Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1956

Spalte:

369-372

Autor/Hrsg.:

Schrey, Heinz-Horst

Titel/Untertitel:

Luthers Lehre von den zwei Reichen und ihre Bedeutung für die Weltanschauungssituation der Gegenwart 1956

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

369

Theologische Literaturzeitung 1956 Nr. 5/6

370

Der Ruf nach dem Naturrecht wurde erhoben, nachdem die
positivistische Rechtstheorie und der von ihr legitimierte Mißbrauch
diktatorischer Rechtssetzung zu eineT schweren Rechtskrise
geführt hatte. Daher suchte man im Naturrecht das überpositive
Recht, das nicht willkürlich gesetzt ist, das als normatives
und richtiges Recht gefunden werden muß oder — um mit
Luther zu sprechen — „aus dem Rechtsbrunnen geschöpft" werden
muß.

Ist die Rückkehr zur überlieferten scholastischen Naturrechtslehre
möglich? Die moderne röm.-ka tholische Sozialethik
und Sozialpolitik glaubt an eine Restauration des thomistischen
Naturrechtes. Für die lutherische Theologie ist diese Rückkehr
nicht möglich. Ihre Kritik richtet sich gegen den scholastischen
Naturbegriff, der der Naturrechtslehre zu Grunde liegt. Natur
ist dort zugleich Seinsbegriff und Wertkategorie. Mit Hilfe dieses
Naturbegriffes kann die Naturrechtslehre die Wertgehalte der
Rechtsnormen in die Natur hineinlegen und aus ihr wieder herausholen
. Diese Metaphysik der werterfüllten und unverdorbenen
Natur wird der Wirklichkeit des Bösen und der Verkehrung
der Geschöpflichkeit durch die Sünde nicht gerecht. Ferner: Die
Ordnung des Naturrechtes ist zeitlos-statisch. Daher verkennt
die Ordnungsphilosophie des Naturrechtes die Geschichtlichkeit
des menschlichen Daseins. Daß die Göttlichkeit des Gebotes
nicht mit zeitloser Statik identisch ist, erkennt man ja schon am
Gebot der Nächstenliebe. Dieses Gebot kann nicht aus einer zeitlosen
Ordnung der Werte abgeleitet werden, sondern ist für den
Christen ein einzigartiger geschichtlicher Auftrag, der in un-
wiedcrholbarer und einmaliger Verantwortung befolgt werden
muß. Die lutherische Theologie sucht daher eine andere materialethische
Fundierung menschlichen Rechtssuchens und Rechtsgestaltens
und gründet sich dabei auf Luthers Lehre von den beiden
Reichen, insbesondere auf seine Lehre vom Rechtsamt des Staates
gemäß dem usus politicus legis. Das menschliche Recht ist
also nicht willkürlich zu setzen, sondern untersteht dem göttlichen
Gesetz. Luther geht dabei von der Voraussetzung aus, daß
die menschliche Vernunft dieses Gesetz Gottes im Sinne des
usus politicus legis erkennen könne. Daher ist menschliches
Rechtssuchen und Rechtsdeuten Sache der menschlichen Vernunft.

Diese Voraussetzung ist für uns heute in neuer Weise zum
Problem geworden. Seit dem Auftreten des relativistischen Positivismus
und Historismus ist die Fähigkeit der menschlichen
Vernunft, das Gesetz Gottes zu erkennen, umstritten. Daher ist
eine neue theologisch-kritische Analyse der sittlichen Vernunft
nötig.

Die sittliche Vernunft weiß um das Gesetz Gottes. Aber
das Gesetz ist zugleich ihre Schranke. Sie weiß nicht, woher die-

Das Nalurrecht im Lichte der lutherischen Ethik

Von Martin R e d e k e r, Kiel

ses Gesetz stammt, und es ist ihr verborgen, welchen Sinn dieses
Gesetz hat. Sie verliert sich zu leicht in die Abstraktheit und den
Formalismus rationaler Gesetzlichkeit. Aber vor allem verkennt
sie die Wirklichkeit des Bösen und hat nicht die Kraft zur Überwindung
des Bösen.

Ursprung und Sinn des göttlichen Gesetzes und der von
ihm normierten Rechtsordnungen erschließen sich im christlichen
Glauben. Die Vernunft und ihr Rechtssuchen steht daher unter
dem Vorzeichen des Glaubens oder Unglaubens. Der Glaube erfaßt
den Gottessinn der Rechtsordnung. Dieser Gottessinn ergibt
sich nicht allein aus der Schöpfungsoffenbarung, dem Christusgeschehen
oder allein aus der Eschatologie, sondern aus dem Gesamtaspekt
der Heilsgeschichte. Recht und Staat sind dann Ordnungen
, von Gott gestiftet, aber von interimistischer Gültigkeit
für diese Welt, die ihren letzten Sinn durch die Zielrichtung auf
das Reich Gottes erhalten.

Darüber hinaus hat das Vorzeichen des Glaubens seine Bedeutung
für die inhaltliche Bestimmung von Gesetz und Recht,
die in geschichtlicher Entscheidung zu finden ist. Die Bedeutung
dieses Vorzeichens des Glaubens oder Unglaubens erweist sich
bei den modernen Versuchen der Gesetzgebung und Rechtssprechung
, z. B. auf dem Gebiete der Sozialpolitik und des Strafrechtes
.

Weil also das menschliche Rechtssuchen unter dem Vorzeichen
des Glaubens oder Unglaubens steht, ist für die Sachlichkeit
und die Lebendigkeit des menschlichen Rechtssuchens das christliche
Verständnis der Welt, das die Welt nicht aus sich heraus,
sondern von dem Verhältnis Gottes zur Welt aus verstehen will,
maßgeblich.

Die Welt ist Gottes gute Schöpfung, aber auch die von Gott
entfremdete Welt, und bedroht durch das Chaos. Entscheidend
ist aber der Blick auf das Endziel, das Gott der Welt gesetzt hat
durch seine Erlösung, durch Endgericht und Endvollendung. Über
allem menschlichen Rechtssuchen leuchtet auf die schöpferische
Gerechtigkeit, die Gnadengerechtigkeit Gottes, die von seiner
Liebe nicht zu trennen ist.

An die Stelle der Ordnungsontologie des Naturrechtes stellt
das reformatorische Rechtsverständnis die eschatologisch-teleo-
logische Beziehung auf das Reich Gottes. Dieses Vorzeichen bedeutet
Besinnung und Selbstprüfung coram deo; aber noch mehr
Entsühnung aus der Kraft des Rechtfertigungsglaubens. So findet
das Grundanliegen des Naturrechtes als Ruf nach dem überpositiven
Recht, das auf einer höheren, dem Menschen überlegenen
Autorität beruht, in neuer Weise seine Erfüllung.

Luthers Lehre von den zwei Reichen und ihre Bedeutung für die Weltanschauungssituation der Gegenwart

Von H. H. S c h r e y, Tübingen
1. In Luthers Lehre von den zwei Reichen geht es weder lim j Ebenen, auf denen sich der Mensch bewegt, einmal als Mensch

coram Deo durch den Glauben mit Gott verbunden, sodann als
Mensch unter Menschen durch die Liebe verbunden. Beides —
Glaube und Liebe — können nicht vertauscht werden, dürfen aber
auch nicht voneinander getrennt werden. Vor allem in der Auseine
absolute Trennung der beiden noch um eine mögliche Vermischung
, sondern um eine komplementäre Einheit der Herrschaft
Gottes in Schöpfung und Erlösung.

Es darf als Ergebnis der neueren Bemühungen um diese Lehre

Luthers (H. Diem, G. Törnvall, A. Nygren u.a.) gelten, daß er ^"«aersetzung mit den Schwärmern legt Luther Wert darauf,
nicht minder stark wie den Unterschied auch die Einheit des Wal- | aaD das Reich zur Linken nicht „verteufelt" wird in dem Sinne.

als sei es von der Herrschaft Gottes ausgeschlossen und als könne
der Christ dort den Glaubensgehorsam nicht bewähren. Der Nachweis
, daß Luther das Verhältnis der beiden Reiche im Sinne der
Komplementarität des Chalcedonense sieht, ist leicht zu erbrin-

tens Gottes in den Reichen betont. Es ist Gottes Güte und Liebe,
die in beiden Bereichen am Werk ist und auf je verschiedene
Weise ihr Ziel zu erfüllen sucht. Es geht in dieser Lehre um
zweierlei: einmal darum, Gott als das Haupt des Seins anzuerkennen
, und sodann darum, den Menschen als Mitte des Seins
ernst zu nehmen. In Gott selbst liegt bei aller LInterschicdcnheit
die Einheit der Reiche, weil es in ihnen immer um die Hauptschaft
Gottes geht. Luther zieht mit seiner Lehre im Grunde nur
die Linien aus, die in der Christologie von Chalccdon angelegt

gen. Die Stellen sind unzählig, an denen Luther vor einer Vermischung
warnt; diese Warnung hängt mit der tiefsten Gewissenserfahrung
Luthers zusammen, weil er selbst erfahren hat, daß
auf dem Weg des Gesetzes kein Trost für das Gewissen und keine
Heilsgewißheit erworben werden kann. Unterscheidung besind
. Wenn Luther immer wieder betont, daß beide Reiche nicht deutet aber nicht Trennung, denn es entspricht einem Grund
vermischt werden dürfen, so geht es um den Unterschied der gedanken lutherischer Theologie, daß die weltlichen Stände und