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Ausgabe:

1956

Spalte:

371-374

Autor/Hrsg.:

Fichtner, Horst

Titel/Untertitel:

Ehelosigkeit als kirchliches Problem 1956

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Theologische Literaturzeitung 1956 Nr. 5/6

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das irdische Regiment eine Konkretion der göttlichen Schöpfermacht
, ein gnadenvolles Herabsteigen Gottes, ein Gestaltgewinnen
seiner Offenbarung sind.

2. Die Weltanschauungssituation der Gegenwart steht weithin
in einem häretischen Verhältnis zum christlich-reformatori-
schen Verständnis der Bereiche, weil das komplementäre Verhältnis
nicht beibehalten, sondern entweder in Richtung auf eine
absolute Scheidung (Lehre von der Eigengesetzlichkeit) oder in
Richtung auf eine Vermischung (totalitäre Integration) verzerrt
wurde.

Wenn gelehrt wird, daß die Vernunft ganz selbständig sei
und die Lebensgebiete nur ihrer Eigengesetzlichkeit folgen, dann
liegt hier offenbar eine Trennung der Bereiche vor. Das war der
Weg von der Aufklärung bis hin zu Naumann und Troeltsch. Das
Ende dieses Prozesses ist dann erreicht, wenn es heißt: dem Staat
gehört das äußere Leben der Menschen, der Kirche die Seele und
das Jenseits. Gilt dieser Satz unbesehen, dann führt das dahin,
daß die weltlichen Bereiche eine dämonische Eigenständigkeit bekommen
und alles, was von dort herkommt, unkritisch als Gebot
Gottes gelten muß, selbst wenn durch dieses Gebot die
Hauptschaft Gottes und die Menschlichkeit verleugnet werden.
Eine solche Trennung der Bereiche führt zu einer Zerreißung des
Menschen, zu einer Bewußtseinsspaltung. So wird die Schizophrenie
zur Signatur der Zeit. Sie rührt von der falschen Trennung
der Bereiche.

Dem stehen nun auch allerlei Versuche gegenüber, denen es
gerade auf die Überwindung dieser Schizophrenie ankommt. Sie
gehen den umgekehrten Weg, indem sie die Einheit der Bereiche
anstreben. Es sind die Bestrebungen, die im Idealismus und der
Romantik begonnen und im modernen Totalitarismus geendet
haben. Hier soll dem Zerfall der Einheit von Mensch und Welt
durch die Vermischung der Bereiche gesteuert werden, um so die
verlorengegangene Integration von Mensch und Gesellschaft
wiederherzustellen. Sowohl die Trennung wie die Vermischung,
die Lehre von der Eigengesetzlichkeit wie die von der totalitären
Integration stehen in einem häretischen Verhältnis zum christlichen
Verständnis der Bereiche. Aber gerade darum kann auch
die Heilung dieser Situation nur in der Wiedergewinnung der in
der Lehre von den zwei Reichen ausgesprochenen komplementären
Einheit geschehen. Es kann sich dabei nicht darum handeln,
daß nun eine „christliche Weltanschauung" in Konkurrenz tritt
zu anderen Weltanschauungen. Es kann aber auch nicht dabei
sein Bewenden haben, daß Weltanschauung und Glaube dualistisch
auseinanderfallen und wir uns bei der schizophrenen Situation
beruhigen.

3. Die Weltanschauungssituation der Gegenwart kann nur
geheilt werden, wenn die in der Lehre Luthers ausgesprochene
komplementäre Einheit wieder zurück gewonnen wird.

Zur Komplementarität gehören vor allem zwei Züge: einmal
dürfen die Bereiche des Seins nicht ausschließlich im kausalen
Sinne gesehen werden, etwa so als ginge alles Geschehen aus
einer materiellen oder einer geistigen Wesenheit hervor; sodann
gehört dazu das „ungetrennte" Beisammensein der Bereiche, wobei
der in beiden Bereichen existierende Mensch die haltende
Mitte des Seins ist. Im komplementären Denken werden Para-
doxien möglich, die dem gewöhnlichen diskursiven Denken undenkbar
erscheinen. Diese Denkweise hat sich auf allen Gebieten
als fruchtbar erwiesen. Es seien nur einige Beispiele erwähnt: in
der Atomphysik bedeutet die Unbestimmtheitsrelation Werner
Heisenbergs nichts anderes als die Aufnahme komplementären
Denkens und das Ernstnehmen des personalen Faktors im Experiment
. In der Biologie kann das Phänomen des Lebens nicht rein
kausal verstanden werden, sondern nur unter Zuhilfenahme
finalen Denkens; lebendige Gestalt ist immer mehr als Ergebnis
materieller Bedingungen. In der Medizin hat die Psychosomatik
ernst gemacht mit der Unteilbarkeit des Menschen nach Seele und
Leib; eine Krankheit ist nicht nur Ergebnis partieller Organdefekte
, sondern Verdichtung eines existentiellen Totalvorgangs
im Menschen. Auch auf dem Felde geschichtlichen Denkens kann
das komplementäre Denken vor den tödlichen Alternativen des
katastrophischen und des triumphalen Bewußtseins bewahren, indem
die Wirklichkeit der Geschichte nicht nur biologisch determiniert
vorgestellt werden darf (O. Spengler), vielmehr stellt der
Anruf der Geschichte jedes Volk vor die Entscheidung, die rechte
Antwort zu geben. Es entspricht allein der Menschlichkeit der Geschichte
, daß es von dieser Antwort abhängt, ob uns Untergang
oder Zukunft zuteil wird. Hier wird der Weltauftrag der Christenheit
heute sichtbar: die Menschheit daran zu erinnern, daß
sie von Gott den Auftrag bekommen hat, sich die Erde Untertan
zu machen, nicht sich fatalistisch von den Mächten überwältigen
zu lassen. Das Reich dieser Welt wird nur dann ein Reich des
Menschen sein, wenn es zugleich Reich Gottes ist, so wie Luther
das Reich zur Linken auch verstanden hat.

Die hier wiedergegebenen Gedanken sind weiter ausgeführt in
meiner Schrift „Weltbild und Glaube im 20. Jahrhundert" (Kleine
Vandenhoeck-Reihe 17), Göttingen 195 5.

PRAKTISCH-THEOLOGISCHE SEKTION

(Leitung: H. R e n d t o r f f/Kiel und D. M ü 11 e r/Leipzig)

Ehelosigkeit als kirchliches Problem

Von Horst F i c h t n e r, Berlin

Im konkreten Geschehen des Heute treten uns besonders im Rahmen einer gemeinsamen praktischen oder wissenschaft-
zwei Gruppen von noterfüllten Menschen hilfesuchend gegenüber liehen Berufsarbeit geführt wurden, dem verheirateten Freund
— einmal die Gruppe der Depressiven als reaktiv und endogen den Sinn für Heim und Familie nahmen und der rechtmäßigen
Schwermütige und zum andern die Gruppe der ehelosen Frauen, Lebensgefährtin den Platz im Hause kosteten. Freundschaften zwi-

die in der Zeit eines kriegsbedingten Frauenüberschusses einfach
nicht heiraten bzw. als Kriegswitwen sich nicht wieder verheiraten
können oder wollen. Im Wissen darum, daß die offizielle
Kirche für die Seelsorge an Eheleuten bisher viel getan hat, zweifellos
aber nicht genug für die Seelsorge an den ehelosen Frauen,
habe ich mich in sog. Abendsprechstunden in den Jahren 1946
bis 1953 in meiner Eigenschaft als nebenamtlich tätiger Fürsorgearzt
und leitender Arzt einer nichtkonfessionellen Berliner Eheberatungsstelle
und Beratungsstelle für Nerven- und Gemütskranke
studienhalber diagnostisch und therapeutisch um diese
Menschengruppe gemüht. Hier nun meine an Hand von etwa
1000 ehelosen Frauen gemachten Beobachtungen und die Vorschläge
zur Überwindung ihrer seelischen Notstände.

I. Die diagnostische Aufgabe

1.) Etwa 70 % von ihnen suchten als Ersatz Freundschaften
mit einem verheirateten Mann, die fast immer, sofern sie nicht

sehen gereiften Frauen entwickelten sich dagegen gut, und gleichgeschlechtliche
erotisch-sexuelle Beziehungen in Form der Masturbation
als häufigster Betätigungsform zwischen Frauen wurden
in dieser Freundschaftsgruppe nur selten beobachtet.

2. ) Immerhin befand sich unter den 70 % ein nicht unbeträchtlicher
Teil, der als Weg sexueller Triebablösung unbedenklich
die Form freier sexueller Beziehungen bevorzugte und nicht
daran dachte, die Jungfrauschaft bzw. Mutterschaft als inneren
Reichtum eines fraulichen Daseins zum Besten der Mitmenschen
„umzuschalten" (Dedo Müller). Aus Angst vor der Einsamkeit,
die für diese Frauenart nicht mehr schöpferischen Charakter trug,
stürzte sie sich unter bewußter Erweichung der christlichen Eheform
und unter Berufung auf Autoren wie Anquetil und Kinsey,
in den Ermüdungsrausch der Probeehe, Zeitehe, Kündigungsehe,
Kameradschaftsehe, Gewissensehe und Ehe zu dritt.

3. ) Im Berufe unbefriedigt und bei zunehmendem Alter auch
müde geworden eines vom männlichen Partner mehr und mehr