Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1956

Spalte:

407-414

Autor/Hrsg.:

Haendler, Gert

Titel/Untertitel:

Wahrheit und Wertung der Tiefenpsychologie 1956

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3, Seite 4

Download Scan:

PDF

407

Theologische Literaturzeitung 1956 Nr. 7/8

408

Wahrheit und Wertung der Tiefenpsychologie

Von Otto H a e n d 1 e r, Berlin , * ,

Leonhard Fendt zum 75. Geburtstag

Der verehrte Jubilar hat in seinem „Grundriß der Prakti- 1 muß. Mit ihr sind die genannten Probleme in ständige Beobach-

sdien Theologie"1 mehrfach in der Lehre von der Seelsorge der tung genommen, und soweit die charakterisierte Haltung durch-

Psychotherapie Erwähnung getan. Damit ist sein Grundriß das geführt wird, ist auf einen für beide Seiten fruchtbare Fortfüh-

erste Gesamtwerk über Praktische Theologie, in dem ein immer rung der Begegnung und Auseinandersetzung zu rechnen. Die

stärkere Bedeutung gewinnender Bereich neuzeitlicher Erkenntnis Anforderung an beiderseitige Klarheit und Bereitschaft ist nicht

in seiner eigentlichen Intention aufgenommen und gebührend be- gering, denn je zentraler und „existenzieller" die Bereiche der

rücksichtigt wird. Wie in dem ganzen Buche, so wird auch hier
die Einführung in ein schwieriges Gebiet sozusagen von innen
her gegeben und mit praktisch-konkreten Winken versehen.
Zwei Anliegen gehen parallel und ergänzen einander: Die praktische
Tendenz, in dem Leser ein Bewußtsein von der Bedeutung
der Psychotherapie für die Seelsorge zu wecken und das grundsätzliche
Problem der Beziehung zwischen Seelsorge und Psychotherapie
. Es ist bei einem Autor wie Leonhard Fendt selbstverständlich
, daß Grundlage, Wesen und Anliegen der Seelsorge

Begegnung sind, um so stärker, ja leidenschaftlicher spielen auf
beiden Seiten nicht mehr nur die Anliegen des „Standpunktes"
oder der speziellen Erkenntnis und Erfahrung, sondern die des
Seins, die der Wahrheit und der Wirklichkeit, wie man sie sieht,
versteht und lebt, die entscheidende Rolle. Das muß in dieser
Auseinandersetzung (d. h. zwischen Theologie und Psychologie)
deutlicher gesehen und sorgsamer gewogen werden, als in vieler
wissenschaftlicher Diskussion sonst, weil je zentraler die Probleme
für das Personleben werden, um so höher die Anforderun-

in ihrer Besonderheit nachdrücklich und unverkürzt gewahrt wer- gen an dennoch objektive Beobachtung der Wirklichkeit und an

den. Eben von dieser Klarheit aus tritt schon in F e n d t s Aus- ihre unparteiische Wertung und Einordnung sind. Freilich wächst

führungen vor nun fast zwanzig Jahren die einzig mögliche theo- i auch der Erkenntnis- und Lebenswert mit dem Maß der sittlichen

logische Einstellung zur Tiefenpsychologie deutlich hervor. Wir | Leistung innerhalb der sachlichen Erörterung,

möchten sie nach einer Formulierung von D a i m (s.u.) als die i Der stärkste Angriff auf die Psychologie, soweit sie die

Unterscheidung von Wahrheit und Wertung bezeichnen. Es geht Wirklichkeit des Absoluten relativiert und deshalb zu einseitiger

darum, daß die Wahrheit der Tiefenpsychologie und ihrer Er- ; und falscher Wertung ihrer Erkenntnisse kommt, geht zwar von

kenntnisse bejaht und angewendet wird, und daß in unmittel- entschieden christlicher Haltung aus, kommt aber nicht aus den

barer Verbindung damit klar ist, daß diese Wahrheit je nach der Kreisen der Theologie, sondern aus denen der Therapie selbst,

anthropologischen Grundeinstellung verschiedenartige Wertung ; Eigenartigerweise ist die entscheidende Kritik an Freuds Relati-

und verschiedenartige Einordnung in das Ganze des Menschen- | vismus, und zwar sowohl von christlicher wie von existenziali-

bildes, damit auch der Therapie und der Seelsorge, erfährt. j stiScher Seite aus, in demselben Wien entstanden, in dem er seine

Aufs Ganze gesehen wird damit wechselseitig die Psycho- ] bahnbrechende Wirksamkeit ausübte,

logie für die Theologie und die Theologie für die Psychologie Wilfried D a i m, Psychoanalytiker von Fach aus der Schule

fruchtbar. Die Begegnung als grundsätzliches Problem wird aber Freuds .unternimmt eine von ihm selbst so bezeichnete „Um-

von beiden Seiten her vielfach zu einseitig nur von der instruk- W£ def psydl0analysc..( die ihm seine auf K i e r k e g a a r d

tiven Bedeutung der Psychologie her gesehen. Da die Tiefen- ündende christliche Glaubensüberzeugung aufnötigt': in der-

psyAologie, zumal mit der Traumanalyse neue Methoden er- sdben Verbindung von Wahrheitsliebe, Hochachtung und Un-

schloß und in neue bisher unbekannte Schichten der Seele vor- bcdi theit geschrieben, wie J u n g s erwähntes Buch, ist diese

drang, entstand vielfach der Eindruck als ob nur, oder doch we- | „Umwertung" nicht etwa eine „Kritik" Freuds vom christlichen

senthch nur, die Theologie von der Tiefenpsychologie zu lernen „Standpunkt" aus. Wäre sie das, so ergäbe sich eine Streitfrage

habe. Er wurde in seiner Einseitigkeit dadurch verstärkt und in ctwa fa der Richtung( ob der Autor zu radikai vorgeht oder nichti

seiner vermeintlichen Vollständigkeit dadurch genährt, daß Sig- i ob er Freud gerecht wird oder es daran fehlt ob die Psychoana-

mund Freud seine großartige Ouvertüre eines Zeitalters der , lyse in dieser Umwertung noch Psychoanalyse" bleibt, d. h. wirk-

Psychologie eröffnete durch die Verbindung der neuen Erkennt- lich nur um.„geWertet" wird, oder um-„gewandelt" und ihres

nisse mit einer „psychologischen" Auflosung der Religion. Auf spezifischen Charakters als Tiefenpsychologie etwa durch

evangelischer Seite war Oskar P f i s t e r, Pfarrer in Zürich und
Fachpsychologe, der erste, der mutig und gegen viel Mißtrauen
sich für eine Verarbeitung der neuen Wissenschaft (und Praxis)
durch die Theologie und für ihre Verwertung in der Seelsorge
einsetzte2. Immerhin konnte schon ein knappes Jahrzehnt später
Fendt'1 den Satz schreiben, daß „in der Praxis sowohl der radikal
-theologische Standpunkt völlig auf die beste Erfüllung der
psychologischen Pflichten aus ist, als der radikal-psychologische
Standpunkt heute in keineT Weise mehr die theologische Tiefe

eine

wesensfremde Voraussetzung beraubt worden ist usw. Es ist die
Schwäche vielfacher Auseinandersetzung seitens der Theologie
mit Freud und der Tiefenpsychologie überhaupt, daß sie die
Sache mit einem ihr fremden Maßstab mißt und deshalb gar nicht
an sie herankommt, sie nicht in ihrem Wesen trifft und darum
als Kritik auch nicht überzeugend wirkt — außer auf die, die von
den gleichen, in diesem Falle kritisch als „dogmatisch" zu bezeichnenden
Voraussetzungen ausgehen. Erst wer in die Psychologie
als solche ernsthaft eingeht mit dem Mut zu allen Konse-

entbehren mochte Heute laßt sich weder bestreiten daß die quenzen, kommt von der F ob sie die abso]uten Werte auf.
Theologenschaft weithin für die Psychologie wirklich und vielfach j lösc> zu der tieferen und alIein fruchtbaren, ob und inwieweit
verlangend offen ist, wie auch, daß vom ursprünglichen Miß- sie eben als Analyse der Tiefenschichten einfach „wahr" ist und
trauen eine sorgsame - und sehr zu begrüßende - Wachsamkeit | darum von ganz anderer Seite aus zu neuen Erkenntnissen führt,
geblieben ist. „Der radikal-psycho ogische Standpunkt weiß sich j die s0 oder so mit dem Absoluten in Relation gebracht werden
selbst als die psychologische Seite des theologischen Sachverhalts, ! kömen> bzw. gebracht werden müssen. Nur von dieser radikalen
^^t*!??^!?*^.^. .^- *e°^S*.S^* °h"e Fragestellung aus konnte J u n g das zwingende Auftauchen religiöser
Anliegen ohne, ja gegen jede dogmatische Bewußtseinshaltung
nachweisen, konnte F r a n k 1 zur Forderung der „Logotherapie
" eben aus der therapeutischen Erfahrung heraus kom-

diese Psychologie mit der Theologie zu verwechseln"4. Diese For
mulierung bringt treffend zum Ausdruck, was sein und bleiben

*) Fendt, Leonhard: Grundriß der Praktischen Theologie für
Studenten und Kandidaten. Tübingen: Mohr 1938. 398 S. 8°.

J) Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion 1927; Oskar
Pf ist er, Die Illusion einer Zukunft 1930; vgl. hierzu und zum
weiteren meinen Aufsatz „Psychologie und Religion von Sigmund Freud
bis zur Gegenwart" in „Wege zum Menschen" Jahrg. VIII 1956,
Heft 5 u. 6.

3) a.a.O. S. 95, in der Lehre vom Amt.

*) Fendt, a. a. O. S. 95.

5) D a i m, Wilfried: Umwertung der Psychoanalyse. Wien: Herold
[1951]. 364 S., 36Textabb., 34 Taf. gr. 8°. Lw. DM 12.80.

6) Es sei angesichts vielfacher Unklarheit und Unkenntnis ausdrücklich
darauf hingewiesen, daß die Vokabel „Psychoanalyse" Fach-
ausdruck für die Psychologie Freuds ist. Adlers Psychologie heißt
Individualpsychologie, Jungs Analytische Psychologie, später Komplexe
Psychologie.