer Genauigkeit, Liebe und Sachlichkeit
werden die einzelnen Männer und ihre Schau dargestellt. Von
hier aus gesehen ist das, was bis jetzt vorliegt, eine wichtige und
uns alle angehende Vorgeschichte aller Bestrebungen, die in unserer
Zeit gegenüber den entscheidenden gesellschaftlichen Fragen
wichtig wurden und werden.

Leider hat sich der Verfasser verführen lassen, in sein Vorwort
eine Beurteilung der religiösen Sozialisten aufzunehmen,
bei der man nur fragen kann, wen er mit diesem Begriffe meint.
Was er dazu sagt, trifft weder für Leonhard Ragaz, noch Paul
Tillich, noch irgendeinen andern der führenden Männer dieser
Bewegung zu, auch nicht für Amerikas Social Gospel. Es ist aber
immer ein Jammer, wenn ein Mann, der sehr Gutes sagt, wo er
wahrhaft gearbeitet hat, sich Urteile erlaubt, die offenbar aus
Unkenntnis kommen.

Wo er die darstellt, um die es ihm geht, ist er ein zuverlässiger
, den Betreffenden sachlich gerecht werdender Führer.

Bei allen erlebt man das Hervorgehen ihrer Gedanken aus
der Lebenslage und Not ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit und
der geistigen Mächte, die sie vertreten oder mit denen sie kämpfen
. So ist die immanente Kritik immer gegeben — aber auch
immer wieder deutlich, was sie für die Formung der Gesellschaft-
sachlich Dauerndes zu sagen haben, neben dem, wo sie Einseitiges
, zeitlich, persönlich, politisch Bedingtes vertreten. Überraschend
ist für den Kenner des Marxismus, wie viele von dessen
Grunderkenntnissen schon in früheren Gedankenbildungen
aufleuchten, Klassenausbeutung, Klassenkampf, Mehrwert u. a.

Das gilt nun vor allem von den beiden Männern, die ja
schon zu den unmittelbaren Vorgängern von Karl Marx gehören,
Gracchus Babeuf und Saint-Simon — wenn auch in sehr radikal
verschiedener Weise. Babeuf sieht, daß es keinen Weg zur grundlegenden
Erneuerung der Gesellschaft gibt als den, der entschlossenen
Machtergreifung, die mit einem klaren Plan der Umgestaltung
beginnt und ihn durchführt, ehe er durchkreuzt werden
kann. Saint-Simon sieht, daß wirtschaftliche Gestaltungen ihre
eigene Gesetzlichkeit in sich tragen und also eine Gesellschaftsgestaltung
nur so errungen werden kann, daß man diese im aufsteigenden
Kapitalismus liegenden Möglichkeiten — ja Notwendigkeiten
— sieht, zur Vollendung weitertreibt und so die Hierarchie
der Tüchtigen, der lenkenden Kräfte der Industrie schafft,
in der eine neue auf diese wirtschaftlichen Gegebenheiten gegründete
Ordnung entsteht.

Er sieht dabei diese Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen
Aufgaben und Gestaltungen so absolut, daß er — und noch mehr