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Ausgabe:

1956

Spalte:

413-422

Autor/Hrsg.:

Schoeps, Hans-Joachim

Titel/Untertitel:

Zur Standortbestimmung der Gnosis 1956

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Theologische Literaturzeitung 1956 Nr. 7/8

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überhaupt nur und erst durch den Glauben (ausdrücklich nicht
nur durch Religion) entscheidende Hilfe möglich ist.

Das würde also etwa auf die Wege führen, die von der
katholischen Pastoralmedizin aus beschritten
worden sind. Als Beispiel sei genannt das hübsche Büchlein „Die
Tiefenpsychologie hilft dem Seelsorger"1", in dem ein Arzt und
ein Priester über die rechte Zusammenarbeit der beiden Berufe
berichten, und in dem nicht nur entsprechende Kenntnis der Psychologie
durch den Seelsorger, sondern auch die Einführung des
Mediziners in die Probleme der Pastoral-Medizin (5) gefordert
und mit vielen Beispielen illustriert wird. Oder auch Wege und
Erwägungen des gedankenreichen Buches von Klug (kath. Mo-
ralprofessor)19, das entsprechende Analysen mit reichen Beispielen
aus der schöngeistigen Literatur und aus der Praxis bringt.
In den beiden genannten Werken, wie in der gesamten katholischen
moralmedizinischen Literatur, repräsentativ vertreten durch
das große Werk von Niedermeye rM, liegt eine intensive
Wertung der psychotherapeutischen „Wahrheit" von der katholischen
Theologie aus und für die katholische Seelsorge vor.

Auf evangelischer Seite ist Zurückhaltung und
Mißtrauen anfangs größer gewesen als auf katholischer. Der Katholik
spürt in seiner Kirche einen stärkeren Schutz gegen den
Einbruch häretischer Irrtümer und vor allem häretischer Grundhaltung
. Der evangelische Christ und Theologe ist von Luther
her grundsätzlich und praktisch intensiver darauf eingestellt,
auch die Kirche als menschliche Einrichtung zu sehen und von
dem Evangelium aus seine eigene Kirche und alles Kirchentum
in der Hingabe zugleich kritisch zu sehen. Damit ist die Gefahr
der Häresie wirklich größer, die Tore nach draußen sind gleichsam
weiter offen als im Katholizismus. Aber die evangelische
Kirche verlöre sich ebenso wie mit der Häresie von außen her
auch mit der Häresie von innen her. Und die läge darin, daß sie
es versäumte, ihren zentralen kirchlichen Auftrag gegenüber der
„Welt" zu erfüllen. Und dieser Auftrag ist nicht nur die Wachsamkeit
gegenüber kirchenfremden Einbrüchen, sondern zugleich
und grundsätzlich unbegrenzt die Aufmerksamkeit auf alles,
was „draußen" geschieht. Es hätte dem Wesen der evangelischen
Kirche besser entsprochen, wenn sie als erste die neu auftauchende
Psychotherapie, ungehemmt durch deren Relativismus, auf ihre
Wurzeln und Möglichkeiten hin vorurteilslos geprüft hätte. Man
möchte sagen: die evangelische Theologie und Kirche hätte als
erstes Gremium in der Welt sogleich die Erkenntnisse heraus-

ls) Ringel, E., Dr. med., u. van Lun, W., Dr. theol.: Die Tiefenpsychologie
hilft dem Seelsorger. Wien: Seelsorger-Verlag im Verlag
Herder 1953. 145 S. 8°. DM 3.50.

19) Klug, L, Dr.: Die Tiefen der Seele. Moralpsydiologische Studien
. 11. Aufl. Paderborn: Schöningh 1949. 463 S. 8°. Lw. DM 12.—.

-") Niedermeyer, D. Dr. Albert: Handbuch der speziellen Pa-
storalmcdizin. 8 Bde. Wien: Herder, 1948 ff.

arbeiten müssen, die dann allmählich entstanden sind. Und immer
noch soll und muß sie sich beauftragt fühlen, gleichermaßen Wächter
ihrer Wahrheit und Wächter aller in der „Welt" neu erstehenden
„wahren" Erkenntnis zu sein.

Inzwischen haben wir nun in der Tat von entschieden evangelischer
Seite aus entscheidende Beiträge zu dem Problem der
Wahrheit und der Wertung der Psychotherapie bekommen. An
der Spitze stehen Namen wie Theodor B o v e t, Paul T o u r-
n i e r, Hans Trüb, Gerhard P f a h 1 e r, aus früherer Zeit
schon Hans March, die ausgebreiteten Arbeiten der Arbeitsgemeinschaft
Arzt und Seelsorger und anderes.

Die Resultate sind auf den verschiedenen Gebieten noch
verschieden umfassend und verschieden intensiv. Die Grundlinien
aber sind scharf herausgearbeitet und bieten gute und verheißungsvolle
Leitlinien für die weitere Klärung. Sie können folgendermaßen
kurz zusammengefaßt werden:

1. ) Unbedingte Offenheit gegenüber allen echten und sich
bestätigenden neuen Erkenntnissen, sie seien willkommen oder
nicht.

2. ) Bereitwillige und besonnene Mitarbeit, verbunden mit
für beide Seiten fruchtbarer kritischer Würdigung und würdiger
Kritik, nicht von vorgefaßten Prinzipien aus, sondern allein von
„der Wahrheit" aus.

3. ) Unbedingte Bereitschaft zur Revision eigener Meinungen,
Prinzipien und Voraussetzungen, auch da, wo sie zunächst als
gefährdender Angriff auf theologische und kirchliche Überzeugung
empfunden werden.

4. ) Ständige und ständig bis zu den letzten Fragen und
Prinzipien durchdringende Auseinandersetzung („Begegnung")
mit allen gegenwärtigen oder noch bedeutsamen Ansätzen und
Gestaltungen der Philosophie, Psychologie u.s.w.

5. ) Intensive Arbeit und Mitarbeit an der dringend notwendigen
neuen Anthropologie, und zwar in Auseinandersetzung
der tatsächlich grundlegenden, wenn auch oft verkannten theologischen
Realerkenntnis mit aller existenzerhellenden Erkenntnis
von anderer Seite her.

6. ) Ständige konkrete Verarbeitung der gewonnenen Erkenntnisse
für die Seelsorge, gegebenenfalls ebenso für die Psychotherapie
und für den Dienst am Menschen überhaupt.

Leonhard Fendt sagt auf der ersten Seite seines Kapitels
über „Seelsorge":21: „Seele" bedeutet im Worte „Seelsorge"
immer den ganzen Menschen, so wie er vor Gott steht und
wie G o 11 ihn sieht und leitet." Allein von dieser unbedingten
horizontalen und vertikalen Totalität her ist auf einen
fruchtbaren Beitrag reicher Arbeit für die Gestaltung einer gedeihlichen
Zukunft zu hoffen, unter ihr aber gewiß.

21) a. a. O. S. 289, Sperrung von uns.

Zur Standortbestimmung der Gnosis

Von Hans Joachim S c h o e p s, Erlangen1

I.

Die Gnosis in der neueren Forschung

Das ganze 19. Jahrhundert von Baur bis Harnack ist noch
von der Behauptung der Kirchenväter geleitet worden, die Gnosis
sei eine christliche Häresie des 2. Jahrhunderts, die den christlichen
Heilsgehalt in hellenistischen Denkformen2 philosophisch
interpretieren wollte, dann aber in Mythologie ausgeartet sei.
Inzwischen hat sich aber dank der Forschungen aus der religions-

*) Vgl. mein neues Buch: Urgcmeinde — Judenchristentum -
Gnosis, J. C. B. Mohr-Tübingen, 1956.

') Der Terminus „hellenistisch" ist bekanntlich durch J. G. Droy-
sen (1 833) als Kulturepochenbegriff für die in Hellas stattgehabte Vermischung
griechischer und orientalischer Kulte eingeführt worden.
Harnack D.G. 1', 250 hat im Anschluß an Franz Overbeck die
Gnosis als „akute Hellenisiening des Christentums" bezeichnet, mit
welchem Begriff auch F. C. B u r k i 11 (Church and Gnosis Cambridge
1932,40) operiert. H. Lietzmanns (Gesch. d. alten Kirche l2, 317)
definitorische Modifikation lautet: „akute Rückorientalisierung".

geschichtlichen Schule die Auffassung durchgesetzt, daß die Gnosis
eine Religion sui generis gewesen ist und gleich alt oder älter
als das Christentum. Das Phänomen selber freilich ist viel zu
komplex, als daß die verschiedentlich versuchten Kurzdefinitionen
befriedigen könnten3.

Über den Ursprung der Gnosis sind sehr verschiedene Theorien
in Umlauf gekommen, deren jede sich auf den Nachweis
bestimmter Ähnlichkeiten und Parallelen stützen konnte. Es lassen
sich unterscheiden hellenistische (Leisegang, z. T. Schaeder,
C. Schneider), orientalische, d. h. ägyptische, babylonische, zu-

3) So kamen mir neüestens zu Gesicht: „Große religiöse Bewegung
der Spätantike, die das Heil in der Erlösung der Auserwählten aus
dieser materiellen Welt in das ferne Lichtreidi des wahren Gottes hinein
suchte" (Georg Kretzschmar in Ev. Theol. 1953, 354). Oder: „Die
absolute Abwertung der geschichtlichen Existenz zugunsten der durch
Eingebung von oben wiederzuerlangenden eigentlichen überweltlichen
Existenz" (L. Goppel t: Christentum und Judentum im ersten und
zweiten Jahrhundert, Gütersloh 1954, 130).