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Ausgabe:

1956

Spalte:

367-368

Autor/Hrsg.:

Koepp, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Eine ausgearbeitete Nachschrift von A. H. Cremers Vorlesungen "Dogmatik" und "Ethik" 1956

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367

Theologische Literaturzeitung 1956 Nr. 5/6

368

sätzlich im dienstbezogenen Sinne im Blick auf das
Ganze der Christenheit und nie nur für sich selbst versteht: Solange
im Blick darauf das Hochhalten der ,,notae verae ecclesiae"
notwendig ist, ist auch ihre Existenz gefordert. Schließlich ist das
nur möglich, wenn die lutherische Kirche sich c) auch ihrerseits
empfangend im ökumenischen Konzert versteht
und nicht meint, sie könne sich aus sich selbst bestreiten.
Das kann sie nämlich nicht. Ein spezifisch lutherisches Kirchentum
„in Reinkultur" zu verwirklichen ist eine Unmöglichkeit. Denn

von Hause aus hat die lutherische Kirche als proprium nicht sehr
viel mehr als die — eschatologisdi motivierte — Konzentration
auf die „Kristallpunkte" der Kirche. Davon allein aber kann man
als Kirchentum auf die Länge nicht leben, ohne daß das zur unerträglichen
sektenhaften Reduktion wird. So ist die lutherische
Kirche notwendig auf „Anleihen" angewiesen und bedarf einfach
anderen Kirchentums außer ihr. Und es ist wohl besser, sie zehrt
mit von anderen Kirchentümern als, wie sie es lange genug tat,
von säkularen geschichtlichen Potenzen.

Eine ausgearbeitete Nachschrift von A. H. Cremers Vorlesungen „Dogmatik" und „Ethik"

Von Wilhelm K o e p p, Rostock

A. H. Cremer, geb. 1834, 1870—1903 Prof. für Syst.
Theol. in Greifswald, war wohl der bedeutendste Theologe Greifswalds
. Im doppelten Sinn, erst seiner Kollegen, dann seiner Schüler
, sprach man von einer Greifswalder Schule um seine Gestalt.
Doch blieb bei seinem schwankenden Bild der Wissenschaftler und
zumal der Systematiker merkwürdig verborgen. Zum ersteren weise
ich auf meinen Aufsatz in der Festschrift der Univ. Greifswald,
1956, „A. H. Cr. als Wissenschaftler" hin, der auch die Literatur
bietet. Zum zweiten fand sich Sommer 1955 eine ausgezeichnete
Ausarbeitung der bis dahin völlig unbekannten Vorlesungen
Dogmatik und Ethik von Cr., die auf den sehr glücklich rezeptiven
Cremerverehrer Superintendent T i e d k e in Weitenhagen
bei Greifswald zurückgeht (zitiert Ti). Wieweit besitzt diese Ausarbeitung
innere Treue? Wieweit erhellt sie uns die Systematik
Cr's? Sie gibt den Stand von 1894/6 wieder. Es war die Zeit der
höchsten Auswirkung Cr's., vielleicht noch nicht seiner letzten
Reife.

Die Ausarbeitungen sind ein buchartiges, steif gedeckeltes,
sauber geschriebenes starkes Quartheft. Sie enthalten auf 276
Seiten die Dogmatik (I u. II), danach auf 139 Seiten die Ethik.
Es fehlt der dritte und letzte Teil der Ethik „Das christliche Gemeinschaftsleben
" (Eth. S. 25). Cr. pflegte zusammenfassende
Vorlesungsdiktate zu geben, die er in freier Form erläuterte
(S. Oettli in „A. H. Cremer ... Gedenkblätter", 1904, S. 67). Für
solche Diktate ist der vorliegende Text zu umfangreich. Der Stil
ist einheitlich, dem Cr's angenähert, aber nicht mit ihm identisch.
Man wird Cr's gedruckte Einzelveröffentlichungen zu systematischen
Themen vergleichen müssen. Zugleich wäre zu zeigen, wo
unbekanntes Material bei Ti vorliegt.

Der eigentlichen D. gehen bei Ti drei Abschnitte voraus:
I. Die Voraussetzungen der christlichen Verkündigung, II. Die
Entstehung der spezifisch christlichen Gewißheit, III. Die Quellen
der christlichen Erkenntnis. Das Ganze heißt im letzten Satz
vorher: „Die theologische Prinzipienlehre
oder christliche Erkenntnistheorie". Man
vgl. die gedruckte „Prinzipienlehre" (18831, 1890'1). Die Gewißheitsfrage
ist überall das zentrale Anliegen. Stark und
konsequent macht sich aber bei Ti ein neuer Einsatz des Ganzen
bei der „christlichen Verkündigung" geltend. Ein naiver
B i b 1 i z i s m u s steht frei und unscholastisch daneben. Ti kann
hier von Wert und Interesse werden.

Die D o g m a t i k ist für Cr auch nach Ti im Wesen Chri-
stologie; diese setzt aber die „spezielle Theologie" und die
„Kosmologie resp. Anthropologie" voraus. Ti bringt in der speziellen
Theologie schon ganz die neuerdings von K. Barth wieder
herausgehobene Studie Cr's „Die christliche Lehre von den
Eigenschaften Gottes" von 1897, deren Form also älter ist.

Kosmologie und Anthropologie hat Cr sonst
nirgend zusammenhängend behandelt. Ti gibt nicht allzuviel,
wohl öfter nur Diktate mit Anhängen. Der Schöpfungsglaube ist
die „Anerkennung" des Geschaffenseins der Welt durch die
schlechthin freie Willenstat der Liebe Gottes, er ist dem Erlösungsglauben
miteinbeschlossen. Auch die Lehre vom Menschen
denkt Ti von der Erlösung her. Sein „Wesen und Urzustand"
bestätigt sein einzigartiges „näheres Verhältnis zu Gott" in seinem
sittlichen Selbstbewußtsein; dies ist „nicht
Produkt des Naturzusammenhanges". Die „Gottesbildlichkeit

des Menschen" ist ihrem Wesen nach sein „Personsein in Kraft
göttlichen Geistes" („Persönlichkeit", S. 136) und gipfelt beim
Sünder in der eigentümlichen sittlich-religiösen Erscheinung des
Gewissens als des „Zeugen wider sich selbst".
Das Böse kann nur ohne jede geringste „Urbedingung auf Seiten
der Kreatur" frei entstanden sein; der Mensch unterliegt ihm
„um den Preis seiner Existenz" (so) mit der Folge des Todes.
Aber die Art und Weise des Falles ermöglicht auch „für Gott
eine Selbstbestimmung in erlösender Liebe"; der Erbschuld, will
man dies Wort festhalten, „geht ein Erbsegen zur Seite".

Die Christologie umfaßt dann alle übrigen dogmatischen
Themen. Auch unerwartete Lehrstücke trifft man hier, so
die TTinitätsIehre, oder, gleich zu Beginn, die Lehren
von der Welterhaltung, der Vorsehung und der Weltregierung
im 1. Hauptabschnitt. „Die geschichtliche Vorbereitung der Erlösung
" verbindet Welt- und Heilshandeln Gottes zu einer großen
Weltökonomie. Eine „doppelte Strömung" der Sünde und
der Hoffnung läuft vom Protevangelium an. Der 2. Hauptabschnitt
läßt Person und Werk Chri. in üblichen Schematen folgen
. Christus übt, nach dem einzigen Analogon der sich erniedrigenden
, „sich selbst vergessenden Liebe", Allmacht durch Ohnmacht
der Geduld. Er wollte trotz seiner Sündlosigkeit „die Gemeinschaft
mit der sündigen Welt bis zum Äußersten aufrecht
erhalten", unter „passivem" Erleiden aller Folgen, bis zum Tod
am Kreuz, dem „Tiefpunkt der Weltgeschichte". Erlösung und
Versöhnung sind die Hauptmomente. Sie werden recht eigenwe-
gig aus dem nachpfingstlichen Bewußtsein der Jünger analysiert
. Im letzten Unterteil „Heilsgegenwart und Heilszukunft"
erscheinen, z. T. mit eigenartigen Titeln, die Pneumatologie, die
Ecclesiologie samt Sakramenten, die Trinitätslehre (!), eine eigene
Lehre von den Charismen (!), die Lehren von Inspiration
und Kanon und von den Cr wertvollen Eschata.

Cr's Ethikvorlesung bei Ti, eindringend und ernst,
versteht in der Einleitung die Ethik gemäß dem formal sehr idealistischen
Menschenbild Cr's als „Anwendung der Erlösung auf das
Personleben". Sie hat „den Nachweis zu führen, daß und wie
trotz der sündigen Wirklichkeit die (sittliche, Vf.) Aufgabe allein
und wirklich in Kraft der Erlösung gelöst werden kann und
in der Tat gelöst wird". Teil I „Das Werden des christlichen Personlebens
" entlehnt aus der Dogmatik den ordo salutis. Teil II,
„Die Betätigung des christlichen Personlebens" malt dieses als
„Leben im Glauben", „in der Liebe", „in der Hoffnung". Der
Christ hat im Glauben in „innerer Unabhängigkeit" „seine
christliche Persönlichkeit nach der durch die Lage erforderten Seite
oder Richtung kraftvoll und ungehemmt zu betätigen". Überall
ist der Christ „der Vertreter einer neuen Ordnung der Dinge
innerhalb der diesseitigen Welt". Arbeit, Beruf, Erziehung, Erwerb
, alles ist nie aufzugebender „Dienst der Liebe".

Das Ganze scheint fast völlig reines Cr'sches Gedankengut
. Eine große systematische Kraft läßt die Leitgedanken stets
beherrschend durchschlagen. Es bedarf aber eines überschauenden
Blicks auf das wissenschafliche und geistige Gesamtwerk, auf die
persönlichen Lebensgrundlagen und die umfassende geistige Umwelt
Cr's, um hier zu letzten Urteilen zu gelangen. Man denke
nur, wie sich todernster Sündenglaube und Menschenidealismus
bei Cr verbinden, welche Rolle das Paradox spielt u. a. Es lohnt,
die systematische Einheit dieses Glaubenserkennens eindringlicher
als bisher zu erheben.