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Ausgabe:

1956

Spalte:

373-376

Autor/Hrsg.:

Girgensohn, Herbert

Titel/Untertitel:

Von der Exegese zur Predigt 1956

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Theologische Literaturzeitung 1956 Nr. 5/6

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resonanzlos gestalteten Flirts, suchten endlich einige wenige
Frauen unter den 70 % das Kind, um, im Einzelfalle sogar von
der eigenen Familie angereizt, mit Bewußtsein Ahnfrau eines
ganzen Geschlechtes zu werden.

4. ) Die weiteren 30 % der von mir beratenen Ehelosen fanden
Ersatz für die Ehe im Beruf, und zwar 25—27 % von ihnen
im weltlichen Beruf, „der Not mehr gehorchend, als dem eigenen
Triebe". Die Arbeit am Fließband und an den Hollerithmaschi-
nen und der dadurch verdrängte und durch die Menstruation doch
laufend belebte Mutterkomplex brachte die einzelnen nicht selten
an den Rand eines Nervenzusammenbruchs.

5. ) 2 % aber der genannten 30 % Frauen entgingen dieser
Gefahr, weil sie sich kirchlichen Berufen zugewandt hatten, die
die Arbeiter als Mitarbeiter und lebendige Wesen werten und die
sie durch prophylaktische Kräfte wie Schriftlesung, Meditation,
Gebet und echte Freundschaft gesund erhalten.

6. ) Am günstigsten standen sich, soweit meine Kontrollbeobachtungen
ausreichten, (unter den 30 % leider etwa nur
1 %!) alle diejenigen Frauen, die in weltlichen und kirchlichen
Berufen stehend, ihre Ehelosigkeit nicht mehr als blindes Verhängnis
ansahen, sondern in steigendem Maße als Fügung, Ruf
und Charisma erkannten, ohne damit dem katholischen Virgi-
nitätsideal nachzustreben. Die Enthaltsamkeit stellte sich für sie
als durchaus tragbar dar, „ecclesiogene Neurosen" (Schaetzing)
kamen nicht zur Entfaltung, und in Verbindung mit Matth. 19,
12 verbreiteten diese Frauen auch im Beruf, sehr zum eigenen
Besten, die Atmosphäre einer gesunden Mütter- und Fraulichkeit.

II. Die therapeutische Aufgabe

1. ) Worauf unlängst schon Heinrich Rendtorff in seinem
Artikel „Seelsorge und Psychotherapie" hinwies, ist das aus
diagnostisch-seelsorgerlichen Gründen geführte Gespräch im Hinblick
auf die Kontaktbildung von ausschlaggebender Bedeutung.
Eine theologische, pastoralmedizinische und reformmedizinische
Durchbildung ist hierbei allerdings weitgehend erforderlich.

2. ) Neben diesem „heimlichen" Gespräch steht das öffentliche
Gespräch, das vom Evangelischen Kirchentag, den Evangelischen
Akademien und den Heimvolkshochschulen vorexerziert,
von der Berliner Stadtmission und ihren Arbeitszweigen (Zeltmission
, Seelsorge am Telephon, Krankenberatungsstelle, Eheberatungsstelle
und Schriftenmission) nachexerziert wurde. Zu erstreben
ist, daß diese Gesprächsform sodann Eingang in die Gemeindearbeit
findet.

3. ) Damit aber das „heimliche" bzw. öffentliche Gespräch
glaubwürdig bleibt, sollte es kirchlicherseits weithin diakonisch
unterbaut werden, sei es, daß einmal hingewiesen wird
auf die wahre Einstellung des Christen zum Leiblichen und zum
andern auf die kirchliche Förderung des Baus von Wohn- und
Klubheimen, auf die Vermittlung von Erholungskuren und auf
die kirchlichen Vorschläge zur Freizeitgestaltung für berufstätige
Ledige.

4. ) Was den Vorwurf mangelnder Fachkenntnis gegen die
Theologen als Träger der Seelsorge an Ledigen anlangt, läßt er
sich in Zukunft u. a. mit durch Gründung von Instituten bzw.
Seminaren für Seelsorge im Rahmen der Praktischen Theologie
oder durch ein vermehrtes Angebot von sozialethischen und pastoralmedizinischen
Vorlesungen und Übungen beheben.

5. ) Die Laien selbst, sofern sie charismatisch begabt sind,
können als Typ der Dienenden Gemeinde oder als Amtsträger
des sogenannten Inneren Dienstes gut in der Seelsorge an Ledigen
VeTwendung finden, jedoch sollten sie nach persönlicher
Vorbereitung im Rahmen eines team etwa nach Art der „Navigatoren
", der Fullow-Up oder der Moralischen Aufrüstung, also
im Sinne einer ersten Auflockerung ihrer Pflegebefohlenen, tätig
werden.

6. ) Nicht zuletzt wird die Gemeinde als Dienende Gemeinde
den Ehelosen im psychosomatischen Sinne seelsorgerlich beistehen
. Im einzelnen wird sie im Rahmen ihrer Arbeitsgremien und
schon in der Christenlehre dafür sorgen, daß die berufstätige Ehelose
der Ehefrau vor Gott und der Welt gleichgeachtet wird, daß
Spezialfragen des beruflichen und persönlichen Lebens der Ehelosen
laufend zum Gegenstand der Besprechung in Gemeindeabenden
gemacht werden, daß 2 oder 3 alleinstehenden Frauen
in gemeinsamer Wohnung die Aufnahme eines oder zweier elternloser
Kinder ermöglicht und das fehlende väterliche Element durch
Patenschaften ausgeglichen wird und, daß nicht zuletzt die Ehelose
seitens der Gemeinde nicht nur in die Berufsgemeinschaft,
sondern auch in die Glaubensgemeinschaft hineingezogen wird;
letzteres als ein Mittragen und Aufsichnehmen oder gar organisiert
im Sinne einer vita communis als Irenenorden oder als Marienschwesternschaft
, wobei aber ganz allgemein zu beachten ist,
daß nicht nur die Heilung, also die Erlösung aus dem drückenden
Zustand eines Entordnetseins, das Höchste ist, sondern allein
das Heil in Christo Jesu.

Das Referat soll, stark erweitert, als Heft erscheinen.

Fast durchweg zeigt sich in allen homiletischen Seminaren,
welche Schwierigkeit es dem heutigen Studenten — und nicht
nur ihm — bereitet, von der Exegese zur Predigt vorzustoßen.
Die Schwierigkeit kann zunächst als eine psychologische gesehen
werden. Der von der wissenschaftlichen Arbeit am Text herkommende
Theologe muß vielfach einen wahren salto mortale vollziehen
, um sich einmal persönlich dem Anspruch des Wortes zu
stellen, dann aber vor allem auch, um diesen Anspruch und den
Zuspruch anderen Menschen, der Gemeinde gegenüber zur Geltung
zu bringen.

Hinter der psychologischen Schwierigkeit der Umstellung
steht aber die sachlich-theologische Problematik, die letztlich in
der Geschichtlichkeit der Offenbarung begründet ist: einem historischen
Datum, von dem sich die Kirche herleitet, wird normative
absolute Bedeutung für die Gegenwart beigemessen. Eine wissenschaftliche
Behandlung aber dieser geschichtlichen Gegebenheit nach
historisch-kritischer Methode verhaftet die Offenbarung als historisches
Datum in der Vergangenheit, versachlicht und relativiert
sie. Zu der historischen Distanz tritt die wissenschaftliche,
und damit wird jede kirchliche Verkündigung überhaupt in Frage
gestellt.

Darin steckt eine letzte Spannung, die zwischen dem Handeln
Gottes in seinem Wort, wie es der Glaube erfährt und bejaht
, und der Welt, wie sie ist, deren Art sich unter anderem
auch im heutigen Verständnis der wissenschaftlichen Arbeit do-

Von der Exegese zur Predig

Von H. Girgensohn, Bethel

kumentiert. Jede wissenschaftliche Arbeit, die dem heutigen Verständnis
entspricht, vollzieht sich etsi deus non daretur. Die Spannung
zwischen dem Worte Gottes und der wissenschaftlichen Arbeit
ist an sich eine echte. Sie ist ein Ausdruck der gleichen Spannung
, die in der ganzen Theologie und im ganzen kirchlichen
Handeln gegeben ist. Die Forderung einer schriftgemäßen Verkündigung
enthält schon die ganze Problematik. Hier zeigt sich
die notvolle Situation des einzelnen Theologen und der ganzen
kirchlichen Verkündigung. Es ist ein Symptom dieser Situation,
daß die Verkündigung entweder in der Exegese steckenbleibt oder
aber sich vollständig von der mit den Mitteln der heutigen Erkenntnis
betriebenen Exegese löst und ihre eigenen, praktischen
Wege geht.

Die aufgezeigte Spannung ist aber nur fruchtbar, wenn sie
im konkreten Fall überwunden wird — und die tatsächliche Arbeit
der Kirche fordert in jedem Fall eine Überwindung dieser
Spannung —, wenn das Wort des lebendigen Gottes in der Gestalt
des überlieferten menschlichen Wortes vernommen wird. Die
Ausklammerung Gottes aus der wissenschaftlich arbeitenden
Theologie kann letztlich, immer nur eine vorläufige sein. Sie ist
nur tragbar, vor allen Dingen auch für den werdenden Theologen,
wenn sie umgeben ist von einer Sphäre, in der Gottes Gegenwart
in Jesus Christus zur Mitte wird, von der aus auch eine Wissenschaft
getrieben wird, die das Geheimnis der geschichtlichen Offenbarung
Gottes in Jesus Christus zum Gegenstand hat.