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Ausgabe:

1956

Spalte:

363-368

Autor/Hrsg.:

Kinder, Ernst

Titel/Untertitel:

Kann man von einem "lutherischen Kirchenbegriff" sprechen? 1956

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Theologische Literaturzeitung 1956 Nr. 5/6

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Ehe ein und in Kap. 8 wird Petrus, auf den die Kirche erbaut ist,
als Zeuge aufgerufen (PL 2, 939). Aus diesen vier uns bekannten
Auslegungen Tertullians zu Mt. 16, 18—19 ergibt sich folgendes
Petrusbild: Petrus ist der Stammvater der Pneumatiker, der überlegenen
Theologen, der mutigen Bekenner, der sittlich Strengen,
die eine zweite Ehe ablehnen. Unbestreitbar ist, daß dieses Pe-
trusbild höchst einseitig gezeichnet ist; deutlich tritt heraus, daß
Tertullian an Petrus gerade die Züge betont, die wir auch in Tertullians
Charakter finden.

Cyprian weist in Ep. 33 eine Gruppe von Christen, die nach
ihrem Abfall in der Verfolgungszeit jetzt stürmisch ihre Wiederaufnahme
verlangen, auf die Ordnung der Kirche hin, deren Zentrum
das Bischofsamt sei. Dazu zieht er Mt. 16, 18—19 heran und
formuliert aufgrund dieser Stelle den bekannten Satz, „daß die
Kirche auf die Bischöfe gegründet ist und jede kirchliche Handlung
durch eben diese Vorgesetzten geleitet wird" (CSEL 3, 2,
566). Ein weiteres bekanntes Cyprianwort ist im Zusammenhang
mit Mt. 16, 18 geprägt worden: „Der Bischof ist in der Kirche
und die Kirche im Bischof, und wenn einer nicht mit dem Bischof
ist, so ist er nicht in der Kirche" (CSEL 3, 2, 73 3). Diese Formulierung
wird eingeleitet mit dem Satz: „Hier spricht Petrus, auf
dem die Kirche erbaut worden war. . .". Ähnlich ist das Petrusbild
in dem zum Ketzertaufstreit gehörenden Brief 73: „Es ist
offenbar, wo und durch wen die Vergebung der Sünden erteilt
werden kann, die eben durch die Taufe geschieht. Denn dem Petrus
, über den der Herr die Kirche erbaute und auf den, wie er
lehrte und zeigte, der Ursprung der Einheit zurückgeht, hat er
zuerst die Gewalt gegeben, daß das, was er gelöst habe, gelöst
sein solle" (CSEL 3,2,78 3). An diesen drei Stellen sieht Cyprian
Petrus als den ersten Bischof, als das Urbild der legitimen
Amtsträger. Auch dieses Petrusbild ist einseitig, die Parallele zu
Cyprian selbst drängt sich auf, denn von kaum einer Gestalt der
vorkonstantinischen Kirchengeschichte ist uns ein so ausgeprägtes
bischöfliches Amtsbewußtsein bezeugt. Aber auch das Petrusbild
von Ep. 71, wo er sich von dem jüngeren Paulus einen vernünftigen
Rat geben läßt (Gal. 2) und „uns damit ein Beispiel an Eintracht
und Geduld gab" (CSEL 3, 2, 773) hat seine Parallele bei
Cyprian: „Wir soviel an uns liegt, streiten uns wegen der Ketzer
nicht mit unseren Amtsgenossen und Mitbischöfen, mit denen
wir an der göttlichen Eintracht und dem Frieden des Herrn festhalten
" (CSEL 3, 2, 798). Von hieraus ein Wort zu dem umstrittenen
Sätzchen: „Primatus Petro datur" (B-Fassung von De eccl.
unitate4, CSEL 3, 2, 212-13 Kleindruck). Im Jahre 251 war Cyprians
bischöfliche Autorität recht umstritten, da könnte Cyprian
wohl daran gelegen haben, einmal mehr an der Gestalt des Petrus
in Mt. 16, 18—19 die Würde des Bischofs zu exemplifizieren.
Freilich würde er in diesem Fall nicht an die Nachfolger Petri in
Rom gedacht haben, sondern er selbst fühlte sich als Nachfolger
Petri, dem die Verheißung von Mt. 16, 18—19 galt.

Augustin stellt in einer seiner Spätschriften, den Retracta-
tiones fest, er habe früher den Fels der Kirche von Mt. 16,18 auf

Petrus gedeutet; später habe er den Fels auf Christus bezogen
(CSEL 36, 97). Er hat also bewußt die bis dahin im Abendland
übliche Deutung petra Ecclesiae = Petrus verändert. Der Petrus,
den Augustin vor Augen hatte, war nicht so unerschütterlich,
wie es der Fels der Kirche sein sollte. Aber auch an jenen wenigen
Stellen, an denen Augustin den Felsen der Kirche noch auf Petrus
deutet, wird an ihm gerade das Menschlich-Allzumenschliche
herausgehoben. Im Psalmenkommentar wird dreimal Mt. 16 zitiert
, aber an allen drei Stellen nicht nur Vers 18—19, sondern
auch Vers 21 ff., wo sich Petrus von Christus hart zurückweisen
lassen muß. Ausgangspunkt ist jeweils ein Vers Davids PS. 40, 1 5 ;
56, 10; 70, 3), der Gott bittet, daß seine Feinde zurückgewendet
werden sollen (convertere retrorsum — PL 36, 656 bzw. 449).
Augustin deutet diese Stellen so, daß der Mensch von seiner
Überheblichkeit zur Demut konvertiert werden soll. David betet
Ps. 56, 10: „Convertantur inimici mei retrorsum" (PL 36, 656).
Augustin kommentiert: „Das ist ein nützlicher Wunsch, denn es
ist dem Feinde gut, wenn er gänzlich bekehrt wird und dem nachfolgt
, den er mit Überheblichkeit behandeln wollte" (PL 36, 656).
Zur Illustration dient Petrus. Er war als Fels der Kirche ausgezeichnet
worden und wird unmittelbar danach Satan genannt:
„Quare? Quia praecedere Dominum volebat et duci caelesti ter-
renum dare consilium" (ebda). Solche menschliche Überheblichkeit
stellt also Augustin als das Charakteristische an Petrus heraus
. — In der kirchenpolitischen Auseinandersetzung mit Lucifer
von Calaris tritt Augustin für jene Bischöfe ein, die wenig standhaft
waren. Er verweist auf den sinkenden, den verleugnenden,
den heuchelnden Petrus, der dennoch die Schlüsselgewalt empfangen
habe (PL 40, 308). Auch bei der Behandlung der Verleugnungsgeschichte
im Johanneskommentar bringt Augustin Mt. 16,19
hinein: „Eine unzählige Genossenschaft heiliger Märtyrer ist
tapfer und gewaltsam ins Himmelreich gelangt, was damals dieser
nicht konnte, der doch die Schlüssel des Himmelreiches empfing
" (PL 35, 1933). So ist auch das Petrusbild in Augustins Auslegungen
einseitig: Petrus ist ein Mensch — an einer Stelle als
Repräsentant der Guten im Gegensatz zu Judas (PL 3 5, 1762) —
meist aber ein Mensch mit den allzumenschlichen Schwächen des
Irrtums und des Stolzes, dem dennoch die Verheißung Mt. 16, 19
gilt. Ganz offensichtlich hat auch bei diesem Petrusbild die eigene
religiöse Erfahrung Augustins mitgesprochen.

Die großen Unterschiede im Petrusbild der nordafrikanischen
Kirchenväter entstehen also offenbar deshalb, weil sich jeder von
ihnen bei der Auslegung von Mt. 16, 18—19 (wenn auch wohl
unbewußt) mit Petrus identifiziert. Tertullian erkennt in Petrus
den Bruder im Geist, Cyprian sieht in Petrus den Bruder im Amt,
Augustin erspürt in Petrus den Bruder im Erleben von Irrtum
und Gnade. Jeder fühlt sich also selber als „Nachfolger Petri"!
Es ist daher nur zu verständlich, daß sie schlechte Zeugen sind
für die Verengung des Begriffs Nachfolger Petri auf die römischen
Bischöfe und eine Auslegung von Mt. 16, 18—19 im Sinne eines
päpstlichen Amtes.

SYSTEMATISCH-THEOLOGISCHE SEKTION

(Leitung: P. A 11 h a u s/Erlangen und E. Schot t/Halle)
Kann man von einem „lutherischen Kirchenbegriff" sprechen?

Von Ernst Kinder, Münster

pus Christi" (Apol. VII, 5). Beides zusammen macht den charakteristischen
„lutherischen Kirchenbegriff" aus.

Aber in welchem Sinne läßt sich hier von einem „Kirchenbegriff
" sprechen? Zweifellos nicht im Sinne einer erschöpfenden
Wesensbestimmung der Kirche. Dazu enthalten jene Feststellungen
offensichtlich zu wenig. Es handelt sich nicht um einen a priori
entworfenen Idealbegriff von Kirche, sondern um die a posteriori
, und zwar aus der Notlage geborene kritische und normative
Heraushebung gewisser entscheidender Punkte an der Wirklichkeit
der Kirche. Mit denen allein ließe sich nur um den Preis
einer starken Verkürzung und großen Verarmung ein positives
Kirchentum geschichtlich bestreiten. Dies würde auch den Inten-

I.

Luther, der frühere Melanchthon und die ins Konkordien-
buch aufgenommenen sowie die sonstigen aus der lutherischen
Reformation hervorgegangenen Bekenntnisschriften heben in Bezug
auf die Kirche mit starker Gleichläufigkeit immer wieder
zweierlei besonders hervor: a) Die Kirche ist nicht in erster Linie
hierarchische Organisation und sakrale Institution, sondern sie
ist primär Glaubensgemeinschaft; b) Die Kirche ist deswegen aber
nicht eine rein spirituelle, unsichtbare „Platonica civitas", „sed
tarnen habet externas notas, ut agnosci possit, videlicet
puram evangelii doctrinam et administrationem sacramentorum
consentaneam evangelio Christi. Et haec ecclesia sola dicitur cor-