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Ausgabe:

1956

Spalte:

357-360

Autor/Hrsg.:

Göbell, Walter

Titel/Untertitel:

Der Kaftan-Briefwechsel 1956

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Theologische Literaturzeitung 1956 Nr. 5/6

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den österreichischen Geheimprotestantismus zu bemühen. Glänzend
eingelöst wird dieses Vermächtnis durch Joh. Tobias Kießling
, den Buchhändler und „Notbischof" der österreichischen
Geheimkirche. Als das Toleranzedikt Josephs IL diesem Protestantismus
eine beschränkte Daseinsmöglichkeit einräumt, ist
eigentlich nur die Deutsche Christentumsgesellschaft zur Stelle.
Sie hilft unermüdlich beim Kapellenbau, sendet Bibeln, Gesangbücher
, Katechismen und vermittelt die Prediger. Überall weist
die Sozietät darauf hin, daß hier mitten im Abfall Europas vom
reformatorischen Christentum als Gegenbild eine Volkskirche
altgläubiger Bauern, Waldarbeiter und kleiner Handwerker entsteht
. Die neue Zuversicht dokumentiert sich in Jung-Stillings
,,Siegesgeschichte des Christentums".

Die katholische Erwcckungsbewegung im Allgäu findet
über Kießling die Verbindung mit Basel. Boos, Goßner, Lindl
und andere empfangen in Basel freudige Unterstützung. Die katholische
Bibelbcwegung wird über Nürnberg, Basel und London
planmäßig gefördert. Urlsperger betätigt sich als Verbindungsmann
zu dem Sailerschen Freundeskreis.

Im Schoß der Deutschen Christentumsgesellschaft kommt
ein neues Rußlandbild auf. Ein altes Erbe wird wieder wach. Unter
eschatologischen Vorzeichen wird Rußland zum Samarkand,
zum Zufluchtsland der Frommen. Alexander t wird als Messias-
Zar enthusiastisch begrüßt. Auf diesem Frömmigkeitsboden wird
die Hl. Allianz mit vorbereitet. Vor allem Jung-Stilling wirbt in
Basel für seine Rußlandpläne, für seine Samarkand-Thcologie'.
Württembergische Bauern ziehen nach Rußland. Goßner und Lindl
folgen. Die ersten Basier Missionare ziehen, erfüllt von ökumenischen
und eschatologischen Hoffnungen, ihnen nach. Die Stundi-
stenbewegung resultiert daraus, die den Boden für andere Erweckungen
auflockert.

Zugleich erfolgt um 1800 auch eine fast enthusiastische Hinwendung
zum Westen, gleichsam wie ein Gegengewicht. Die
westdeutschen Erweckungsgruppen bilden die Brückenköpfe zu
den evangelikalen Kreisen in England und zu ihrem Missionsanfang
in der Südsee, aber auch zu der neuen holländischen Mis-

7) Wesentliche Vorarbeiten hat hier Erich Schick in den verschiedensten
Einzcluntcrsudiungcn geleistet.

sionsaktivität. Es ist noch nicht deutlich, wie weit die eschatolo-
gische Ausdeutung des Missionsaufbruches, die ganze eschatolo-
gische Erregung auf dem Kontinent, die mit dem Erscheinen Napoleons
ihrem Höhepunkt zueilt, auf die evangelikalen Kreise in
England gewirkt hat, vielleicht deren immer vorhanden gewesenen
eschatologischen Züge belebt haben. Aber nur ein Teil der Mitglieder
vollzieht diese eschatologische Akzentuierung. Der schwei-
zerisch-elsäßisch-französische Raum mit den eigenwüchsigen Traditionen
bleibt spröde. Typisch dafür ist das einfache Volk, das
in Napoleon nicht eine apokalyptische Gestalt, sondern einfach
den großen Mann gesehen hat. Noch hundert Jahre später hängt
sein Bild in den Häusern.

Ein anderer entscheidender Vorgang bahnt sich auch innerhalb
der deutschen Partikulargesellschaften an. Als die revolutionäre
Unruhe Deutschland erfaßt, Fürstenthrone wanken, stellen
sich diese Schichten entschlossen hinter die konservativen Mächte
Schon vor 1800 vollzieht sich hier fast allgemein eine totale
Verfemung der französischen Revolution als antichristlich und
widergöttlich und wirkt sich in vorliterarischer Form als totale
Verfemung aller sozialrevolutionärer bzw. sozialpolitischer Bestrebungen
aus. In diesem Boden wurzelt Gottfried Mencken, der
die Linien bis hin zum Christlichen Staat Stahlscher Prägung vorzeichnet
, die in enger Verbindung von Thron und Altar jene
„ehrwürdige sozialpolitische Nacht" des Kirchentums einleitet,
welche die Auswanderung der Arbeiterschaft aus dem kirchlichen
Raum beschleunigt. Noch eins wird deutlich. Alle Erweckungs-
zentren, die sich nach 1800 bilden, hängen personell wie geistig
mit der Christentumsgesellschaft und ihren Publikationen zusammen
.

So entfaltet sich ein farbenreiches, von Anschauung gesättigtes
Bild jener kirchengeschichtlich nicht unwichtigen Übergangsperiode
zwischen 1780-1815, die dabei nicht nur eine Vorbereitungszeit
ist, sondern sich als eine selbständige christliche Parallele
zu Sturm und Drang, zum Idealismus und zur Frühromantik
erweist. Innerhalb der gesamteuropäischen Wandlungen zeigt sie
einen Eigenwert von hohem Reiz*.

s) Die Herrnhuter Diasporaarbeit ist nodi einzubeziehen, trägt aber
keine neuen Züge bei.

Der Kaftan-Brieiwechsel

Ein Beitrag zur Geschichte von Theologie und Kirche

Von W. G ö b c 11, Kiel

Das neue Kirchenrechtsdenken kann nur dann fruchtbringend Gespräch erfährt nur da ihre Grenzen, wo das eigene Arbeitssein
, wenn es die Entwicklung der kirchlichen Rechts- und Ver- j und Interessengebiet nicht mehr angesprochen wird. Als Grundt-
fassungsgeschichte seit Beginn des neunzehnten bis zu den zwan- vig 1872 starb, war Theodor Kaftan erst 24 Jahre alt, und sein
ziger Jahren dieses Jahrhunderts nicht außer Acht läßt. Dabei | eineinhalb Jahre jüngerer Bruder Julius Kaftan wies gerade die
dürfte sich zeigen, daß manchmal Persönlichkeiten in der Praxis ■ protestantische Welt auf Grundtvig als den „Propheten des Nor-
ihres kirchenrechtlichen Handelns wichtige Probleme in einer dens" hin. Theodor Kaftan wurde 1847 in Nordschleswig gebo-
Wcise zu ordnen vermögen oder auch neu sehen, welche die le- ] ren und lebte bis 1932. Es dürfte wohl nur wenige bedeutende
bendige Wechselwirkung zwischen Recht und Kirche spüren las- j Schleswiger geben, die in so vielen Abschnitten der nordischen

sen. Hier möchte der Kaftan-Briefwechsel in der gegenwärtigen
Diskussion dazu verhelfen, eine geistige Brücke zu den großen
theologischen und kirchlichen Fragestellungen zu schlagen, die
vor mehr als vier Jahrzehnten so plötzlich abgebrochen und als

Geschichte, hier vor allem der kirchlichen Rechts- und Verfassungsgeschichte
, von einem hohen kirchlichen Amt her auf das
Kirchenwesen Schleswig-Holsteins, aber gleichzeitig auch auf das
evangelische Deutschland und das Weltluthertum über die Länderunerledigte
Probleme auf dem Wege der Theologiegeschichte und j grenzen hinweg wie Theodor Kaftan eingewirkt haben. Diese
Systematik liegengeblieben sind und nun in neuen Formen auf- : Wirkungen werden wesentlich dadurch vertieft, daß Theodor
tauchen. Innerhalb der bekannten Briefwechsel mit überwiegend Kaftan in ständigem Gedankenaustausch mit seinem Bruder in
theologisch-kirchlichen Themen (Martensen-Dorner) dürften die Berlin den eigenen Kirchengedanken entwickeln und festigen
Briefe des Schleswiger Generalsupcrintendenten D.Theodor Kaf- konnte. Julius Kaftan, 1848 ebenfalls in Nordschleswig geboren,
tan und des Professors D. Julius Kaftan Interesse erwecken. Denn , habilitierte sich in Leipzig und erhielt mit 26 Jahren einen Ruf
die Briefe dieser Brüder umfassen die Theologie- und Kirchen- [ an die LIniversität Basel. Ein Jahrzehnt später wurde er nach Bergeschichte
ihrer Zeit in einer Weite und Tiefe, wie sie nur irgend , lin auf den Lehrstuhl Schleiermachers berufen. Neben seiner
von Brüdern in diesen hohen Kirchenämtern in vertrautem Zwie- Wirksamkeit als Professor für systematische Theologie betätigte
gespräch beobachtet, durchdacht und miterlitten werden konnte. , sich Julius Kaftan kirchenregimentlich im Evang. Oberkirchen-
Es ist erstaunlich, wie beide Theologen durch wechselvolle Jahr- j rat und wurde dort geistlicher Vizepräsident in den entscheiden-
zehnte hindurch einschließlich der ersten Weltkriegs- und Nach- i den Jahren des Neubaus der Kirchenverfassung der altpreußischen
kriegszeit das sich einmal gegebene Versprechen gehalten haben, Union. Die Briefe reichen bis an das Ende seiner 5 3-jährigen
Pünktlich einander die Briefe zu schreiben. Die ausgespannte akademischen Lehrtätigkeit. Er starb 1926 in Berlin. Durch die
Weite in der theologischen, kirchlichen und gcistesgeschichtlichcn I Jahrzehnte sind die Briefe schon allein hinsichtlich des sich in
Gedankenführung sowie die Verteilung der Schwerpunkte im ihnen auf dem Grunde höchster sittlicher Wahrhaftigkeit wider-