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Ausgabe:

1956

Spalte:

393-396

Autor/Hrsg.:

Goldammer, Kurt

Titel/Untertitel:

Der Schamanismus in der Vorwelt und Umwelt des Christentums 1956

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393

Theologische Literaturzeitung 1956 Nr. 5/6

394

RELIGIONSWISSENSCHAFTLICHE SEKTION

(Leitung: E. F a s c h e r/Berlin und G. Rosenkran z/Tübingen)

Der Schamanismus in der Vorwelt und Umwelt des Christentums

Ein religionsgesdiichtlidies Zentralphänomen in Beziehung zur biblisdien Religion

Von Kurt Goldammer, Marburg/Lahn

1. Zu den Phänomenen, die in der Religionsgeschichte eine
ganz bedeutende Rolle spielen, dort aber aus verschiedensten
Gründen außerhalb eines Kreises weniger Spezialisten nur sehr
mäßig gewürdigt worden sind, gehört der Schamanismus. Die relativ
geringe Beachtung, die diese Erscheinung erfahren hat, hat
verschiedenste Ursachen. In neuerer und neuester Zeit sind gewichtige
religionswissenschaftliche Arbeiten über den Schamanismus
erschienen, unter denen vor allem die von Nioradze (1925),
Harva (1933 bzw. 1938), Ohlmarks (1939) und Eliade (1951),
letztere aus der tiefeiipsychologischen Richtung, zu nennen wären.

Der Schamanismus ist, grob skizziert, die Inspirationspraxis
und -technik eines im wahrsten Sinne des Wortes „beruflichen"'
Kultdienertums, um nicht zu sagen: Priestertums, in hocharktischen
und subarktischen Gebieten, die mit bestimmten Merkmalen
ausgestattet ist. Sdion immer hat man richtig bemerkt,
daß auch kultisch-religiöse Persönlichkeiten außerhalb des eigentlich
arktisch-subarktischen Gebietes entweder mit dem Schama-
nentum innerlich verwandt sind oder historisch nachweisliche
Beziehungen dorthin haben. Damit erweist sich der Schamanismus
als eines der am weitesten verbreiteten religiösen Phänomene vor
und neben den Weltreligionen. Die Äußerungen dieses Offenbarungswesens
sind scharf charakterisiert, wie auch Tracht, Attribute
, Amtstraditionen und Amtsübernahme des Schamanentums
ihre Eigenarten haben.

2. Außerhalb seiner arktisch-subarktischen (Ohlmarks sprach
von „arktischer Hysterie"), zentral-, ost- und südasiatischen Ver-
breitungs- bzw. Ausstrahlungsgebiete findet sich Schamanistisches,
mindestens in Relikten und Spurenerscheinungen und in gewandelter
Gestalt, deutlich erkennbar auch in den eigentlichen Hochkulturen
und Hochreligionen im südlichen und westlichen Umkreis
Zentralasiens. Besonders kommen in Betracht das alte Indien
, der Mittlere und Nahe Osten zwischen Indien und dem Mittelmeer
und Teile des altmittelländischen und europäischen Gebietes
. Man hat in neueren Forschungen bespielsweise mehrfach
auf Iran, Mesopotamien und das Schwarzmeergebiet hingewiesen.
Bis in den modernen Islam hinein (Derwischwesen) scheinen die
Phänomene nachzuleben, wie andererseits auch in der nordgermanischen
Religiosität (ekstatische Zauberpraxis des seidr, Gestalt
Odins) derartige Dinge wirksam sind. Auch die klassische Antike
weist in ihrem Seher- und Prophetentum (z. B. Teiresias)
und im Sängertum der Heldenzeit Erinnerungen an den Schamanismus
auf. Unter den Sonderkulten sind es m. E. besonders der
Attis-Kybele-Kultkreis und die Mithrasreligion, die schamanisti-
sche Elemente konserviert haben.

3. Auch die Religiosität der Bibel und das Christentum liegen
in alten Einflußgebieten des subarktischen und des kulturreligiös
entwickelten oder adaptierten Schamanismus.

a) Vor allem sind im AT die schamanistisch interpretierbaren
Züge nicht ganz selten. So haben wir z. B. Spuren eines weiblichen
Prophetentums, das für die arktischen und subarktischen Schamanismen
charakteristisch ist. Die von Saul befragte Wahrsagerin,
..Herrin des dumpf dröhnenden Hohlgefäßes", scheint die Funktionsbezeichnung
einer Schamanin zu tragen (l. Sam. 28, 7—25),
während bei der Nebi'a Hulda ihr Tiername in diese Richtung
weist (2. Kön. 22, 14). Auch Mirjam (Ex. 15, 20) scheint hierher
zu gehören. Für die mosaische Zeit ist einmal die Gestalt Moses
selbst (vgl. die religionsgeschichtlich höchst eigenartige Schilderung
Ex. 34,29—35; ferner Num. 12!) von Interesse, der nicht
umsonst als ein „Prophet" gesehen wird (vgl. Deut. 18, 15—22),
sodann die „Stiftshütte", die sich gerade vom schamanistischen
Kultbereich her als eine urtümliche und unzweifelhaft historische
Einrichtung aus spätestens mosaischer, wenn nicht aus vormosaischer
, Zeit erklären läßt.

b) Weitere bemerkenswerte Erscheinungen bietet das Ridi-

weiblichen Charismatikern und Tanzekstatikern (Jud. 4,4 ff.;
11, 34) erfahren wir von geistbegabten Charismatikern (vgl. Jud.
3,10; 11,29; 14,6; 15,14), die in dem langhaarigen Simson
mit dem sog. Nasiräat verbunden werden. Gerade Simson aber
wirkt als Ekstatiker mit wunderbaren Kräften „spielend" (vgl.
Jud. 16,25 ff.). Auch Samuel gehört zu den langhaarigen Sehern
(1. Sam. 1, 11) und soll offenbar die Brücke zwischen Richtertum
(l. Sam. 7,15) und ekstatisch-visionärem Nabi'tum (l.Sam. 9,
9 ff.) bilden. Das Nabi'tum aber ist nach 1. Sam. eine unverkennbar
mit Merkmalen des Massenschamanismus ausgestattete Gruppenerscheinung
(vgl. 1. Sam. 10, 5), die ihre Angehörigen zu
„anderen Menschen" umwandelt (l.Sam. 10,6. 10 ff.) und die
Geistbesessenheit bzw. Macht über die Geister verleiht (l.Sam.
16, 14. 23).

c) Auf den Zusammenhang des Nabi'tums mit dem Massen-
schamanisieren hat schon Ohlmarks (S. 165 ff.) aufmerksam gemacht
. Insbesondere aber ist der Nabi' Zedekia (1. Kö. 22, 10 ff.),
ebenfalls, bereits von Ohlmarks apostrophiert, eine schamanen-
hafte Gestalt, deren eiserne Hörnerkrone (um eine solche handelt
es sich, also um ein Kultrequisit, nicht um eine ad hoc konzipierte
„prophetische Symbolhandlung") ihre Parallelen in dem nord-
und zentralasiatischen Geweihkopfschmuck der Schamanen und in
^.en ^ornerkronen und -masken sumerischer Kultpersonen (irrtümlich
als mythische „Stiermenschen" aufgefaßt) findet. Zu Ohlmarks
wäre hier noch manches zu ergänzen.

Gestalten schamanistischen Charakters sind vermutlich die in
Gruppen auftretenden und ihre Ekstase systematisch übenden
Baalspropheten, das Analogon zu den israelitischen Nebi'im, deren
Gegner Elia mit seinen ekstatischen Erfahrungen, seinem
geistgetriebenen Umherirren, seinem wunderbaren Mantel und
seiner Himmelsreise (2. Kö. 2) und als Herr der Raben (l. Kö. 17,
4 ff.) ebenso gewisse Züge eines Schamanen trägt wie Elisa, der
Herr der Bären (2. Kö. 2, 24). Berücksichtigt man, daß diese Züge
der beiden Ekstatiker ohnehin nur rudimentär überliefert sind,
so wird man in solchen Trümmerstücken Reste eines ehedem
noch vollständigeren Bildes sehen können, welches den Anhängerkreisen
vertraut war und uns mit dem Schicksal von zwei interessanten
Trägern alter Traditionen bekannt macht.

4. Im NT verblassen natürlich die schamanistischen Motive,
obwohl sie nicht fehlen. Die Gestalt des Täufers wäre hier zu beachten
, vor allem auch in ihrer späteren Deutung. Interessant ist
die Linie von einem weiblichen Prophetentum alter Zeit (Act.
21, 8 f.; vgl. Lk. 2, 36) zu den derwischartigen Inspirierten des
phrygischen Montanismus, unter denen Frauen glänzen. Sie folgten
dem (ehemaligen Kybelepriester?) Montanus, nach dem der
Geist auf dem Enthusiasmierten spielt wie auf einer Leier. Bei
christlichen Sekten der neueren Zeit wie den Chlysten und Skop-
zen in Rußland und gewissen christlich-indianischen Mischsekten
enthusiastischer Art in Amerika ist der Schamanismus kaum in Abrede
zu stellen, obwohl er hier aus der modernen, nicht aus der
antiken Umwelt stammt.

5. Aus unserem Überblick, der an vielen Stellen durch Einzeluntersuchungen
vertieft werden könnte, scheint sich zu ergeben
, daß eine Überprüfung des Begriffes des „Prophetischen" in
der Religionswissenschaft und damit zugleich im Biblischen an
Hand der Religionsgeschichte dringend notwendig geworden ist.
Das Prophetentum läßt sich nicht mehr nur aus einem ganz eng
begrenzten Umkreis erklären, sondern muß in weitesten religionsgeschichtlichen
Zusammenhängen gesehen werden, die bis in die
primitiven Quellgründe der höheren Religiosität hinabreichen.

Weiterhin wird man zu Überlegungen hinsichtlich des historischen
Offenbarungsbegriffes an Hand unserer Beobachtungen
angeregt. Die Erkenntnis, daß die prophetische Offenbarungslinie
der Bibel in einen sehr viel weiteren Bereich hineinzustellen ist,

terbuch mit seinem eigentümlichen Material. Abgesehen von ' als wir bisher meinten, daß sie nicht ein religionsgeschichtliches